T. Wheatland: The Frankfurt School in Exile

Cover
Titel
The Frankfurt School in Exile.


Autor(en)
Wheatland, Thomas
Erschienen
Anzahl Seiten
XXI, 415 S.
Preis
$ 39.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Detlev Claussen, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie, Leibniz-Universität Hannover

Manchmal macht es wirklich Spaß, sozialwissenschaftliche Bücher zu lesen. Thomas Wheatland ist mit „The Frankfurt School in Exile“ so ein Buch gelungen: Der Fachmann kann es nicht entbehren, und der interessierte Laie wird sich bereichert fühlen. Kein fachwissenschaftlicher Jargon erschwert die Lektüre unnötig; für den Leser werden komplexe Zusammenhänge, die er vorher nicht gesehen hat, ohne Simplifikation greifbar. Dabei denkt man, über die Frankfurter Schule sei schon alles gesagt. Martin Jays Pionierarbeit „The Dialectical Imagination“ von 1973 folgte 1986 Rolf Wiggershaus’ materialreiche Monumentalstudie „Die Frankfurter Schule“; zu Adornos 100. Geburtstag 2003 lagen sogar drei wissenschaftlich anspruchsvolle Biographien auf dem Tisch, die inzwischen alle auch auf Englisch erhältlich sind. Leider haben englisch geschriebene Bücher über die Kritische Theorie und ihre Begründer weniger Chancen auf dem deutschen Markt, weil sich unter den Verlegern die Meinung breitgemacht hat, die Frankfurter Schule sei „überforscht“. Wheatland zeigt nicht nur, dass es Neues zu entdecken gibt, sondern dass viele Zusammenhänge transatlantischer intellektueller Beziehungen noch ihrer adäquaten Darstellung harren.

Man kann nur hoffen, dass Wheatland bald einen deutschen Übersetzer finden wird, denn sein Buch hat der hiesigen Öffentlichkeit viel zu sagen. Der erste Abschnitt von „The Frankfurt School in Exile“ widmet sich ganz der Entdeckung der Rolle des exilierten Instituts für Sozialforschung, das in den 1930er-Jahren als „Institute of Social Research“ an den New Yorker Morningside Heights Fuß fasste. Dieser Abschnitt bedeutet eine neue Akzentuierung der noch zu schreibenden Geschichte der Soziologie im 20. Jahrhundert. Nicht nur die Soziologen New Yorks blickten damals neidisch nach Chicago, wo die bahnbrechende Stadtsoziologie den State of the Art moderner Sozialforschung verkörperte. Die Soziologen der New Yorker Columbia University galten als bloße Theoretiker; das exilierte, durch empirische Arbeiten in Europa ausgewiesene Frankfurter Institut sollte uptown heimisch gemacht werden, um der empirischen Sozialforschung auch in New York endlich eine Heimstätte zu geben. Vor diesem Hintergrund erscheint die berühmte Episode zwischen Paul F. Lazarsfeld und Theodor W. Adorno, der 1938 musikalischer Direktor in Lazarsfelds Princeton Radio Research Project wurde, in neuem Licht. Die alte Legende von den Frankfurter Theoretikern und den amerikanischen Empirikern kann nicht mehr unreflektiert weitererzählt werden. Aus Europa, speziell aus Wien, kam schon mit der Weltwirtschaftskrise der Geist des Neopositivismus an die East Coast und wusste sich dort nach 1945 zu behaupten; aber noch in den frühen 1940er-Jahren wirkte Robert Lynd in New York, der die „Middletown“ entdeckt und erforscht hatte. Er zeigte am „Horkheimer Circle“ (Wheatland) und dessen Studien über „Autorität und Familie“ höchstes Interesse. An eben dieser europäisch angelegten Studie hatte bereits der Wiener Lazarsfeld mitgearbeitet, der mithilfe eines Rockefeller Stipendiums schon vor Horkheimer in New York eintraf. Wheatland erzählt dies alles nicht biographistisch, sondern als Institutionengeschichte – das macht seine Studie so wertvoll.

Nur aus Erzählungen wusste man bisher etwas über die Kontakte des „Horkheimer Circle“ zu den „New York Intellectuals“. Ungemein lebendig wird nun das Bild des intellektuellen Transfers, der Mitte der 1930er-Jahre eingesetzt hatte und New York auch intellektuell zur Hauptstadt des 20. Jahrhunderts machte. Der Kreis um Max Horkheimer bewegte und behauptete sich in dieser Stadt. Horkheimer rekrutierte junge Leute – zuerst als Übersetzer, die dann aber Vermittler zu politischen Zirkeln und ihren Zeitschriften wurden. Auf diese Weise geriet man, was Horkheimer unbedingt vermeiden wollte, mitten in die politischen Debatten über den Zustand der Welt zur Zeit des Hitler-Stalin-Pakts. Der War Effort ermöglichte es Horkheimer, Institutsmitarbeiter in amerikanischen Regierungsinstitutionen unterzubringen. Über die politischen Kontakte dieser Mitarbeiter kam Horkheimer in Berührung mit dem American Jewish Committee, das die epochemachenden „Studies in Prejudice“ ermöglichte. Aus diesen Erfahrungen ist dann die Arbeit „Authoritarian Personality“ hervorgegangen – eben nicht ein sozialwissenschaftlich fragwürdiges Werk deutscher Theoretiker, wie es später von teutonischen Neidern dargestellt wurde, sondern das damalige Spitzenprodukt moderner empirischer Sozialforschung, dessen theoretischer Hintergrund, die Kritische Theorie, für das amerikanische Publikum im Verborgenen blieb. Die „Dialektik der Aufklärung“ lag als Flaschenpost im Keller des Amsterdamer Querido-Verlags. Aber wer wissen wollte, konnte wissen: Horkheimers Vorlesungen hatten im Frühjahr 1944 nicht nur die talentiertesten New Yorker Intellektuellen gehört, sondern der Band „Eclipse of Reason“ lag seit 1947 in der New Yorker Oxford University Press gedruckt vor. Adorno verließ Amerika, als die politisch-intellektuelle Präsenz des „Horkheimer Circle“ zu Beginn der 1950er-Jahre am größten war. Horkheimer blieb in der amerikanischen Sozialwissenschaft aber weiter gegenwärtig; er pflegte seine Kontakte, und seine regelmäßige Lehrtätigkeit in Chicago dauerte noch bis in die 1960er-Jahre.

Bemerkenswert liest sich auch der abschließende Teil von Wheatlands Studie, der sich der Amerikanisierung Herbert Marcuses widmet. Den wenigsten Menschen ist bekannt, dass auch Marcuse schon in den 1950er-Jahren gern Horkheimer in die Bundesrepublik folgen wollte – aber nicht, wie es die Legende will, um die alte Heimat wiederzusehen, sondern um weiter mit Horkheimer an der Kritischen Theorie arbeiten zu können. Wheatlands Wortwahl vom „Horkheimer Circle“ ist insofern glücklich, als dies den Gruppenzusammenhang des Kreises um Horkheimer während der 1930er-Jahre betont – eines Kreises, der sich in den 1940er-Jahren aufgrund unterschiedlicher institutioneller Bindungen auflöste. Aber die Idee, die seit 1932 erscheinende „Zeitschrift für Sozialforschung“ zu Beginn des Kalten Krieges wiederzubeleben, inspirierte neben Marcuse auch den organisatorischen Geist der alten Zeitschrift Leo Löwenthal, der inzwischen bei der „Voice of America“ untergekommen war, bevor er Literaturprofessor in Berkeley wurde. Wheatland zeichnet eindrucksvoll die schwierigen Bedingungen nach, unter denen Marcuse sich im akademischen System Amerikas einen Platz schuf. Über seine Tätigkeit während des War Effort im Office for Strategic Services (OSS) hatte er intellektuell-politische Freundschaften geknüpft, die man heute wohl ein „Netzwerk“ nennen würde. Sein Weg führte den im OSS zum Russlandexperten herangereiften Marcuse während der 1950er-Jahre von der New Yorker Columbia University nach Brandeis – eine Institution, die seit ihrer Gründung mit dem Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus verbunden war. Hier lernte Marcuse neue Studenten unterschiedlichster politischer Couleur kennen, die ihn und seine Freunde zu Beginn der 1960er-Jahre zur fulminanten Stellungnahme gegen „Repressive Toleranz“ veranlassten. Die an der Brandeis University gehaltene Rede bezieht sich auf die Bürgerrechtsbewegung, die gegen massiven Druck lokaler Behörden endlich im Süden die Bürgerrechte für alle Amerikaner durchsetzen wollte. Dieses Zusammenspiel, das auch Marcuse veränderte, schildert Wheatland mit einer für ein wissenschaftliches Buch ungewöhnlichen Verve, die ein buntscheckiges, glaubwürdiges Bild des amerikanischen SDS jenseits eines „68er“-Bashing hervorbringt.

Einen Bogen habe ich in dieser Rezension um den zweiten Teil von Wheatlands Untersuchung gemacht; es geht dort im Kern um die letztlich konfrontative Begegnung von kritischer Gesellschaftstheorie und radikalem Pragmatismus. Vielleicht werden in diesem Kapitel die Grenzen einer Intellectual History deutlich, die den Gegenständen ihres Interesses eine Art gleichschwebende Aufmerksamkeit schenkt. Zwischen Max Horkheimer und Sidney Hook, zwischen Kritischer Theorie in dieser konkreten Gestalt und dem Pragmatismus der 1920er-Jahre kann ein solches Verfahren nicht gutgehen, wenn man die genannten Theorien nicht als akademisch tote Hunde behandelt. Beide, kritische Theorie und Pragmatismus, leben von ihrem außerakademischen Impuls (ebenso wie auch die Psychoanalyse). Als bloß akademischer Lehrstoff verlieren sie ihren Reiz, der in dem Versprechen liegt, Gesellschaft zu verändern. Das haben sie mit bestimmten marxistischen Traditionen gemein, nicht aber mit einem auch Marxismus genannten systematischen Gedankengebäude. Unter der Hand „vergeistesgeschichtlicht“ sich (wenn man ein solches Wort prägen darf) der Marxismus bei Wheatland zu einer ganz bestimmten Warensorte namens Hegelmarxismus. Da Hook wie Horkheimer auf die Hegel’sche Dialektik in der Theoriebildung Wert legten, hätten sie sich etwas zu sagen haben müssen; aber das reale Verhältnis war geprägt von heftigen Abstoßungsreaktionen. Die Dialektik, wie sie für die Kritische Theorie entscheidend ist, ist keine Bewegung des Denkens, sondern liegt in den Sachen, die nicht nur durch das Denken vermittelt werden.

Zum Glück verliert sich Wheatlands Studie nicht in diesem Theorievergleich. Da sich der Autor auf die intellektuell-politischen Themen im New York der 1930er- und im Amerika der 1940er-Jahre einlässt, gelingt es ihm, ein kräftiges Bild der Frankfurter Schule im Exil zu zeichnen, das über den Anspruch einer Intellectual History hinaus zur Erkenntnis der Gegenwart beiträgt. Wer glaubt, die Kritische Theorie als Gesellschaftstheorie erneuern zu können, wird ohne diese Studie nicht auskommen.

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