: Oppositionspolitik. Wolfgang Abendroth und die Entstehung der Neuen Linken. Hamburg 2008 : Argument-Verlag, ISBN 978-3-88619-333-2 372 S. € 24,90

Buckmiller, Michael; Perels, Joachim; Schöler, Uli (Hrsg.): Wolfgang Abendroth. Gesammelte Schriften Bd. 1. 1926-1948. Hannover 2006 : Offizin Verlag, ISBN 978-3-930345-49-6 585 S. € 36,80

: Die DDR und Wolfgang Abendroth – Wolfgang Abendroth und die DDR. Kritik einer Kampagne. Hannover 2008 : Offizin Verlag, ISBN 978-3-930345-65-6 128 S. € 12,80

: Wolfgang Abendroth. Gesammelte Schriften Bd. 2. 1949-1955. Hannover 2008 : Offizin Verlag, ISBN 978-3-930345-56-4 € 36,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus Hawel, Institut für Politische Wissenschaft, Leibniz-Universität Hannover

Während die publizistische Debatte 2008 noch von der mit dem Jahr 1968 verbundenen ideellen Umgründung der Bundesrepublik geprägt war, steht das Jahr 2009 nunmehr im Zeichen der 60-jährigen Wiederkehr der doppelten Staatsgründung von 1949 sowie dem 1989 eingeläuteten Ende der deutschen Zweistaatlichkeit. Das Spektrum der Positionen in der zeithistorischen Forschung zur Frühgeschichte der Bundesrepublik reicht dabei von der „geglückten Demokratie“ bis zur Infragestellung der These vom „Erfolgsmodell“ Bundesrepublik. Diese unterschiedlichen Bewertungen werden begleitet von ebenso differierenden Zeitdiagnosen über den Zustand des Modells des rheinischen Kapitalismus und der Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates.1

Unstrittig dürfte in diesem Kontext der Forschungsbedarf insbesondere in Hinsicht auf die intellektuelle Gründung Westdeutschlands sein. Zwar liegen über zentrale intellektuelle Strömungen bereits einschlägige Darstellungen vor, etwa über die Frankfurter Schule2, den Kreis um den Münsteraner Philosophen Joachim Ritter3 oder die in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangenen Debatten zwischen liberalkonservativen und linksliberalen Intellektuellen wie Wilhelm Hennis und Jürgen Habermas.4 Über wichtige intellektuelle Figuren der ersten Stunde, beispielsweise den Publizisten Eugen Kogon, den Gewerkschaftstheoretiker Viktor Agartz oder Hermann Louis Brill, Mitverfasser des Buchenwald-Manifestes und einer der Väter des Grundgesetzes, gibt es jedoch noch keine umfassenden, die zeithistorische Forschung der letzten 15 Jahre berücksichtigenden Biographien, und erst Anfang 2009 ist mit der Biographie des langjährigen hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer eine zentrale Lücke geschlossen worden.5

Zu Wolfgang Abendroth, einen engen Mitstreiter dieser für die Geschichte Westdeutschlands so zentralen Intellektuellen, liegt erst eine Biographie über seine erste Lebenshälfte vor.6 Sein Einfluss auf die jüngere Wissenschaftler-Generation – etwa Jürgen Seifert, Jürgen Habermas, Oskar Negt oder Norman Birnbaum – ist bisher noch nicht ausgeleuchtet worden. Mit den ersten beiden Bänden der Gesammelten Schriften7, Uli Schölers Studie über Abendroths Verhältnis zur DDR sowie Richard Heigls Untersuchung über den Einfluss des Marburger Politologen auf die Neue Linke sind nun jedoch wichtige Aspekte von Abendroths intellektuellem und politischem Wirken zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gemacht worden.

Wolfgang Abendroth wurde am 2. Mai 1906 als Sohn einer sozialdemokratischen Lehrerfamilie in Wuppertal-Elberfeld geboren und wuchs in Frankfurt am Main auf. Gemeinsam mit seiner Schwester trat er 1920 in den kommunistischen Jugendverband ein. Seine ersten politischen und publizistischen Aktivitäten entfaltete er jedoch nicht in der KPD, sondern vorwiegend im Bund der Freien Sozialistischen Jugend, der in der Tradition der Jugendbewegung des Kaiserreiches stand. Abendroth nahm 1924 an der Universität Frankfurt ein Studium der Rechtswissenschaften auf, das er 1929 abschloss. Seine weitere juristische Laufbahn wurde nach dem ersten Staatsexamen durch die NS-Diktatur jäh unterbrochen. Die Dissertation über das Betriebsrätegesetz von 1920 konnte Abendroth nicht abschließen, und der Vorbereitung auf das Assessorexamen blieb ihm versperrt. Im April 1933 wurde er zusammen mit seinem Doktorvater, dem Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer, kurzzeitig verhaftet. Abendroth, seit 1928 aus der KPD ausgeschlossen und seit 1929 Mitglied der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO), wurde als Mitglied der streng konspirativ arbeitenden Gruppe „Neu Beginnen“ gegen das NS-Regime aktiv. In dieser Phase promovierte er an der Universität Bern mit einer völkerrechtlichen Studie. 1937 wurde er erneut verhaftet und zu vier Jahren Zuchthaus wegen Hochverrats verurteilt. Im Februar 1943 zur Strafdivision 999 eingezogen, gelang es ihm 1944, auf der Insel Lemnos zur griechischen Widerstandsbewegung überzulaufen.

Nach britischer Internierung in Ägypten und im englischen Wilton Park kehrte Abendroth 1946, mittlerweile SPD-Mitglied, nach Deutschland zurück. Auf Anraten des hessischen Justizministers Georg August Zinn siedelte er in die sowjetische Besatzungszone über, um das Assessorexamen nachzuholen. Seine steile akademische Karriere wurde aufgrund seiner Kritik an den undemokratischen Herrschaftspraktiken der SED erneut unterbrochen, so dass er 1948 in den Westen flüchten musste. In Niedersachsen fungierte er, protegiert von Adolf Grimme, als Gründungsrektor der Reformuniversität Wilhelmshaven, bis er 1950 nach Marburg wechselte.

Band 1 der Gesammelten Schriften umfasst alle Publikationen Abendroths aus dieser ersten Lebensphase. Abendroth schaltete sich vor allem in die Debatten über die Gewerkschaften und den Charakter der Sowjetunion ein und nahm an den Kontroversen mit dem nationalrevolutionären Flügel der Jugendbewegung am Ende der Weimarer Republik teil. Seine kritische Position zur Sowjetunion hat hier ebenso ihre Wurzel wie seine langjährige Freundschaft zu Vertretern nationalrevolutionärer Positionen wie Karl Otto Paetel. Im Kern ist in den frühen Texten, so heben die Herausgeber einleitend hervor, der juristische Argumentationsstil des späteren Abendroth schon voll entwickelt. Der Jurist „muss die Argumente des Gegners nüchtern und präzise auf ihren eigentlich relevanten Streitgehalt bringen können“, um sie einer Kritik unterziehen zu können. „Nur wer den Gegner ernst nimmt, kann ihn nach allgemein verbindlichen Regeln des Verfahrens des Irrtums überführen.“ (Bd. 1, S. 20f.)

Mit dem zweiten Band der Gesammelten Schriften werden erstmalig wieder alle wichtigen Texte Abendroths aus der Periode 1949-1955 zugänglich gemacht, welche das enorme Spektrum der politischen wie wissenschaftlichen Interventionen des Staatsrechtlers und Mitbegründers der Politischen Wissenschaften in der Bundesrepublik dokumentieren. Die Bedeutung dieser Schriften wird klar, wenn man berücksichtigt, dass Abendroth neben Martin Drath, Richard Schmid, Herbert Komm sowie den bereits erwähnten Hermann Brill und Fritz Bauer zu den wenigen Juristen gehörte, die an die demokratische Staatsrechtslehre der Weimarer Republik anknüpften und sich „die Gedankenwelt des Grundgesetzes ohne Einschränkung zu Eigen“ machten, wie die Herausgeber in der Einleitung hervorheben (Bd. 2, S. 13).8

Insbesondere Abendroths staats- und völkerrechtliche Aufsätze werfen ein Schlaglicht auf die zentralen politisch-juristischen Konflikte in der Gründungsphase der Bundesrepublik, an denen er als Mitglied im Vorstand der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer teilnahm. Im Gegensatz zur Mehrheit der Staatsrechtler vertrat er im Anschluss an Hans Kelsen die realhistorisch kaum anfechtbare These, dass mit der bedingungslosen Kapitulation 1945 sowie der Besetzung Deutschlands durch die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs das „Dritte Reich“ auch juristisch untergegangen sei. Diese für die staatsrechtliche Fundierung der Demokratie in der Bundesrepublik zentrale These wurde bald durch die – auch von Sozialdemokraten wie Adolf Arndt – vertretene Kontinuitätsthese verdrängt, nach welcher der deutsche Staat zwar zeitweilig handlungsunfähig gewesen sei, sich in seiner rechtlichen Substanz jedoch nicht aufgelöst habe. „Diese Interpretation avanciert zur herrschenden Meinung und lässt die weitgehende Inkorporation des Staats- und Justizapparates des Dritten Reiches in die rechtsstaatliche Demokratie der Bundesrepublik als einen Normalvorgang erscheinen, der der vorgeblich unabweisbaren Kontinuität des deutschen Staates geschuldet sei.“ (Einleitung der Herausgeber zu Bd. 2, S. 14)

Daraus folgte auch die These vom Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik, die Abendroth im Hinblick auf die Bemühungen, gemäß der Präambel des Grundgesetzes und des Artikels 146 den Weg zur deutschen Einheit offenzuhalten, zu falsifizieren suchte. In diesem Punkt konnte er sich jedoch ebensowenig durchsetzen wie in einer anderen, für die weitere Entwicklung der Bundesrepublik zentralen Frage – der verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften. Auch hier unterlag er seinen juristischen Gegenspielern, zu denen neben Hans Carl Nipperdey, dem ersten Präsidenten des Bundesarbeitsgerichtes und mit Alfred Hueck Verfasser des Standortkommentars zum „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ von 1934, auch Ernst Forsthoff und Ernst Rudolf Huber gehörten. War in das Grundgesetz noch explizit die Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen als demokratisches Teilhaberecht aufgenommen worden, erfolgte im Zuge der Niederlage der Gewerkschaften die Beschränkung des Streikrechts auf tarifrechtliche Fragen, womit auch den verfassungsrechtlich möglichen Eingriffen in die Wirtschaftsstruktur ein Riegel vorgeschoben wurde. Sowohl als juristischer Berater für die Gewerkschaften wie auch publizistisch verteidigte Abendroth den gesellschaftspolitischen Spielraum der Arbeiterbewegung und trat den restaurativen Tendenzen mit Nachdruck entgegen, wie die Fülle von politischen und wissenschaftlichen Aufsätzen insbesondere zu juristischen und hochschulpolitischen Themen verdeutlicht.

Im Kern vertrat Abendroth die in der radikaldemokratischen Tradition der sozialistischen Arbeiterbewegung wurzelnde, nach 1945 zeitweise vorherrschende Auffassung, dass das demokratische Prinzip aus dem staatlichen Bereich auch auf alle anderen gesellschaftlichen Bereiche und insbesondere die Sphäre der Ökonomie ausgeweitet werden müsse, um einen Rückfall in die diktatorische Herrschaftsform zu vermeiden. Im Gegensatz zum Marxismus der Weimarer Republik erhielt der Bezug auf die individuellen Grundrechte sowie die demokratischen Verfahrensweisen vor dem Hintergrund der Erfahrungen im Widerstand gegen den NS-Staat und gegen den Stalinismus in der sowjetischen Besatzungszone eine herausragende Bedeutung, wie die Herausgeber betonen. So lehnte Abendroth die DDR und die Regime des Ostblocks als totalitär ab, ohne allerdings einen eigenen Totalitarismus-Begriff zu entwickeln (vgl. z.B. Bd. 2, S. 170-200). Diese antistalinistische Positionierung verleitete ihn jedoch nicht dazu, der DDR die effektive Staatlichkeit abzusprechen. So wurde es ihm möglich, eine Konzeption für die Wiedervereinigung zu formulieren, die in der Perspektive auf ein neutrales, sozial fundiertes demokratisch-parlamentarisches Deutschland hinauslief (vgl. Bd. 2, S. 490-499).

Erfolgreicher war dagegen Abendroths Wirken im universitären Bereich, auch wenn der vom niedersächsischen Kultusminister Adolf Grimme eingeleitete Versuch zur Etablierung einer Reformhochschule in Wilhelmshaven-Rüstersiel am Widerstand der Göttinger Ordinarien scheiterte, die alles daransetzten, um eine politisch unliebsame Konkurrenz auszuschalten. Abendroth wechselte daher schon bald von Wilhelmshaven an die „braune“ Universität Marburg, wo er sich allerdings auch nur aufgrund des Drucks der hessischen Landesregierung durchsetzen konnte. Verteidigte Abendroth im Allgemeinen die Freiheit von Wissenschaft und Lehre mit Nachdruck, so waren diese Erfahrungen mit dem akademischen Establishment der Hintergrund für seine Relativierung der Autonomie der Hochschule, welche von ehemaligen Parteigängern und Mitläufer des „Dritten Reiches“ reklamiert wurde, um die Rückkehr von Emigranten an die Universitäten zu verhindern (vgl. Bd. 2, S. 330-333).

Die neue politische Wissenschaft, als „Demokratiewissenschaft“ mit gesellschaftspolitischer Aufklärungsfunktion konzipiert (vgl. Bd. 2, S. 278-289), wurde zwar argwöhnisch beäugt und bekämpft, konnte sich mit amerikanischer Unterstützung aber bald etablieren. Abendroth gehörte neben Otto Suhr zu den Gründern der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und konnte als Vorsitzender des Forschungsausschusses wichtige Arbeiten zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Widerstandes befördern.

Mit den nun vorliegenden Schriften Abendroths werden zentrale Probleme der westdeutschen Staatsgründung wieder ins Blickfeld gerückt; weit über die Person Abendroths hinaus ergeben sich Anknüpfungspunkte für zeithistorische Studien des intellektuellen und politischen Feldes. Aber auch für die Geschichte der Arbeiterbewegung wird eine wichtige Lücke geschlossen, handelt es sich bei Abendroth doch um eine überragende intellektuelle Figur der westdeutschen Opposition in der Ära Adenauer.9 Die Herausgeber zeichnen in ihrer Einleitung differenziert die Entwicklung der intellektuellen Biographie Abendroths nach, wobei es ihnen gelingt, mit Hilfe neuer Quellen vor allem aus dem Nachlass die grundlegenden Positionsverschiebungen in Abendroths wissenschaftlichen wie politischen Stellungnahmen und damit die zeitbedingten Einflüsse auszuweisen. Eine umfassende Biographie Abendroths wird allerdings erst möglich sein, wenn sein umfangreicher Nachlass und insbesondere die überlieferte Korrespondenz ausgewertet ist, die ein breites Spektrum von Briefpartnern umfasst – von Theodor W. Adorno über Gustav Heinemann und Alexander Mitscherlich bis Herbert Wehner.

Die Studie von Uli Schöler, selbst Mitherausgeber der Gesammelten Schriften, über das Verhältnis Wolfgang Abendroths zur DDR geht einer Frage nach, die in der Publizistik bis heute Gegenstand von Kontroversen ist. Mit profunder Kenntnis und auf Basis zahlreicher Quellen widerlegt Schöler in einer gutachtenähnlichen Form die wiederholt vorgetragene Behauptung, Abendroth habe sich die außenpolitischen Interessen der DDR zu eigen gemacht oder sei gar für die Stasi tätig geworden. Diese vom Autor als Kampagne gegen Abendroth gewerteten Publikationen würden Abendroths Flucht aus der sowjetischen Besatzungszone ebenso verschweigen wie seinen Einsatz für Opfer der SED-Herrschaft wie Heinz Brandt. Auch der Versuch, eine linkssozialistische Partei in der Bundesrepublik zu gründen, habe keineswegs der außenpolitischen Strategie der DDR gedient. Eine solche Partei wäre nämlich – so das zentrale Argument Schölers – in Konkurrenz zu der von der SED-Führung projektierten Wiedergründung der Kommunistischen Partei getreten.

Schöler begnügt sich jedoch nicht damit, den Behauptungen der Abendroth-Gegner umfassend und differenziert entgegenzutreten. Ausgehend von einer Kondolenz-Postkarte an Albert Norden zum Tode von Walter Ulbricht zeichnet er kritisch die Positionsverschiebungen Abendroths zu Beginn der 1970er-Jahre nach. So habe Abendroth seine Kritik an der DDR deutlich abgemildert – bis hin zu einer „Relativierung rechtsstaatlicher Anforderungen in Übergangsgesellschaften“, wie Schöler konstatiert (S. 105). Abendroth habe weiterhin Hoffnungen hinsichtlich der Reformpotenziale der Staaten des Ostblocks gehegt und dem Antikommunismus in der Bundesrepublik entgegenwirken wollen. Sich selbst habe Abendroth dabei in der Rolle eines Mittlers gesehen. Die nichtöffentliche Lobeshymne auf Walter Ulbricht sei daher als taktisch zu bewerten, zumal Abendroth sie mit einem positiven Bezug auf Heinrich Brandler für die SED-Führung „vergiftet“ habe. Der „Abweichler“ Brandler hatte für die SED eine ähnliche Bedeutung wie Trotzki für die KPdSU.10

Schöler gelingt es, eine Reihe neuer Erkenntnisse über Abendroths politische Kontakte zu Tage zu fördern und weitergehende Thesen zu formulieren. Inwieweit diese belastbar sind, muss durch weitere Forschungen überprüft werden. Hier wäre insbesondere zu fragen, welche Auswirkungen die „innerstaatliche Feinderklärung“ (Jürgen Seifert) gegen die Neue Linke zu Beginn der 1970er-Jahre auf Abendroths Positionsbestimmung gegenüber der DDR gehabt hat – ein Aspekt, den Schöler nur am Rande beleuchtet und der eine differenzierte Betrachtung im Kontext der Redogmatisierungsprozesse innerhalb der Zerfallsprodukte der antiautoritären Bewegung nach 1968 notwendig macht.

Richard Heigl schließlich rückt in seiner Untersuchung den Einfluss Abendroths auf die Entstehung der Neuen Linken in den Mittelpunkt und liefert damit eine wichtige Ergänzung zu der voluminösen Studie von Alex Demirovic über eines der bedeutendsten Zentren oppositionellen Denkens, das Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main.11 Heigl gelingt es, aus den zahlreichen Aufsätzen Abendroths dessen wissenschaftlichen Ansatz zu rekonstruieren und ihn mit Hilfe neu erschlossener Quellen in den historischen Kontext der frühen Bundesrepublik einzuordnen.

Das Entstehen der Neuen Linken datiert Heigl auf die zweite Hälfte der 1950er-Jahre, als sich in Reaktion auf die „ungelösten demokratiepolitischen Probleme“ in Frankreich, England und der Bundesrepublik dissidente politische Strömungen jenseits der Sozialdemokratie und des Parteikommunismus formierten (S. 12).12 Zwar fand der Begriff „Neue Linke“ in Westdeutschland erst in den frühen 1960er-Jahren Verwendung und wurde von Abendroth sogar zunächst abgelehnt. Doch bildete auch hier die Konsolidierung der Nachkriegsordnung den Ausgangspunkt einer grundlegenden Neuorientierung der Linken, die vor allem von jüngeren Intellektuellen im SDS und in den Arbeiterjugendverbänden getragen wurde. Entscheidend für den ideellen Einfluss Abendroths auf die jüngere Generation der sozialistischen Intelligenz waren, wie Heigl betont, sein theoretisch reflektiertes politisches Engagement und seine Unnachgiebigkeit bei der „Herstellung und Sicherung eines freien Diskussionsraumes“ gegen bürokratische Gängelung seitens der SPD und gegen stalinistische Manipulationsversuche (S. 141). Dies hatte weitreichende Folgen: Zusammen mit dem SDS wurden auch Abendroth und eine Reihe weiterer Förderer des SDS 1961 aus der SPD ausgeschlossen. Diese dissidenten Kräfte bildeten in den Auseinandersetzungen um die Notstandsgesetze und die Abrüstung den Nukleus der außerparlamentarischen Opposition.

Dass Heigl in Bezug auf Abendroths Rolle Gramscis Begriff des „organischen Intellektuellen“ heranzieht, ist im Zusammenhang seiner Studie nicht unbedingt zwingend. Bei den Diskussionen in der „Neuen Kritik“, wo auch Abendroth zur Rolle der Intellektuellen in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung Position bezog, zeigte sich eine begriffliche Schärfe, die einen Rückgriff auf Gramsci nicht unbedingt erforderlich gemacht hätte und deshalb mehr gegenwärtigen Diskussionen geschuldet erscheint. Zudem hätte stärker beleuchtet werden können, inwieweit sich die Neue Linke begrifflich und inhaltlich von Abendroth absetzte. Das schmälert jedoch keineswegs den Ertrag von Heigls Arbeit, mit der Abendroths Bedeutung für die Neue Linke der 1960er-Jahre erstmalig umfassend herausgearbeitet worden ist.

Die wissenschaftliche Erforschung des Denkens und Wirkens Wolfgang Abendroths als herausragender Figur der Opposition in der Bundesrepublik der 1950er- und 1960er-Jahre bettet sich ein in den Kontext eines zunehmenden Interesses an den – gemessen an ihren weitreichenden Neuordnungsvorstellungen der unmittelbaren Nachkriegszeit – historisch unterlegenen, langfristig dennoch wirkmächtigen oppositionellen Kräften in der frühen Bundesrepublik. Damit sind für die weitere Forschung wesentliche Grundlagen gelegt, welche zu einer differenzierten Einschätzung der gesellschaftspolitischen Konflikte in der Bundesrepublik beitragen können.

Anmerkungen:
1 Vgl. Marion Detjen / Stephan Detjen / Maximilian Steinbeis, Die Deutschen und das Grundgesetz. Geschichte und Grenzen unserer Verfassung, München 2009.
2 Stellvertretend für die umfangreiche Literatur: Alex Demirovic, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt am Main 1999.
3 Jens A. Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006.
4 A. Dirk Moses, German Intellectuals and the Nazi Past, Cambridge 2007.
5 Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903-1968. Eine Biographie, München 2009. Zu Agartz ist 2008 immerhin ein Sammelband erschienen: Reinhard Bispinck / Thorsten Schulten / Peeter Raane (Hrsg.), Wirtschaftsdemokratie und expansive Lohnpolitik. Zur Aktualität von Viktor Agartz, Hamburg 2008. Über zwei der wichtigsten intellektuellen Vordenker der Linken in der Bundesrepublik, Leo Kofler und Ossip K. Flechtheim, liegen mittlerweile Biographien vor: Christoph Jünke, Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler – Leben und Werk (1907-1995), Hamburg 2007; Mario Keßler, Ossip K. Flechtheim. Politischer Wissenschaftler und Zukunftsdenker (1909-1998), Köln 2007.
6 Andreas Diers, Arbeiterbewegung – Demokratie – Staat. Wolfgang Abendroth. Leben und Werk (1906–1948), Hamburg 2006.
7 Band 1 wurde zum 100. Geburtstag Abendroths 2006 auf einer Tagung in Frankfurt am Main vorgestellt. Die Tagung ist dokumentiert in: Hans-Jürgen Urban / Michael Buckmiller / Frank Deppe (Hrsg.), „Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie“. Zur Aktualität von Wolfgang Abendroth, Hamburg 2006.
8 Zu den Auseinandersetzungen um die Kontinuitätsfrage vgl. neuerdings Jörg Requate, Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz. Richter, Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 2008.
9 Zur sozialistischen Opposition der 1950er- und frühen 1960er-Jahre vgl. Gregor Kritidis, Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik, Hannover 2008.
10 Brandler gehörte zu den Gründungsmitgliedern der KPD um Rosa Luxemburg und wurde wegen seines Widerstandes gegen die Stalinisierung aus der KPD ausgeschlossen. Neben August Thalheimer war er am Vorabend der NS-Herrschaft einer der führenden Intellektuellen der KPO.
11 Siehe Anm. 2.
12 Dieses Phänomen ließe sich noch weiter fassen, da sich in verschiedenen Weltgegenden revolutionäre oppositionelle Strömungen gegen die Nachkriegsordnung formierten.

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