Titel
Roger Bacon.


Autor(en)
Mensching, Günther
Erschienen
Münster 2009: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
139 S.
Preis
€ 14,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Udo Reinhold Jeck, Institut für Philosophie, Ruhr-Universität Bochum

In Hegels berühmten Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie findet sich folgende kurze Notiz: „Roger Bacon bearbeitete besonders Physik, blieb ohne Wirkung, erfand Schießpulver, Spiegel, Ferngläser; er starb 1294.“1 Hegel setzte in seiner fragwürdigen Konstruktion der Philosophiegeschichte andere Schwerpunkte als das Mittelalter. Deshalb zeigte er für Bacons Philosophie kein Interesse. Doch die Nachrichten über das Wirken dieses originellen Franziskaners als innovativer Naturwissenschaftler überdauerten die Jahrhunderte. Insofern geriet er eigentlich niemals ganz in Vergessenheit; selbst Hegel konnte das nicht ignorieren.

Hegels einseitige Geschichte der Philosophie ist heute selbst Vergangenheit. Historiker der Philosophie, der Technik und der Naturwissenschaften haben seit den Tagen der klassischen deutschen Philosophie die Archive durchforstet. Dabei traten auch eine Fülle interessanter Details zu Leben und Werk Bacons zutage. Heute stehen seine Werke – wenn auch in Editionen unterschiedlicher Qualität – der Interpretation zur Verfügung. Dennoch legte niemand eine umfassende Darstellung des gegenwärtigen Wissens über Roger Bacon vor. Mensching hat diesen Mangel durch seine Studie behoben und darin ein lebendiges Bild Bacons gezeichnet.

Nach Vorwort (S. 9-10) und Einleitung (S. 11-22) erhält der Leser zunächst einen Einblick in die Biographie Bacons (S. 23-31). Dieser Visionär war vor allem seinem Orden unbequem, der ihn zeitweise internierte und seine wissenschaftliche Arbeit enorm behinderte. Für kurze Zeit schenkte ihm jedoch Papst Clemens IV. Gehör und forderte ihn zur Formulierung seiner kühnen Gedanken auf. Bacon kam dem auf originelle Weise nach und legte dabei drei Hauptwerke der mittelalterlichen Philosophie vor (Opus maius, Opus minus, Opus tertium). Aber die Projekte, die er darin vortrug, blieben unrealisiert. Widrige Umstände sowie die Ungunst der Zeiten verhinderten, dass mehr aus ihnen wurde. Zuletzt scheiterte dieser Querdenker an der geistigen Engstirnigkeit und der technischen Rückständigkeit des Mittelalters.

Bacon war ohne Zweifel ein wissenschaftlicher Universalist. Im Hinblick darauf lässt sich im 13. Jahrhundert nur Albert der Große mit ihm vergleichen. Doch das Wissen Bacons ging nicht nur in die Breite, sondern reichte auch in die Tiefe. Insofern sprengte er oft den gewöhnlichen Rahmen seines Jahrhunderts. Das lässt sich klar aus den zentralen Kapiteln der Studie Menschings erkennen. Dort finden sich zunächst gut verständliche Übersichten zu Bacons Metaphysik und Wissenschaftstheorie (Scientia experimentalis). Aber auch seine Leistungen in wichtigen und schwierigen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen wie Optik, Alchemie, Technik, Medizin, Linguistik (Sprache und Semantik) und Ethik (Moralis philosophia) arbeitet Mensching detailliert und spannend für den Leser auf (S. 32-123). Eine Zeittafel, Bibliographie und Register runden die Studie ab (S. 124-139).

Darüber hinaus bietet die Monographie Menschings wichtige Informationen und Hinweise auf Fragen grundsätzlicher Natur. Einige sollen hier zur Sprache kommen. Roger Bacon ist eine zentrale Figur der mittelalterlichen Philosophie. Das gilt jedoch nicht nur für ihn, sondern für viele andere Denker seiner Zeit. Das historische Wissen über sie wuchs enorm an. Selbst intensiv eingearbeitete Fachleute überschauen nur noch Teilbereiche. Zwar stehen der modernen Wissensgesellschaft diese Informationen nun ungehindert zur Verfügung, aber die Fülle erschwert auch die Nutzung, da höchst umstrittene Kriterien zur Auswahl vorliegen. Darüber hinaus steht gegenwärtig nicht nur das Erbe der mittelalterlichen, sondern auch der Fundus der gesamten westlichen Philosophie zur Disposition und muss sich im Zeitalter des interkulturellen Informationsflusses zunehmend dem Vergleich mit den Leistungen anderer Zivilisationen stellen. Welcher der großen Denker des Mittelalters verdient insofern heute noch besondere Beachtung? Aus globaler und interkultureller Perspektive darf sicher nur der einen herausgehobenen Rang beanspruchen, dessen Denken einen weiten Horizont besaß, bei signifikanten Problemen der Gegenwart interessante Perspektiven bietet und Potentialitäten für die Zukunft birgt. Diese Qualitäten zeigt Roger Bacon.

Global gesehen befand sich Europa im 13. Jahrhundert am Rande eines expansiven Imperiums und dadurch in einer prekären Lage: Die Mongolen hielten große Teile der eurasischen Landmasse besetzt; ihre Herrschaft reichte zum Zeitpunkt der maximalen Ausdehnung von der Ukraine bis ans Japanische Meer, von Zentralasien bis nach Persien. Dem lateinischen Westen Europas mit seinen aufstrebenden Städten drohte das Schicksal, das die Mongolen später Bagdad bereiteten. Als sie 1241 sogar bis Schlesien vorstießen, war Bacon noch ein junger Mann. Als er starb, befand sich das Weltreich schon im Zustand des Zerfalls, hinterließ aber immerhin noch imposante Bruchstücke. Bacon interessierte sich für diese großen Zusammenhänge. Obwohl er im Gegensatz zu anderen Mitgliedern seines Ordens niemals Europa verließ, nutzte er doch die internationalen Verflechtungen der Franziskaner für die Vertiefung des eigenen Weltbildes. So studierte er den Bericht Wilhelm von Rubruks über das Innere Asiens. Vielleicht traf Bacon diesen weit gereisten Franziskaner sogar 1255 in Paris (S. 110 Anm. 15).

Bacon nahm diese Informationen nicht nur zur Kenntnis, sondern zog wichtige Schlussfolgerungen daraus. Er erstarrte nicht in der Furcht vor den ‚Tartaren‘ und den fremden Religionen in ihrem Herrschaftsbereich, sondern setzte sich vielmehr für den Dialog der Glaubensrichtungen ein. Zwar hielt er am Christentum fest, doch sollten Bekehrungen nicht gewaltsam erfolgen. Bacon setzte auf wissenschaftliche Argumente. Im Zeitalter des Konfliktes der Weltkulturen verdient diese Besonnenheit höchste Beachtung. Dass Bacon in großen Horizonten dachte, zeigt sich auch auf einem anderen Gebiet: Er forderte von seinen Zeitgenossen das Studium zahlreicher Sprachen (S. 14, 85-86). Auch im Hinblick darauf erscheint er als Vordenker einer Welt, die immer enger zusammenwächst und die Kompetenz zum originären sprachlichen Kontakt dringend braucht. Allerdings setzte Bacon nicht auf eine einheitliche und nivellierende Weltsprache, sondern forderte die wissenschaftliche Elite zu vielfältigen Spracherwerb auf. Deshalb kritisierte er in diesem Zusammenhang nicht nur die skandalöse Unkenntnis der Theologen seiner Zeit, die lediglich mit Translationen des biblischen Urtextes aus dem Hebräischen und Griechischen arbeiteten, schwerwiegender erschien ihm die Unkenntnis des Arabischen, damals wie heute eine Weltsprache. Während dem Osten Europas ein barbarischer Mongolensturm drohte, befand sich der Süden nämlich in unmittelbarer Nachbarschaft zur islamischen Hochkultur. Zwar schwand die politische Macht der Araber unter dem Druck der Lateiner allmählich, aber der Einfluss der arabischen Wissenschaft erreichte im 13. Jahrhundert einen Höhepunkt. Auf fast allen naturwissenschaftlichen Gebieten, vor allem jedoch in Alchemie, Optik oder Medizin konnten die Europäer von den Arabern lernen. So verknüpfte die arabische Wissenschaft schon Erkenntnisse der Optik und der Physiologie des Sehens mit einer spezifischen Theorie des Gehirns (S. 63-64); sie griff also heute höchst aktuelle Themen auf. Doch lagen zentrale Texte zahlreicher Wissenschaftszweige den Lateinern nur in Übersetzungen aus dem Arabischen vor. Wer also einen qualifizierten Zugang zu diesen Quellen suchte, musste die Sprache der Araber beherrschen. Mit dieser Forderung nach Multilingualität sprengte Roger Bacon ebenfalls die Grenzen seiner Zeit.

Bacon erwies sich auch durch seine kühnen Entwürfe und Visionen zur Technik als Doctor mirabilis (S. 12-13, 70-71), er hinterließ aber nicht viele Äußerungen, sondern nur vage Andeutungen dazu. Doch lebte er in einer Epoche, die ihre technischen Projekte bis an die Grenze des damals Möglichen vorantrieb. Die Präzision der Dombaukunst ist das beste Beispiel dafür. Der Aufschwung des 13. Jahrhunderts ließ daher für Optimismus breiten Raum. Bacon muss geahnt haben, dass die damaligen Konstrukteure zwar die Potentialitäten ihrer Zeit, aber nicht der Wissenschaft an sich ausgeschöpft hatten. In seiner Phantasie stieg der Umriss einer technischen Welt auf, in der sich die Menschen nicht nur Automaten schufen, sondern mit ihren Maschinen auch den Luftraum und die Tiefe des Meeres eroberten. Bacons bekannte Einstellung zur Naturwissenschaft lässt vermuten, dass er diese Erfindungen auch als Mittel zur weiteren Emanzipation des Menschen verstand. Konstruktionspläne kann niemand von einem Visionär des 13. Jahrhunderts verlangen, aber dass sein Optimismus nicht ganz abwegig war, beweisen die Unternehmungen seiner Zeitgenossen, die bis an den Rand der damals bekannten Welt vorstießen. Warum sollte man die Grenzen des Bekannten nicht auch in der technischen Dimension überschreiten? Erstaunlich - und der weiteren Untersuchung wert – ist die Tatsache, dass Bacons Denken diesen visionären Zug zuließ.

Wer will, kann in der Studie Menschings noch zahlreiche weitere wertvolle Einzelheiten entdecken, die noch der Bearbeitung harren. Daher ist dieses Buch auch mehr als eine Einführung, sondern eher der Umriss eines Forschungsfeldes für die Zukunft.

Anmerkung:
1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Frankfurt am Main 1971, S. 585.

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