C. Kucklick: Das unmoralische Geschlecht

Cover
Titel
Das unmoralische Geschlecht. Zur Geburt der Negativen Andrologie


Autor(en)
Kucklick, Christoph
Reihe
edition suhrkamp 2538
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
379 S.
Preis
€ 13,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ruben Marc Hackler, Berlin

Moderne Männlichkeit ist übertrieben selbstbezogen und wurde deshalb bereits seit ihrer Entstehung als unmoralisch wahrgenommen. Zu diesem Befund kommt Christoph Kucklick, der die Kritik männlicher Verhaltensweisen untersucht hat, die von Gelehrten zwischen 1750 und 1850 vorgebracht wurde. Kucklick möchte zeigen, dass sich parallel zur „weiblichen Sonderanthropologie“1 eine „negative Andrologie“ herausbildete, die eine radikale Abwertung von Männlichkeit darstellte. Er beruft sich dabei auf philosophische und medizinische Texte, die in der Geschlechtergeschichte bisher als Belege für die Abwertung der Frau gedeutet worden sind. Aus seiner Sicht müssen sie jedoch auf die Entwertung von Männlichkeit hin gelesen werden. Die Systemtheorie liefert den konzeptuellen Rahmen für seine Interpretation, die für das 18. Jahrhundert von einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft in Systeme wie Wissenschaft und Politik und in Interaktionsformen wie Familie und Liebe ausgeht. Männer sollten als Unternehmer oder Wissenschaftler andere Erwartungen erfüllen als Frauen, wobei ihnen übersteigerter Egoismus vorgeworfen wurde. Umgekehrt mussten sich Frauen zwar mit der Rolle der Ehefrau und Erzieherin zufrieden geben, doch wurde ihnen darin moralische Überlegenheit bescheinigt.

Kucklick entwickelt sein Argument in vier Kapiteln: Im ersten Kapitel über die „Natur der Männlichkeit“ wird ausgehend von Isaak Iselins „Geschichte der Menschheit“2 gezeigt, dass der als Krieg aller gegen alle definierte Naturzustand kein geschlechtsneutrales Konstrukt war, sondern mit dem männlichen Geschlecht identifiziert wurde. Männer galten als gewalttätig, triebgesteuert, tyrannisch und hartherzig. Dementsprechend wurde die Idee des Gesellschaftsvertrags durch den Ehevertrag ergänzt, um eine Grundlage für die Zivilisierung des männlichen Geschlechts zu schaffen. Die Gewaltspirale männlicher Selbsterhaltung sollte sich nur mithilfe des weiblichen Geschlechts unterbrechen lassen.

Im zweiten Kapitel über die „Männlichkeit der Gesellschaft“ wird zunächst am Beispiel von Adam Smiths Moralphilosophie vorgeführt, welche Konsequenzen die Ausdifferenzierung der Gesellschaft für das männliche Selbstverständnis hatte. Smith zufolge waren zwei Eigenschaften erforderlich, um angesichts der Unplanbarkeit des Wirtschaftsgeschehens Handlungsfähigkeit zu erlangen: eine durch Gewöhnung vermittelte Sympathie und eine Verhaltensdisposition, die als „man within“ (S. 163ff.) bezeichnet wurde. Auch wenn Marktteilnehmer in Konkurrenz zueinander standen, sollten sie kontinuierlich in Verbindung treten können, weil sie sich aneinander gewöhnten. Ein Problem wurde jedoch darin gesehen, dass übertriebene Sympathie in „Verweiblichung“ münden könne. Die Standfestigkeit des „man within“ sollte dem entgegen wirken. In der literarischen Romantik hingegen wurde „Weiblichkeit als Protestform“ (S. 197) eingesetzt, doch blieb eine solche Inversion der Geschlechterrollen auf wenige Ausnahmen beschränkt. Anschließend rekonstruiert Kucklick eine Hierarchie männlicher Moral, in der Hagestolze, Geistliche, Verführer und Onanisten ganz unten angesiedelt wurden, weil sie sich dem Ehestand verweigerten oder auf unverantwortliche Weise ihren sexuellen Neigungen nachgingen.

Im dritten Kapitel über „Männer, Frauen, funktionale Differenzierung: Geschlecht als Supercodierung von Interaktion und Gesellschaft “ wird der empirische Befund in eine Diskussion über die Systemtheorie überführt. Hier vertritt Kucklick die These, dass die naturalistische Unterscheidung zwischen Männern und Frauen funktional für die Unterscheidung zwischen Systemen und Interaktionsformen war.

Im vierten Kapitel mit dem Titel „Korrekturen“ widmet sich Kucklick zuerst Johann Gottlieb Fichte, um das in der Geschlechterforschung geläufige Verständnis seiner transzendentalphilosophischen „Deduktion der Ehe“ zurückzuweisen. Er kann zeigen, dass Fichte weder für die generelle Unterdrückung der Frau optierte noch das Vernunftvermögen einseitig dem Mann zuschrieb. Die „Deduktion der Ehe“ diente vielmehr dazu, die Frau im Rahmen der Ehe als „Möglichkeit aller Moralität“ (S. 250) einzusetzen. Dann beschreibt Kucklick in einem Unterkapitel über männliche und weibliche Visualität, wie die „selbstzentrierte Blindheit“ (S. 280) des Mannes durch den moralischen Blick Frau aufgehoben wurde: sie fungierte als Beobachtungsinstanz zweiter Ordnung und setzte damit seine Reflexionsfähigkeit in Gang. Zuletzt geht Kucklick auf die Maßnahmen gegen Onanie ein, die überwiegend gegen Männer gerichtet waren und einen fundamentalen Angriff auf männliches Sexualverhalten darstellten.

Der Befund von Kucklicks Dissertation ist keineswegs neu3, doch wurde er bisher nicht annähernd systematisch aufgearbeitet. Kucklick hat die Forschung zum Thema Männlichkeit gebündelt und deren Bedeutung für die Geschlechterforschung pointiert herausgestellt. In methodischer Hinsicht ist die Verbindung von systemtheoretischer Argumentation und historischer Analyse als außerordentliche Leistung zu betrachten. Nichtsdestotrotz überzeugt die Beweisführung nur teilweise. Vier Einwände sollen an dieser Stelle genannt werden:

Erstens bleibt unklar, wie der Zusammenhang zwischen der Abwertung von Männlichkeit und der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft zu verstehen ist. Kucklick geht von folgender Annahme aus: „Wenn sich das Komplexitätsniveau einer Gesellschaft ändert, wird sich die Semantik [hier: die Bewertung von Männlichkeit] dem anpassen, weil sie sonst den gesellschaftsstrukturellen Veränderungen nicht gerecht wird und gleichsam den ‚Kontakt zur Realität’ verliert.“ (S. 28) Das Entstehen der negativen Andrologie soll also durch die funktionale Differenzierung kausal erklärt werden (vgl. auch S. 145). Kucklick liefert aber nur vage Belege oder wechselt vom Register der Kausalität zu dem der Korrelationen, obwohl damit nicht ausgeschlossen ist, dass die Abwertung von Männlichkeit andere Ursachen gehabt haben könnte. Insbesondere wäre zu überlegen, warum viele Quellen nach der französischen Revolution publiziert wurden (vgl. die Fußnoten in Kap. A.4.).

Zweitens wäre zu bestimmen, welchen Status die negative Andrologie im Selbstverständnis ihrer Protagonisten hatte. Der Begriff „negative Andrologie“ wird nicht in den Quellen verwendet, sondern beruht auf der im 20. Jahrhundert entwickelten „kybernetischen Anthropologie“ (vgl. S. 65f.). Wie aus dem obigen Zitat hervorgeht, ist es für die Systemtheorie nicht unerheblich, dass die diagnostizierte Entwicklung auf semantische Äquivalente trifft. Kucklick beschreibt die Abwertung von Männlichkeit als einen dramatischen, nach innen gerichteten Prozess: „Die Kritik an Männlichkeit schwächt die Moderne nicht und dient nicht zu deren Überwindung, sondern ist stabiler Dauervollzug einer ihrer reflexiven Selbstdistanzierungen. Oder anders: In Männern fixiert die Moderne ihre Ressentiments gegen sich selbst.“ (S. 13) Dem steht jedoch gegenüber, dass in fast keiner der von Kucklick präsentierten Quellen Selbstkritik geübt wird, geschweige denn besagtes „Ressentiment“ zum Ausdruck kommt. Im Vergleich zu Ute Freverts Begriffsgeschichte der „Geschlechter-Differenzen in der Moderne“ wirkt Kucklicks Darstellung wie eine Überzeichnung.4

Drittens lässt sich einwenden, dass Kucklick die funktionale Differenzierung in Systeme und Interaktionsformen als Selbstläufer beschreibt, anstatt die Eigenleistung der Akteure näher in den Blick zu nehmen. Das wird an der Medizin deutlich: Die Entstehung der Geburtshilfe gegen Ende des 18. Jahrhunderts war mit einer massiven Polemik gegen Hebammen verbunden, die mittlerweile gut erforscht ist.5 In diesem Bereich wurden Frauen als Konkurrenz wahrgenommen, nicht als Weiber mit „veredeltem Willen“ (S. 88).

Viertens wäre genauer über die Stellung der negativen Andrologie in der Geschlechterordnung zu diskutieren. Kucklicks Rekonstruktion von Fichtes Position ist plausibel, doch unterscheidet sie sich nur graduell von den bisherigen Deutungen. Sie besagt, dass Fichte eine transzendentalphilosophische Begründung ehelicher Gewaltverhältnisse entwickelt hat, und das war folgenreicher als die Abwertung von Männlichkeit.

Anmerkungen:
1 Claudia Honegger, Die Ordnung der Geschlechter: Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, Frankfurt am Main 1991.
2 Isaak Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, 2. Aufl., Zürich 1768.
3 Vgl. Anne-Charlott Trepp, Männerwelten privat: Vaterschaft im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Thomas Kühne (Hrsg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte: Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt am Main 2001, S. 31-50.
4 Vgl. Ute Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“: Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995, Kap. I.
5 Vgl. Marita Metz-Becker, Der verwaltete Körper: Die Medikalisierung schwangerer Frauen in den Gebärhäusern des frühen 19. Jahrhunderts Der verwaltete Körper: Die Medikalisierung schwangerer Frauen in den Gebärhäusern des frühen 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1997, Kap. I.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension