Cover
Titel
Massenkultur. Zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Modernität in Frankreich 1880-1980


Autor(en)
Middendorf, Stefanie
Reihe
Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts XIX
Erschienen
Göttingen 2009: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
507 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin Lange, Global and European Studies Institute, Universität Leipzig

Es hat lange gedauert, bis sich die Erforschung der Massenkultur in der französischen Geschichtswissenschaft durchsetzen konnte. Während noch vor wenigen Jahren auf die eklatanten Forschungslücken hingewiesen wurde, und die Bedeutung solcher Studien für die kulturhistorische und politische Geschichtsschreibung betont wurde 1, ist gegenwärtig ein wachsendes Interesse, und dies nicht nur im französischsprachigen Kontext, zu beobachten. Stefanie Middendorf ordnet sich mit ihrer an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg entstandenen Dissertation in einen solchen Forschungskontext ein und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Wahrnehmung und Deutung der Massenkultur in Frankreich über ein Jahrhundert hinweg zu untersuchen. Erst ein solch langer Zeitraum, so Middendorf, mache es möglich, die semantischen Verschiebungen zu erfassen, die von der Vorstellung der Menschenmassen, als politischer Faktor seit der Französischen Revolution, hin zu einem Begriff der abstrakten Masse, als soziologische Beschreibungskategorie einer modernen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, geführt hätten. Die mit 500 Seiten sehr umfangreiche Studie gliedert sich zunächst in drei chronologisch aufeinander folgende Teile. Der erste Teil widmet sich der Entstehung einer modernen Massenkultur um die Jahrhundertwende. Der zweite Teil beleuchtet eine lange wechselvolle Phase von den 1920er-Jahren bis zum Anfang der 1950er-Jahre. Die Nachkriegszeit und die kulturellen Veränderungen in den späten 1960er- und 1970er-Jahren werden in einem dritten Teil in den Blick genommen. Über eine solche grobe chronologische Gliederung hinaus sind es zeitübergreifende Zugänge, die strukturierende Akzente in der Darstellung setzen. Entlang wissenschaftlicher und intellektueller Leitdiskurse, staatlicher Kulturpolitik sowie gegenkultureller Entwürfe von katholischer und kommunistischer Seite ergibt sich damit ein Zugang, der das Buch zu einer vielseitigen politischen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts macht.

Den Einstieg bildet ein Kapitel, welches sich mit den beginnenden wissenschaftlichen Reflexionen über die Masse als soziale Einheit in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts befasst. Middendorf widmet sich hierbei den Vordenkern Alexis de Tocqueville und Hippolyte Taine sowie den französischen Soziologen Gabriel Tarde und Gustave Le Bon. Auf einer weiteren Ebene expliziert Middendorf die Strategien bürgerlicher Interessenverbände, deren breites Engagement auf die Erziehung der Massen zielte und in repressiver Absicht auf die nationale Gesetzgebung einwirkte. Populäre Literatur und Presse standen dabei im Fokus einer Argumentation, die in der Herausforderung durch massenkulturelle Phänomene eine Gefährdung der demokratischen Gesellschaft durch Unmoral und Abweichung sah. Anhand von Pressegesetzen und Zensurbestimmungen verdeutlicht Middendorf darauf aufbauend die Leitlinien staatlicher Politik und verweist auch auf ein Ringen um Abgrenzungen und Definitionen. Während bürgerliche Netzwerke in enger Anbindung an den Staat agierten, entwickelte die katholische Kirche eigene unabhängige Strategien und entdeckte zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur die moralische Pflicht, sondern auch die Einflussmöglichkeiten in der Aneignung massenkultureller Formen. Die katholische Verlagsgruppe 'Maison de la Bonne Presse', eines der größten französischen Presseunternehmen der Zeit, machte es sich zur Aufgabe, mit vielfältigen Verlagsangeboten und eigener Filmarbeit katholische Erziehungsarbeit zu leisten, um das Volk gegen die vermeintlichen Irreleitungen moderner Kultur moralisch zu festigen. Middendorf veranschaulicht hier beispielhaft ein Stück unerforschter Geschichte der Annäherung katholischer Werte an eine neue gesellschaftliche Realität.

Eine grundlegende Verschiebung gegenüber dem Umgang mit Massenkultur zeigt sich im zweiten Teil, der eine lange und wechselvolle Phase von 1920 bis zum Ende der 1950er-Jahre erörtert. Die auf Moral und Sittlichkeit gerichteten Auseinandersetzungen der Jahrhundertwende wichen nun einer zunehmend nationalistischen Perspektive, die die politisch-ideologische Dimension der Massenkultur zutage treten ließ. Middendorf verfolgt in diesem Kapitel, in welcher Weise die Auseinandersetzungen um Amerikanisierung die Wahrnehmung prägten. Die Konstruktion des Gegensatzes zwischen der französischen Zivilisation und einem angeblich kulturlosen Amerika führte zu einer Stärkung des Staates, der politische Maßnahmen ergriff, um die nationale Kultur gegenüber einer Bedrohung von außen zu schützen, so ihre Argumentation. Am dichtesten gelingt diese Verbindung von Amerikakritik und Nationalisierung in einem ausführlichen Kapitel zur staatlichen Kinopolitik. Hier zeigt sich, wie Kino als Medium zum Mittelpunkt der Interessenpolitik von staatlichen und nichtstaatlichen Initiativen wurde. Eine Entwicklung, an der sich auch die Veränderung im Umgang mit Massenkultur von einer Abwehrhaltung hin zu einer Funktionalisierung ablesen lässt und die die Verquickung von kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Interessen verdeutlicht. Die Auseinandersetzungen mit Amerika trugen zur Herausbildung einer staatlich protegierten französischen Filmindustrie bei.

Im dritten Teil des Buches werden äußerst anschaulich die Übergänge und Veränderungen der späten 1950er-Jahre bis zum Beginn der 1980er-Jahre dargestellt, einer Phase, in der der Massenkultur-Diskurs nach Middendorf im Zusammenspiel von Sozialwissenschaften und Politik seinen Höhepunkt erreichte (S. 415). Es waren namhafte Soziologen wie die marxistisch orientierten Georges Friedmann, Edgar Morin und Henri Lefebvre, sowie die aus katholischer Tradition stammenden Jules Gritti und vor allem Michel de Certeau, die die Debatten in dieser Zeit vorantrieben. In der Darstellung wichtiger französischer Forschungseinrichtungen gelingt es, nicht nur Argumentationen der Schlüsselfiguren nachzuzeichnen, sondern damit auch zu einer Geschichte der französischen Soziologie und ihrer politischen Positionierungen in der Nachkriegszeit beizutragen. Die enge Verknüpfung wissenschaftlicher Expertise mit der französischen Kulturpolitik zeigt sich im Folgenden an der konzeptionellen Beteiligung vieler Wissenschaftler in den Institutionen der kulturellen Planungspolitik. Seit 1959 prägte André Malraux als Kulturminister die Politik einer kulturellen Demokratisierung. Die Errichtung von Kulturhäusern stellte hierbei einen deutlichen Ausdruck staatlicher Verantwortung für einen gleichberechtigten Zugang aller zur (Hoch)kultur dar. Von einer Situation des Übergangs (S. 389) spricht Middendorf daraufhin für die späten 1960er-Jahre, in der ein solcher demokratisierender, aber immer noch an elitärer Hochkultur angelehnter Kulturbegriff zunehmend in Frage gestellt wurde. Michel de Certeau, Henri Lefebvre und Jean Baudrillard formulierten die grundlegende Kritik, die das Konzept der Massenkultur in den 1970er-Jahren entscheidend veränderte. Die grundsätzliche Absage an die Möglichkeit einer homogenen Kultur brachte einen Prozess der Pluralisierung und Individualisierung hervor, der sich mit den studentischen Protesten 1968 dynamisierte. Die Aufgabe des Staates sollte nunmehr in der Anerkennung und dem Schutz kultureller Ausdrucksformen, nicht mehr jedoch in der Vorgabe normativer Konzepte und hierarchischer Ordnungen liegen. Insbesondere bei de Certeau traten Vorstellungen von Manipulation und Entfremdung der Massen gegenüber einer aktiven Rezeption durch den Einzelnen zurück. Middendorf bezeichnet eine solche Entwicklung gar als Paradigmenwandel (S. 369), der der Anerkennung von Pluralität und Differenz den Weg ebnete und die französische Kulturpolitik seit den 1970er-Jahren zunehmend prägte.

Die Transformationen, die einen seit der Jahrhundertwende etablierten hierarchischen und dichotomischen Massen-Begriff schließlich obsolet machten, bilden den zeitlichen Abschluss der Arbeit. So sind es zusammenfassend zum einen die Verschiebungen der Vorstellungen und Beschreibungen von Massenkultur, die Middendorf über einen langen Zeitraum zurückverfolgt hat. Zum anderen ist daraus eine Geschichte der Strategien gesellschaftlichen Handelns entstanden, die unterschiedliche Akteure und Institutionen in den Blick nimmt. Damit ist nicht nur ein überaus umfassendes Panorama gelungen, sondern es sind auch einige Leerstellen in der Forschung aufgedeckt worden. Bisweilen hätte man sich gewünscht, dass die Darstellung der sogenannten Leitmedien mehr Raum eingenommen hätte. Hinter den theoretischen Auseinandersetzungen tritt die eigentliche Massenkultur zurück, eine Geschichte des Kinos oder des Fernsehens möchte die Studie explizit nicht leisten. Möglicherweise wären jedoch einige Argumentationen anschaulicher geraten, wenn stellenweise auch Entwicklungen massenkultureller Phänomene selbst, und nicht nur deren Diskussion, nachgezeichnet worden wären. Überaus bereichernd wirken hingegen die punktuellen Vergleiche mit Debatten um Massenkultur in Deutschland über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg. Dies ist ein zusätzlicher Mehrwert der Arbeit, der die Anschlussfähigkeit an zukünftige Untersuchungen aufzeigt und den Anspruch Middendorfs, über eine national gefasste französische Geschichte hinaus auch ein Modell für eine europäische Geschichte der Massenkultur und der Erfahrung von Modernität zu entwerfen, beispielhaft unterstreicht.

Anmerkung:
1 Jean-Pierre Rioux / Jean François Sirinelli (Hrsg.), La culture de masse en France. De la Belle Époque à aujourd'hui, Paris 2002.