Cover
Titel
Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker. Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman


Autor(en)
Saupe, Achim
Reihe
Histoire 7
Anzahl Seiten
538 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Oels, Institut für deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin

Ein Passwort wird eingegeben, ein Tor öffnet sich, die Musik klingt dramatisch. Um einen mit Büchern, Papieren und Notebooks bedeckten Tisch sitzen beratend zehn Frauen und Männer. Eine Einsatzbesprechung? Ein Team von Profilern? Eine Sonderkommission? Nein. Aus dem Off wird erklärt: „Detektive der Vergangenheit. Ungelöste Fälle. Bewegendes Schicksal. Große Geschichte.“ – So beginnt allsonntäglich ZDF-History, und die vermeintlichen Kriminalisten sind junge Historiker, die dem öffentlich-rechtlichen Großinterpreten Guido Knopp zuarbeiten. Dass diese Nähe von Historiker und Detektiv keineswegs auf die populäre Geschichtsvermittlung im Fernsehen und auf Gegenwart und jüngere Vergangenheit beschränkt ist, dass sie zudem zentral für das Selbstverständnis, die Theoriebildung und die Rhetorik der Geschichtswissenschaften spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ist, das zeigt der Potsdamer Zeithistoriker Achim Saupe in einer vielschichtigen und gehaltvollen Studie.

Saupe beginnt mit einem Kapitel zum narrative turn in den Geschichtswissenschaften, das als themenzentrierte Einführung in die wesentlichen Positionen Hayden Whites, Paul Ricœurs und Carlo Ginzburgs lesbar ist. Zunächst wird die „strukturelle Ähnlichkeit von historiographischen und detektivischen Erzählungen“ deutlich, denn beide erzählen „zwei Geschichten: die (rekonstruierte) Geschichte und die Geschichte der Rekonstruktion der Geschichte“, bzw. vom Verbrechen und seiner Aufklärung (S. 46f.). Damit wird dann der „Konstruktionscharakter der Geschichte“ einer kritischen Analyse zugänglich, die in epistemologischen, auf die Referenzialisierbarkeit gerichteten, und in literaturtheoretischen, auf den Eigenwert der Fiktion gerichteten Debatten vernachlässigt wurde.

Zentraler Bezugspunkt der folgenden Kapitel, die historisch den Interferenzen von Geschichtsschreibung und Kriminalroman, von Kriminalistik und Geschichtstheorie nachspüren, ist Johann Gustav Droysen, dessen „Historik“ (1857) das längste Kapitel gewidmet ist. Droysen habe die „richterliche freie Beweisführung“ und den „Indizienbeweis“ zum Verfahren historischer Erkenntnis befördert. Seine Kritik an der „Suche nach den ersten Quellen als Garanten historisch wahrer Aussagen“ und „dass er die rekonstruktive Praxis in eine Tatbestandsaufnahme überführte, […] findet ihre Erklärung in den Veränderungen innerhalb der Strafrechtswissenschaften und der Kriminalistik“ (S. 118). Damit sind historische Theoriebildung und Kriminalistik enggeführt, der Historiker wird zum Untersuchungsrichter in Sachen Vergangenheit.

Saupe zeigt, dass Droysens Typologie historiographischer Darstellungen nicht nur im Zusammenhang mit der Abkehr der Geschichtswissenschaft vom neuzeitlichen Roman hin zu einer Verwissenschaftlichung verstanden werden kann, sondern sich ebenso als Theorie der Kriminalliteratur und als von der Kriminalliteratur inspirierte Geschichtstheorie lesen lässt. Droysens „untersuchende Darstellung“, die den Hergang der Erkenntnisgewinnung erzählt und reflektiert, ist keine Entrhetorisierung der Historiographie, sondern folgt dem Narrativ des Krimis.

Dezidiert auf den Kriminalroman, genauer auf den Rätselroman etwa Agatha Christies im golden age of crime der Zwischenkriegszeit bezieht sich Robin George Collingwood. Dort ist nicht mehr der Untersuchungsrichter Alter Ego des Historikers, sondern der fiktionale Detektiv, der das Geschehene erfasst, in innerer Zwiesprache analysiert und das Ergebnis als faktengestützte Re-Konstruktion seinem erstaunten Publikum darbietet. Im Gegensatz zu Hercule Poirot kann der Historiker jedoch nicht auf ein Schuldeingeständnis als endgültigen Beweis hoffen, sondern bleibt auf die „historische Imagination“ und den verstehenden Nachvollzug im „re-enactment“ angewiesen. Trotzdem ist die hermeneutische Theorie Collingwoods, wie Saupe überzeugend nachweist, auf den Kriminalroman bezogen, indem das Rätsel der Vergangenheit heuristisch als lösbar angenommen wird, lösbar im Hinblick auf eine je gegenwärtige Fragestellung. Denn so wie der Detektiv von einem zweifellos vorhandenen Verbrechen ausgeht, das es aufzuklären gilt, widmet sich der Collingwoodsche Historiker der Vergangenheit von der Gegenwart aus. Saupe bemüht für dieses Schlussverfahren den Peirceschen Begriff Abduktion. Problematisch am abduktiven Schließen und damit an Collingwoods historischer Theorie und Praxis ist jedoch, wie Saupe mit Siegfried Kracauer konstatiert, dass ein rationaler Welt- und Handlungszusammenhang sowohl vorausgesetzt als auch bestätigt wird. Eine Eigenlogik wird dem Verbrechen genauso wenig zugestanden wie der Vergangenheit.

Ging es bislang aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft um die Interdependenzen, Interferenzen, metaphorischen Bezüge zum oder Anleihen und expliziten Übernahmen aus dem juridisch-kriminologischen Diskurs, dem wissenschaftlichen wie dem literarischen, wechselt Saupe im folgenden Kapitel über den Nationalsozialismus als Kriminalroman die Seiten. In einer empirisch gesättigten, insbesondere im Kapitel über NS-Täter im Kriminalroman der DDR auch archivalisch abgesicherten Untersuchung, widmet er sich nun literarischen Werken, die sich kriminalistisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen: etwa Hans Helmut Kirsts „Die Nacht der Generale“, Horst Bosetzkys „Sozio-Krimis“, Robert Harris „Fatherland“ und Friedrich Dürrenmatts „Der Verdacht“. Überraschenderweise fehlt Peter Weiß’ „Ermittlung“, ein dem Dokumentartheater zugerechnetes Stück, das dem Genre Kriminalroman nicht ferner steht, als Bertolt Brechts „Gangsterdrama“ „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“, das bei Saupe eine zentrale Stellung einnimmt.

Es fällt dem Leser nicht leicht, diesem Perspektivwechsel zu folgen. Dafür hätte die These, bei der Kriminalliteratur handele es sich um einen „reintegrativen Interdiskurs“ im Sinne Jürgen Links, stärker prononciert werden müssen (vergleiche zum Beispiel S. 482). Trotzdem bereichern die Ergebnisse dieses Abschnitts die Forschungen zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus. Denn gerade die populärkulturelle Thematisierung des Nationalsozialismus in verschiedenen Ländern und Systemen aber innerhalb eines konventionalisierten Genres, lässt empirisch abgesicherte Rückschlüsse auf die jeweilige kulturelle Gestimmtheit zu. Insofern ist es folgerichtig, dass Saupe abschließend die erfolgreichen Bände Christopher R. Brownings und Daniel Goldhagens ebenfalls im kriminalistischen Narrativ verortet. Während Browning sich dabei eher an dokumentarische Formen anlehnt, die man gern als „Faction“ bezeichnet, lassen sich bei Goldhagen kontrastive Verfahren der Trivialliteratur erkennen. Rhetorische Strategien verfolgten beide, bemerkt wurde dies bislang aber nur bei Goldhagen.

Dieses wiederum auf die Geschichtswissenschaft bezogene Kapitel entschädigt dafür, dass die Verflechtungen historischer Theoriebildung mit literarischer und wissenschaftlicher Kriminalistik und Justiz für die Zeit nach 1945 nur angedeutet werden. Mit Bezug auf Hans Georg Gadamer heißt es etwa, dessen Hermeneutik nehme „Abschied von einer Konzeption, die auf die Folter der Quellen, auf die heuristische Fiktion des Verhörs oder aber auf die detektivisch fragende Analytik Collingwoods setzt. Verortet man Gadamers Vorstellung vom hermeneutischen Gespräch zeitgeschichtlich vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Nationalsozialismus und der Folterzellen der Gestapo, wird dies durchaus verständlich.“ (S. 251) Allerdings – und auch das deutet Saupe an – erschien Gadamers Hauptwerk zu einer Zeit, als in der Bundesrepublik die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen langsam begann, die auf das Verhör angewiesen blieb. Hier hätten sich durchaus Erwägungen anschließen lassen – rückwärts zur heftig diskutierten Rechtspraxis der Kriegsverbrecherprozesse und der Rede von der deutschen Katastrophe und vorwärts zur Strukturgeschichte und der Abwesenheit der Täter im bundesdeutschen Gefühlshaushalt oder zum narrative turn und der Rehabilitation des Zeugen.

Trotz dieser Einschränkung überzeugen These und Darstellung der gut lesbaren, faktenfreudig erzählten und auf Nachvollziehbarkeit bedachten Arbeit vollkommen. Denn Saupe belegt, dass es wenig erkenntnisfördernd ist, Geschichtsschreibung und Literatur engzuführen und auf archetypische Plotstrukturen zu reduzieren, oder umgekehrt mit Verweis aufs Faktische die Kontamination historiographischer Erzählungen durch fachexterne Narrative zu negieren. Vielmehr ist von Wechselverhältnissen auszugehen, die mithilfe der Begriffe Fakt und Fiktion, Literatur und Geschichte, U und E kaum sinnvoll erhellt werden können. Beispielsweise wird im „Geschichtskrimi“ der Gegenwart „[n]icht selten […] die positivistisch-kriminalistische Aufklärungsarbeit gegen die Interpretierbarkeit der Geschichte ausgespielt. So entfalten die historischen Kriminalromane als Aufklärungsfiktion eine mythisierende Kraft, während die Kriminalliteratur als Fiktion gelingender Rekonstruktion immer wieder Anlass bot, von Historikern rezipiert zu werden.“ (S. 484)

An dieser Aufklärungsfiktion partizipiert auch Guido Knopp, dessen überstarke Abwehr durch die institutionalisierte Historiographie nun auch lesbar ist als Projektion. Denn im Wettstreit um die öffentliche Aufmerksamkeit lässt sich der Detektiv geradezu als Wunschbild verstehen, das immer seltener tatsächlich vom Historiker ausgefüllt wird. In der Populärkultur sind es im Falle der Zeitgeschichte oft Journalisten, die die historische Rekonstruktion leisten und im Falle der älteren Geschichte seit dem 19. Jahrhundert und bis zu Indiana Jones oder Lara Croft beinahe ausschließlich Archäologen, die in der Regel explizit gegen die akademische Geschichtsschreibung in Sachen Vergangenheit ermitteln. Einen Beleg findet das im mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 2009 ausgezeichneten „Rätsel der Varusschlacht“ von Wolfgang Korn und Klaus Ensikat (2008). In der Einleitung wird dem Leser erklärt, der „typische Historiker“ sei ein „lesewütiger Sammler“, der sich darauf stützen müsse, was bereits niedergeschrieben sei, während der „typische Archäologe“ als „buddelwütiger Detektiv“ die materiellen Spuren freilege. Der Untertitel des Buchs macht dann die Prioritäten endgültig klar: „Archäologen auf der Spur der verlorenen Legionen“.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension