Titel
Gustav Heinemann - Wanderer zwischen den Parteien. Eine politische Biographie


Autor(en)
Treffke, Jörg
Erschienen
Paderborn 2009: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Erik Lommatzsch, Leipzig

Nicht den Staat liebe er, er liebe seine Frau; Christus sei nicht gegen Karl Marx gestorben, sondern für uns alle. Der Kommentar zur Politik der Westbindung war ebenso klar: Wenn er nach Dresden, Rostock oder Berlin wolle, steige er nicht in den Zug nach Paris oder Rom. Kaum eine Darstellung, die Gustav Heinemann zum Gegenstand hat, lässt es sich nehmen, seine pointierten Aussprüche wiederzugeben. Dies gilt auch für die vorliegende Arbeit über den „Wanderer zwischen den Parteien“.

Jörg Treffke versteht seine Bonner politikwissenschaftliche Dissertation als eine „politische Biographie oder besser gesagt eine parteipolitische Biographie“ (S. 12) Heinemanns. Entsprechend wird dessen Betätigung in den fünf Parteien, deren Mitglied er im Laufe seines Lebens war, dargestellt und analysiert, während andere Bereiche, in erster Linie wäre hier Heinemanns Wirken in der Evangelischen Kirche zu nennen, im Hintergrund bleiben. Eine derartige Beschränkung ermöglicht es, auf breiter Quellengrundlage ein klares Bild von Heinemanns parteipolitischen Aktivitäten und Ansichten – oder etwas hochtrabender: seiner politischen Philosophie – zu zeichnen.

Heinemanns Familientradition war stark durch die Revolution von 1848/49 geprägt, seinem späteren engagierten Protestantismus ging ein Lebensabschnitt voraus, in dem der kämpferisch-atheistische Monismus sein Weltbild prägte, was wiederum mit dem familiären Hintergrund zu erklären ist. Anfänglich betätigte er sich nahezu radikaldemokratisch in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), zog sich jedoch 1921/22 zurück. Ende der 1920er-Jahre erfolgte die Hinwendung zum evangelischen Glauben, 1930 wurde er Mitglied beim Christlich-Sozialen Volksdienst (CSVD), ohne hier jedoch merklich hervorzutreten.

Nach dem Krieg war er in seiner Heimat Essen intensiv am Aufbau der neu entstehenden CDU beteiligt. 1946 wurde er Oberbürgermeister von Essen, kurzzeitig wirkte er als Justizminister von Nordrhein-Westfalen. Konrad Adenauer holte den prominenten Protestanten 1949 als Innenminister in sein erstes Kabinett. Heinemann trat bereits ein Jahr später zurück, im Streit um Adenauers verteidigungspolitische Vorstellungen. Allerdings spielte dabei wohl auch Adenauers diesbezügliche Vorgehensweise – die direkten Gespräche mit den Westmächten unter Umgehung des Kabinetts – eine erhebliche Rolle. Vor allem die Wiederbewaffnungs- und die Deutschlandpolitik der Adenauer-Regierung vermochte Heinemann immer weniger mitzutragen. Dem seiner Meinung nach zynischen ersten Bundeskanzler gehörten Heinemanns Sympathien nie so richtig – aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. Mehr und mehr entfremdete er sich auch von der CDU, der er die Ausnutzung des Etiketts „christlich“ vorwarf und bei der er immer weniger eine vom christlichen Menschenbild geprägte Politik zu erkennen vermochte. 1952 erfolgte die Gründung der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP), die von Anfang an als „Heinemann-Partei“ wahrgenommen wurde, obwohl die Initiatoren, an erster Stelle wäre der Industrieberater Adolf Scheu zu nennen, Heinemann zunächst von der Notwendigkeit einer solchen Partei überzeugen mussten. Jörg Treffke merkt zu Recht an, dass der Wechsel von der CDU zur GVP der einzige „echte“ Parteiwechsel gewesen sei. Wahlerfolge waren der GVP nicht beschieden und bereits 1957 erfolgte die Auflösung. Im Zuge der sich abzeichnenden programmatischen Neuausrichtung der SPD, welche 1959 im Godesberger Programm gipfelte, gab es eine Empfehlung des GVP-Vorstandes, der SPD beizutreten. Heinemann konnte bei den Sozialdemokraten einen – mit Blick auf seinen bisherigen parteipolitischen Werdegang nicht unbedingt zu erwartenden – Aufstieg vollziehen. 1966 wurde er Justizminister der Großen Koalition. Hier brachte er vor allem die Justizreform auf den Weg. In einer sehr knappen Entscheidung setzte er sich 1969 gegen Gerhard Schröder (CDU) durch und wurde zum dritten Bundespräsidenten gewählt.

Treffke betrachtet jeweils zunächst unabhängig von seinem Protagonisten die zeitentsprechende Programmatik der fünf Parteien, in denen Heinemann Mitglied war, um anschließend seine Motivation und sein Wirken, aber auch die von ihm zwangsläufig zu akzeptierenden Gegebenheiten aufzuzeigen. Der Nachkriegszeit kommt dabei das Hauptgewicht zu. Ebenso berücksichtigt Treffke die Frage nach dem Verhältnis zu anderen Parteien und Heinemanns entsprechende Kritik an diesen. Deutlich wird, dass Heinemann – trotz der zuweilen von ihm, vor allem als SPD-Politiker, zu vernehmenden Mannschaftsrhetorik – zeitlebens ein „politischer Solist“ (so auch die treffende Überschrift des Einleitungskapitels, S. 11) blieb. „Er wollte Politik treiben, nicht Parteipolitik.“ (S. 238) Nicht „so oder so, – sondern : Sowohl als auch!“ (Zitat Heinemann, S. 50) galt ihm als Orientierung, nicht im Sinne von Beliebigkeit, sondern im Sinne eines vermittelnden Ausgleichs der Interessen. Unideologisch, im Wissen um die Fehlbarkeit des Menschen, pazifistischem Gedankengut nahe stehend, vehement und glaubwürdig neutestamentliche Botschaften vertretend, hatte Heinemann politische Vorstellungen, an deren Umsetzung er mitarbeiten wollte; Parteien betrachtete er als Mittel zum Zweck. Sah er seine Vorstellungen nicht mehr durch seine (jeweilige) Partei repräsentiert, zog er sich konsequent zurück.

Dass Heinemann nicht bereit war, um eines Amts oder Mandats willen von seinen Positionen abzuweichen, stellte er mehr als einmal unter Beweis. Andererseits ist im Rückblick eine vielfach gebrochene Karriere, aber letztlich doch ein Aufstieg sichtbar, der Gustav Heinemann schließlich ins höchste Staatsamt der Bundesrepublik führte. Treffke charakterisiert ihn einerseits als unbequemen Präsidenten, vertritt aber andererseits, mit Rückgriff auf Arnulf Baring1, die These, Heinemann hätte im Falle einer zweiten Kandidatur vermutlich sogar mit den Stimmen der CDU rechnen können (S. 206).

Zwei Aspekte, die etwas Schatten auf den ansonsten als christlich-prinzipienfesten, parteienpragmatischen Demokraten dargestellten Heinemann werfen, kommen zur Sprache: Zum einen zeigt Treffke, dass sich zumindest einige GVP-Aktivisten nicht scheuten, dringend benötige finanzielle Unterstützung auch in Ost-Berlin sowie „politische Anleitung“ von der DDR-CDU zu erbitten. Nachgewiesen werden können Zahlungen der (westdeutschen) KPD. Es wird der nahliegende, allerdings nicht eindeutig durch Quellen abzusichernde Schluss gezogen, Heinemann habe davon Kenntnis gehabt und die Dinge wohl auch voran getrieben. Zum anderen übt Treffke Kritik an Heinemanns Verhalten im Dritten Reich. Hier scheint allerdings die Alternative „Widerstandkämpfer oder Opportunist?“ (Kapitelüberschrift, S. 83) ein wenig zu kurz zu greifen. Heinemann beanspruchte für sich keine Widerstandsrolle; ob seine berufliche Position bei den Rheinischen Stahlwerken, seine Mitgliedschaften in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), im Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (BNSDJ) sowie im Reichsluftschutzbund (RLB) – bei gleichzeitiger Distanz zur NSDAP – ausreichen, die Meinung zu vertreten, er habe sich „gegen den Weg politischer Konfrontation … für eine beschränkte Kooperation entschieden“ (S. 75), kann bezweifelt werden. Hier wäre Heinemanns sonstiges Wirken im Dritten Reich, insbesondere in der Bekennenden Kirche, in wesentlich größerem Umfang in die Betrachtung mit einzubeziehen, als es in dieser Studie geschieht.

Insgesamt kann die Arbeit, welche sich selbst den Anspruch gestellt hat, Heinemann im Zusammenhang mit den fünf Parteien, denen er im Laufe seines Lebens angehörte, zu untersuchen, als gelungen bezeichnet werden. Um eine erschöpfende Biographie handelt es sich nicht, aber um einen wichtigen Baustein. Ihren Platz hat die Arbeit von Jörg Treffke über Gustav Heinemann zwischen den sich eher als historische Arbeiten verstehenden, umfassenden politischen Biographien2 und Arbeiten mit deutlich politikwissenschaftlicher Fragestellung3, die sich mit den Bundespräsidenten befassen. Für letzteren Bereich steht das resümierende Kapitel über Heinemanns Politikverständnis, welches sein Menschenbild sowie sein Staats-, Parteien-, Demokratie- und Amtsverständnis auf der Basis des zuvor chronologisch behandelten Weges des Politikers zusammenfasst. Dabei wird auch noch einmal Heinemanns doch sehr klare und kontinuierliche Linie deutlich. Im Unterschied zu vielen anderen Politikern wird das Selbsturteil Heinemanns durch sein Wirken bestätigt. Der Ausspruch, dass er „im Politischen gar keine metaphysische Leidenschaft“ (S. 95) empfinde, ist für sein Denken und Handeln ebenso charakteristisch wie die eingangs aufgegriffenen Stellungnahmen, die für die Persönlichkeit Heinemanns weit mehr als lediglich anekdotischen Aussagewert haben.

Anmerkungen:
1 Arnulf Baring, in Zusammenarbeit mit Manfred Görtemaker, Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Berlin 1998 (zuerst: Stuttgart 1983).
2 Rudolf Morsey, Heinrich Lübke. Eine politische Biographie. Paderborn 1996; Tim Szatkowski, Karl Carstens. Eine politische Biographie, Köln 2007.
3 Vgl. z.B. Daniel Lenski, Von Heuss bis Carstens. Das Amtsverständnis der ersten fünf Bundespräsidenten unter besonderer Berücksichtigung ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen, Leipzig 2009.

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