C. Frantz u.a. (Hrsg.): Transnationale Zivilgesellschaft in Europa

Cover
Titel
Transnationale Zivilgesellschaft in Europa. Traditionen, Muster, Hindernisse, Chancen


Herausgeber
Frantz, Christine; Kolb, Holger
Erschienen
Münster 2009: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
179 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Philipp Baur, Universität Augsburg

Der Band versammelt Vorträge der Ringvorlesung Transnationale Zivilgesellschaft in Europa – Traditionen, Muster, Hindernisse, Chancen, die im Wintersemester 2007/2008 am Graduiertenkolleg Zivilgesellschaftliche Verständigungsprozesse vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Deutschland und die Niederlande im Vergleich an der Universität Münster stattfand. Die Aufsätze verstehen sich als grundlegende Beiträge zu den Voraussetzungen und Rahmenbedingungen einer europäischer Zivilgesellschaft, mit speziellen Perspektiven auf ihre Akteure sowie die Faktoren des Gelingens und Scheiterns.

Zivilgesellschaft manifestiert sich – folgt man der einführenden Definition von Christiane Frantz – in zweierlei Hinsicht: Einerseits in sozialen Zusammenschlüssen, die sich jenseits von Staat, Markt und Privatssphäre freiwillig in den Dienst der Gemeinschaft stellen; andererseits im „Habitus von Individuen“, gemeint sind (unter Rückgriff auf Pierre Bourdieu) sozial und kulturell motivierte Unterschiede wie Bildung, Sprache, spezifische Rituale, Normen und Werte. Zu Beginn des 21. Jahrunderts scheint sich immer mehr herauszukristallisieren, dass Europa bis auf weiteres durch seine nationalstaatlichen Kontexte geprägt sein wird und die „Europäisierung“ Europas sich im wesentlichen als „Europäisierung“ der Nationalstaaten vollzieht. Inwieweit aber auf zivilgesellschaftlicher Ebene transnationale Prozesse der Verdichtung und Integration wirken, die als Ausdruck einer gemeinsamen europäischen Öffentlichkeit und Identität gelesen werden können, ist eine der zentralen Fragen der AutorInnen (S. 9-11).

Die ersten drei Beiträge analysieren das Verhältnis von Staat, Verfassung und europäischer Zivilgesellschaft. Europäische Verfassungspolitik und politischer Gesellschaft stehen dabei in einer für das Europa der Gegenwart konfliktreichen Beziehung. Das Ringen um eine gemeinsame EU-Verfassung, konkret das Scheitern der Referenden in Frankreich und den Niederlanden wertet Hans J. Lietzmann als „Klarstellung über das politische Bewusstsein“ der abstimmenden Bürger, die mehr sein wollen als nur „politische Zaungäste“ oder „Kunden“ (S. 17f.). Legitim werde eine gemeinsame Verfassung erst, wenn sie von der europäischen Gesellschaft auch als legitim erachtet werde. In diesem Sinne hebt Lietzmann neben dem instrumentellen, formal kodifizierten Charakter die symbolische Aspekte einer Verfassung hervor. Nur durch die Komponenten einer psychosozialen „Pathosformel“, die der Emotionalität einer tradierten politischen Kultur Ausdruck verleiht, könne eine gemeinsame Verfassung der pluralistischen Realität europäischer Zivilgesellschaften gerecht werden und „von unten“ Legitimität gewinnen (S. 29).

Mit der Rolle des „europäischen Staatsbürgers“ in eben diesem gesamteuropäischen Verständigungsprozeß beschäftigt sich John Keane. Er skizzierte die Entwicklung des Konzeptes von den skeptischen Ursprüngen Anfang der 1970er-Jahre (Raymond Aron: „There are no such animals as 'European citizens'“) bis hin zu den Reformen des 2007 unterzeichneten Vertrags von Lissabon. Eine der zentralen Herausforderungen sei, dass sich die Vision einer europäischen Staatsbürgerschaft von der Staatsbürgerschaft ihrer Mitgliedsländer ableitet und somit auf unterschiedlichsten Traditionen fußt. Als kleinsten europäischen Nenner sieht Keane eine Lesart von Staatsbürgerschaft, die auf der Pflege ziviler, politischer und sozialer Rechte und Pflichten sowie deren nationalen Traditionen basiert (S. 39). Angesichts der Tatsache, dass das Ideal einer europäische Staatsbürgerschaft in hohem Maße „von oben“ definiert und auf den Weg gebracht wurde, zeigt sich Keane jedoch skeptisch, in wie weit sich der Ist-Zustand auch über die politische Integration hinaus zu einer europäischen Staatsbürgeridentität entwickeln wird.

Ähnlich kritisch diskutiert Ton Nijhuis in seinem Beitrag die Chancen und Hindernissen einer europäischen Zivilgesellschaft als Ziel europäischer Politik. Er betont dabei eingangs die Diskrepanz zwischen dem normativen „Erwünschtsein“ einer europäischen Öffentlichkeit als Voraussetzung für das Gelingen einer partizipatorische Demokratie und der tatsächlichen Entwicklung einer europäischen Zivilgesellschaft (S. 61f.). Im Kern verlaufen zivilgesellschaftliche Diskussionen über europäischer Belange immer noch in einem nationalen Kontext. Das Fehlen einer gemeinsamen Sprache identifiziert Nijhuis dabei als eines von mehreren Hindernissen. Allerdings liegen die Chancen einer europäischen Öffentlichkeit gerade in der Vielzahl an Netzwerken und regionalen Nischen, ohne dass nationale (Erfolgs-)Modelle von Zivilgesellschaft zwangsläufig auf Europa projeziert werden können und müssen.

Die folgenden fünf Beiträge beleuchten europäische Zivilgesellschaft als Raum politischer Willens- und Meinungsbildung. Dieter Rucht präsentiert einige konzeptuelle Überlegungen und Möglichkeiten der empirischen Analyse von Zivilgesellschaft, deren Definition oft (und nicht selten zu Recht) begriffliche Unschärfe vorgeworfen wird. Er plädiert dafür, Zivilgesellschaft nicht „bereichslogisch“, das heißt im Hinblick auf gesellschaftlichen Sphären und territoriale Gruppenzugehörigkeiten zu untersuchen, sondern „handlungslogisch“ vorzugehen, um so das Verhalten ihrer Akteure in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen. Als empirischen Maßstab schlägt Rucht „Zivilität“ (etwa Menschenrechte, politische und soziale Bürgerrechte) als universelle Basisnorm vor (S.91).

Paul Dekker beschäftigt sich eingehender mit den Mustern und gemeinsamen Perspektiven einer europäischen Zivilgesellschaft. Er geht von einer doppelten Wortbedeutung aus, derzufolge Zivilgesellschaft nicht nur ein Ideal kultivierten Zusammenlebens darstellt, sondern ein messbarer Bereich der Gesellschaft ist, in dem freiwillige Zusammenschlüsse dominieren. Auf Basis eines europäischen Ländervergleichs resumiert er, dass Aktivitäten im gesellschaftlichen Bereich der Zivilgesellschaft keinen substanziellen Beitrag zur Verwirklichung der Zivilgesellschaft als Ideal leisten. Er begründet dies mit ihrer wachsenen Hybridisierung, mit der Arbeitswelt und Konsumentenrolle des modernen Bürgers als Ersatz für freiwilliges Engagement an Bedeutung gewonnen haben (115f.). Für Europa bedeute dies, dass in der Lebenswelt ihrer Bürger selbst internationale und transnationale Themen zunächst regional/national verhandelt werden, wobei sich etwa in Fragen von Umwelt und internationaler Gerechtigkeit durchaus europaweite Verdichtungen beobachten lassen.

Die Beiträge von Matthias Freise und Christiane Frantz verdeutlichen exemplarisch den Konsens und den Willen der Autoren, dass das Konzept einer Zivilgesellschaft – gerade wegen der „Definitionsdefizite“ (Freise, S.122) – auf empirisch-sozialwissenschaftlichen Wege vermessen werden müsse. Freise bekräftigt, dass sich Europa durch zivilgesellschaftliche Initiativen partizipatorisch legitimieren könne, wobei er von einer einseitigen top-down Implementierung aus Brüssel warnt (S. 130-132). Ebenfalls kritisch bewertet Frantz die bottom-up Perspektive eines „Europas der Bürger“, der sie eine „Alibifunktion“ zuschreibt. Die EU weise vergleichsweise hohe Partizipationshürden auf und werde entgegen der proklamierten Nähe und Erlebbarkeit europäischer Politik maßgeblich von Eliten dominiert (S.153f.).

Als einziger Beiträger wendet James C. Kennedy die Theorie auf ein greifbares Beispiel an und untersucht den historischen Wandel im Verhältnis von Kirchen und niederländischer Gesellschaft. Er argumentiert, dass die konstitutive und politische Rolle der Kirche zwar verloren gegangen sei, die moralische und ideelle Bedeutung trotz der Fragmentierung der Gesellschaft weiterhin bestehe. Auch in einer sekularen Zivilgesellschaft wie den Niederlanden bieten Kirchen – in kleinerem Rahmen als zuvor – Sinngebung für einzelne Bürger sowie Sozialkapital für die Gesellschaft (S. 171). Dies werde die Kirchen zwar nicht in die Mitte der Gesellschaft zurückführen, auch werden die Rahmenbedingungen kirchlichen Engagements weiterhin durch die sekulare Öffentlichkeit abgesteckt, aber als ein Agent und Impulsgeber im Kleinen werden sie gerade innerhalb einer pluralistischen Zivilgesellschaft Bestand haben.

Als ein Verdienst des Bande ist zu werten, dass er die wissenschaftliche Diskussion nicht nur in großer Breite, sondern auch auf dem aktuellen Stand der Forschung widergibt, und gleichzeitig viele weitere Forschungsperspektiven aufzeigt. Fachlich bewegen sich die einzelnen Beiträge auf durchwegs anspruchsvollem Niveau, auch wenn sich leider die ein oder andere inhaltliche Redundanz eingeschlichen hat. Zu kurz kommen Beispiele, die die theoretisch eng gepackte Diskussion auf konkrete Fälle herunter brechen. Es bleibt zu wünschen, dass solchen Fallstudien in den Folgebänden der Reihe mehr Platz eingeräumt wird.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/