Titel
Die Spanische Grippe. Die Seuche und der Erste Weltkrieg


Autor(en)
Vasold, Manfred
Reihe
Geschichte erzählt 21
Erschienen
Darmstadt 2009: Primus Verlag
Anzahl Seiten
144 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Witte, Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin; Institut für Geschichte der Medizin, Charité, Freie Universität Berlin

Neben wenigen Arbeiten zur „Russischen Grippe“ 1889-92 ist die Grippe-Geschichtsschreibung dominiert durch die „Spanische Grippe“ 1918-20. Howard Phillips hat für die Historiographie der Spanischen Grippe vier Zugangswege ausfindig gemacht, die er beschrieben hat als „epidemiology, as high drama, as social science and ecology, and as a scientific saga“.1 Der epidemiologische Zugang entstand bereits zeitgenössisch und konzentrierte sich vorrangig auf die geographischen Ursprünge, die Verbreitung und die Kenndaten der Seuche (Morbidität, Mortalität, Letalität). Die bekannteste Arbeit in diesem Feld stammt von dem Mikrobiologen Edwin O. Jordan aus Chicago aus dem Jahre 1927.2

Im Großen Drama wird versucht, die Katastrophe als solche romanhaft dramatisierend nachzuvollziehen. In diesem Genre ist bis auf den heutigen Tag Richard Colliers Buch aus dem Jahre 1974 am bekanntesten.3 Wenngleich Colliers Werk keinen historiographischen Standards genügt, nimmt es doch immerhin Bezug auf die persönlichen Erinnerungen von mehr als 1700 Überlebenden der Grippe, die Colliers Team damals zusammengetragen hatten.4

Der sozial- und kulturwissenschaftliche Zugang zur Geschichte der Spanischen Grippe begann in den 1970er-Jahren. Hierbei dominieren Regionalstudien, deren Zahl Ende des 20. Jahrhunderts stark zugenommen hat. Eine Gesamtdarstellung der Influenza der Jahre 1918-20, die den internationalen Forschungsstand umfassend widergeben würde, ist bislang nicht vorgelegt worden.5 Die Tatsache, dass die Quellenlage insbesondere für die USA und für Australien sowie für Großbritannien offensichtlich sehr gut ist, kontrastiert dabei mit der schlechten Quellenlage zum Beispiel für das Deutsche Reich.6

Die Monografie von Alfred W. Crosby zur Spanischen Grippe in den USA, die 1976 erstmals publiziert wurde, ist nach wie vor als Standardwerk anzusehen. Durch Crosbys Werk, das verschiedentlich neu aufgelegt wurde7, hat die sozialhistorisch orientierte Herangehensweise an die Grippe-Geschichte den entscheidenden Impuls bekommen. Das bedeutet nicht, dass die Grundannahmen des Buches heute in Gänze als bestätigt gelten können.

So ist Crosbys These, die Grippe-Erkrankung des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilsons könnte die Friedensverhandlungen in Versailles entscheidend beeinflusst haben, reine Spekulation geblieben. Seit dem Erscheinen von Crosbys Monografie ist auch die auf Äußerungen der deutschen Obersten Heeresleitung (vor allem Erich Ludendorffs) zurückgehende Behauptung, die Grippe hätte die deutschen Truppen stärker geschwächt als die der Gegner, in der Diskussion. Die gegenwärtig beste Monografie zur Frage, wie sich die Seuche auf das Militär auswirkte, bezieht sich auf die „American Expeditionary Force“ und stammt von Carol Byerly aus dem Jahre 2005.8

Die Wissenschaftliche Sage schließlich ist das, was heute in der allgemeinen Presse die Geschichtsschreibung der Spanischen Grippe dominiert. Die vorrangige Methodik ist hierbei die der virologischen Archäologie, deren „Quellen“ gewebliche Überreste ehemaliger Opfer sind, die molekularbiologisch untersucht werden. Den schriftlichen Quellen kommt in diesem Zusammenhang lediglich eine untergeordnete Rolle zu.9

Als „Million dollar question“ der Geschichte der Spanischen Grippe gilt die Frage, ob die Spanische Grippe durch den Krieg und die Kriegsumstände erst möglich wurde bzw. dadurch bedingt war. Das Ursache-/Wirkungsverhältnis ist nicht geklärt. Influenza hatte nicht den Status einer „Kriegsseuche“, das heißt einer Seuche, die – wie Typhus oder Fleckfieber – im Rahmen eines Kriegsgeschehens erwartet werden konnte. Insofern die Spanischen Grippe einen Gedächtnisort hat, sind es die Schützengräben der Westfront. Dies erklärt jedoch nicht die Art und Weise des Zusammenhangs der Seuche mit dem Ersten Weltkrieg. Die Monografie Robert Browns, die 2006 an der Syracuse University in New York eingereicht worden ist10, ist bereits 2003 im britischen Rundfunk in dieser Hinsicht als bahnbrechend angekündigt worden. Brown hat sein Buch allerdings bis auf den heutigen Tag der Öffentlichkeit offensichtlich nicht zugängig gemacht.11

Insofern lässt das neue Buch des historischen Publizisten Manfred Vasold aufhorchen, wenn der Untertitel verspricht, „Die Seuche und der Erste Weltkrieg“ würden verhandelt werden. Vasold handelt die Influenza zum Ende des Ersten Weltkrieges in acht Kapiteln auf etwas mehr als 130 Seiten ab. Im ersten Kapitel soll ein Sittenbild der Lage der Bevölkerung im Krieg gezeichnet werden. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der ersten Welle der Grippe im Sommer 1918, was im vierten Kapitel vertieft wird. Das dritte Kapitel behandelt abrissartig die Grippe als Infektionskrankheit. In den beiden nachfolgenden Kapiteln wird die zweite, tödliche Welle des Herbstes 1918 möglichst plastisch geschildert, wie sie sich in Nordamerika und Europa abspielte. Dies wird danach im siebten Kapitel um Ausführungen zur Grippe in anderen Erdteilen ergänzt. Schließlich zieht Vasold eine Bilanz.

Vasolds eigene historische Forschung zur Spanischen Grippe ist bereits Mitte der 1990er-Jahre publiziert worden. In einigen Aufsätzen hatte er sich damals mit dem Auftreten der Spanischen Grippe in Nürnberg auseinandergesetzt.12 Sein Buch über die Spanische Grippe ist als eine Art Lesebuch für ein größeres Publikum konzipiert. Der These, man könne „nicht behaupten, dass es mit Blick auf diese Seuche an Quellen“ fehle (S. 126), kann für seine Belange nicht widersprochen werden, da sich Vasold ausschließlich dem Großen Drama als Ansatz verpflichtet sieht, das es – dem unterstellten Publikumsinteresse entsprechend – durchgehend plastisch darzustellen gilt.

Vasolds bevorzugte Quellen sind gedruckte Lebenserinnerungen von Künstlern und Politikern. Mehr als Bestätigung des sattsam Bekannten ist den daraus entnommenen Zitaten jedoch in der Regel nicht zu entlocken. Gleichwohl wartet das Buch durchaus mit Quellen auf, die beachtenswert sind. So wertet Vasold das Tagebuch des elsässischen Soldaten Dominik Richert aus (S. 46f.) oder die Lebenserinnerungen der damals in Leipzig lebenden Australierin Ethel Cooper (S. 21, 55f.).

Das größte formale Problem der Abhandlung jedoch besteht darin, dass nur eine Handvoll Belegstellen eingestreut worden sind. Folge ist, dass man interessante Details, die Vasold beispielsweise über die Grippe in Philadelphia (S. 68-73) oder in Spanien (S. 78-81) darlegt, nicht überprüfen sondern lediglich glauben kann. Fast nichts ist zitier- bzw. verwendbar. An einer Stelle ist im Text sogar explizit von einer „Studie aus Ohio“ die Rede (S. 40), aber selbst diese demonstrative Bezugnahme auf eine Quelle nötigte nicht zum Nachweis.

Das Buch ist einer traditionellen, populärwissenschaftlichen Darstellungsweise verpflichtet. Vasold spricht weniger als Historiker zum imaginären Publikum; vielmehr wendet er als Publizist einen Appell an die Historiker, wenn es über die vermeintliche Vernachlässigung der Spanischen Grippe in der Historiographie heißt, „das massenhafte Sterben von Menschen – ein demographischer Niedergang der Weltbevölkerung – infolge einer schweren Seuche“ sei ein „Teil der Sozialgeschichte“, der zur Auseinandersetzung nötigen müsse (S. 138). Da Vasold selbst jedoch nie über den Tellerrand des Großen Dramas blickt, problematisiert er die Schwierigkeiten der sozialhistorischen Darstellung der Grippegeschichte nicht.

Vasold wird nicht müde, den Ersten Weltkrieg in seinen bekannten Auswirkungen zu beschreiben. In der Frage des Zusammenhangs von Krieg und Seuche lautet sein Fazit: „Deutschland hat den Krieg nicht infolge der Grippe verloren, die Grippe hat das Kriegsende lediglich schneller herbeigeführt.“ (S. 133) Auch diese Feststellung schwankt jedoch zwischen Allgemeinplatz und Plausibilität, bewiesen bzw. herausgearbeitet ist sie durch Vasolds „Spanische Grippe“ nicht.

Anmerkungen:
1 Howard Phillips, The Re-appearing Shadow of 1918: Trends in the Historiography of the 1918-19 Influenza Pandemic, in: Canadian Bulletin of Medical History 21 (2004), S. 121-134, hier S. 121.
2 Edwin O. Jordan, Epidemic Influenza – A Survey, Chicago 1927.
3 Richard Collier, The Plague of the Spanish Lady. The Influenza Pandemic of 1918-19, London 1974.
4 Zu Colliers Arbeit siehe: Wilfried Witte, Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe, Berlin 2008, hier S. 93-96.
5 Den Forschungsstand zu Beginn des 21. Jahrhunderts gibt am besten wider: Howard Phillips / David Killingray (Hrsg.), The Spanish Influenza Pandemic of 1918-19. New Perspectives, London 2003.
6 Vgl. zur diesbezüglichen Problematik: Wilfried Witte, Erklärungsnotstand. Die Grippe-Epidemie 1918-1920 in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung Badens, Herbolzheim 2006, hier S. 367-385.
7 Alfred W. Crosby, America´s Forgotten Pandemic. The Influenza of 1918 (1. Aufl. u.d.T. “Epidemic and Peace: 1918”, 1976), Cambridge 1989, ND 1990. 1997, 2. Aufl. 2003.
8 Carol R. Byerly, Fever of War. The Influenza Epidemic in the U.S. Army during World War I., New York 2005.
9 Siehe z.B. J.S. Oxford u.a., World War I may have allowed the emergence of “Spanish” influenza, in: The Lancet Infectious Diseases 2 (2002), S. 111-114.
10 Robert J. Brown, Fateful alliance. The 1918 influenza pandemic and the First World War. In the British context, Ph.D. thesis Syracuse University, New York 2006.
11 Über den Buchmarkt ist kein entsprechender Titel aufzufinden. Die Dissertation selbst ist per Fernleihe nicht bestellbar, es wird lediglich auf das Online-Portal „Pro Quest“ verwiesen, wo dort eingestellte Abschlussarbeiten in der Regel kostenpflichtig zu beziehen sind. Zu Browns Arbeit heißt es bei Pro Quest jedoch: „At request of the author, this graduate work is not available for purchase.“
12 Siehe z.B.: Manfred Vasold, Die Grippepandemie in Nürnberg 1918 – eine Apokalypse, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 10 (1995) 4, S. 12-37.