U. Brunnbauer (Hrsg.): Transnational Societies

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Titel
Transnational Societies, Transterritorial Politics. Migrations in the (Post-)Yugoslav Region, 19th – 21st Century


Herausgeber
Brunnbauer, Ulf
Reihe
Südosteuropäische Arbeiten 141
Erschienen
München 2009: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Augusta Dimou, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig

Obschon Migrationsprozesse die Geschichte Südosteuropas langfristig geprägt und historisch mitgestaltet haben, nimmt die historische Migrationsforschung kaum einen gebührenden Platz in der regionalen Historiographie ein. Mit dieser berechtigten Feststellung und aus der These heraus, Jugoslawien könne gleich einem „echten Labor“ der Untersuchung wichtiger Fragestellungen im Bereich Migrationsstudien dienen (S. 9), leitet Ulf Brunnbauer den vorliegenden Band ein. Bestehend aus dreizehn Aufsätzen mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung und unterschiedlichen Stärken, schlägt er chronologisch einen Bogen, der vom späten neunzehnten Jahrhundert über einen starken Fokus auf die Zwischenkriegszeit und das sozialistische Jugoslawien bis hin zur post-jugoslawischen Zeit reicht. Der gewählte Zugang vereinigt die Fächer Geschichte, Anthropologie, Ethnographie, Soziologie und Geographie und beabsichtigt, den aktuellen Stand der Forschung zu kartieren und die Möglichkeiten von Interdisziplinarität zu erproben. Der Sammelband geht auf die Tagung „(Post)-Yugoslav Migrations. State of Research, New Approaches, Comparative Perspectives“ zurück, welche vom Herausgeber, seines Zeichens Historiker, und der Anthropologin Georgia Kretsi Ende 2006 am Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas organisiert wurde. Der Band ist Georgia Kretsi, die 2009 viel zu früh verstarb, gewidmet.

Im seinem Aufsatz bietet Ulf Brunnbauer einen Einblick in die longue durée der Arbeitsmigration aus dem jugoslawischen Raum und deren Ausgestaltung im Geflecht politischer, demographischer und ökonomischer Beweggründe. Die „Ökonomie“ der Migrationsbewegungen ergab sich aus der komplexen Wechselwirkung makro- und mikroökonomischer Faktoren, und dem kombinierten Effekt von strukturell langfristigen Wirtschaftsschwächen und periodischen, kurzfristigen Krisen im Wirtschaftszyklus. Eine lineare Kausalität zwischen Armut und Migration lehnt Brunnbauer allerdings ab und verweist auf zusätzliche Push-Faktoren, wie die Existenz von Netzwerken und dem Wunsch nach Statusveränderung. Migration entwickelte demzufolge eine selbstgenerierende Triebkraft, welche langlebige Auswanderungsmuster und Reiserouten zur Folge hatte. Die Wirkung auf den Heimatkontext blieb zwiespältig; einerseits brachten neue, im Ausland erworbene kulturelle Verhaltensweisen wie konsumorientiertes Verhalten Veränderungen in den lokalen sozialen Hierarchien, anderseits trug gerade die Verbesserung der materiellen Umstände zur Aufrechterhaltung traditioneller kultureller und sozialer Praktiken bei. Durch verschiedenartige Verfahren, die von Migrationsförderung bis hin zur Auswanderungssperre reichten, schaltete sich der Staat immer wieder ein, um Staatsbildungsprojekte zu vollziehen und den Überschuss, den die Immigranten erwirtschafteten, für die eigene Volkswirtschaft zu nutzen.

Eine traditionell historisch-chronologische Übersicht slowenischer Auswanderung seit dem neunzehnten Jahrhundert bietet Marjan Drnovšek, mit einem Schwerpunkt auf wirtschaftlich und politisch motivierte Migration. Bei gleichzeitiger Erörterung berufsspezifischer Tätigkeiten untersucht Drnovšek innerjugoslawische, überseeische (USA, Südamerika und Ägypten) wie auch innereuropäische Migrationswellen der Slowenen. Einleuchtend herausgearbeitet ist der besondere Effekt, den die multiplen veränderlichen Grenzen mit Österreich und Italien auf die Entwicklung der slowenischen Migration hatten (S. 66-67).

Für eine Perspektivenerweiterung sorgt der Aufsatz von Edvin Pezo, der Instrumente und Strategien des ersten jugoslawischen Staates gegenüber nicht slawischen Muslimen (türkisch- und albanischsprachige Minderheiten) in Südserbien analysiert. Vor der Kulisse eines geplanten, jedoch nicht zustande gekommenen Bevölkerungsaustausches (1938) zwischen Jugoslawien und der Türkei diskutiert Pezo die allmähliche Radikalisierung serbischer Minderheitenpolitik im Zusammenhang mit Nationsbildungsbestrebungen und der zunehmenden Staatskrise der späten 1930er-Jahre. Pezo ergänzt frühere statische Darstellungen des Konfliktes, die nur auf die Auseinandersetzung zwischen Serben und Albanern setzten, durch die Erläuterung des multilateralen Umfeldes (Beziehungen zu den Nachbarländern Albanien und Italien) und der multikontextuellen Hintergründe, die zur Zuspitzung der Nationalitätenfrage im Zwischenkriegsjugoslawien geführt haben. Die sich verändernden Staatsmechanismen standen in enger Korrelation zu den sich verändernden Zyklen des Jugoslawismuskonzeptes. Auf das Scheitern der anfänglichen Assimilationsversuche folgte seit Mitte der 1930er-Jahre eine politisch (durch Manipulation des Staatsbürgerschaftskonzeptes) und sozioökonomisch (durch neue Kolonisierung und Benachteiligung bei der Landumverteilung) diskriminierende Politik, welche aktiv die Aussiedlung der nicht slawischen Muslime anstrebte.

Die staatliche Migrationspolitik im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS, 1918-1928) steht auch im Mittelpunkt des Aufsatzes von Aleksandar Miletić. Diese habe in der Zwischenkriegszeit in direkter Kontinuität zur restriktiven Politik des Ersten Weltkrieges gestanden und die Migration zunehmend unter Regierungskontrolle gebracht. Miletić diskutiert Regulierungssysteme und lokale administrative Traditionen der verschiedenen Territorien vor der Einführung einer verbindlichen Gesetzgebung zur Migration 1921, sowie den Ausbau eines gesamtjugoslawischen Verwaltungsapparats danach. Sein Fazit stimmt großteils mit den Schlussfolgerungen Pezos überein: Die jugoslawische Minderheitenpolitik habe eine „versteckte politische Agenda“ verfolgt, welche die Auswanderung der nicht slawischen Minderheiten ermutigen sollte (S. 108). Obwohl Deutsche, Ungarn, Mazedonier/Bulgarophile und Muslime 7-8% der Gesamtbevölkerung ausmachten, hätten sie 50 % der Auswanderer aus dem Königreich gestellt.

Den diplomatischen, politischen und ökonomischen Hintergründen der Einwanderung jugoslawischer Gastarbeiter in die BRD Ende der 1960er-Jahre ist der Beitrag von Karolina Novinšćak gewidmet. Dem deutsch-jugoslawischen Abkommen von 1968 hatten ursprünglich eine Reihe wichtiger Hindernisse wie die Hallstein-Doktrin, die jugoslawischen Reparationsansprüche sowie auch die erfolgte Anerkennung der DDR seitens des sozialistischen Jugoslawiens im Wege gestanden. Das pragmatische Rapprochement, welches den staatlich organisierten Rekrutierungsprozess von Arbeitsmigranten zur Folge hatte, kam als kombiniertes Ergebnis von Brandts Ostpolitik und Titos neuer Westorientierung zur Stande. Um den ideologisch prekären Umstand zu überbrücken, dass ein sozialistisches Land seine Arbeitskräfte in den kapitalistischen Westen schickte, schmiedete man eine neue Sozialismusinterpretation, die den temporären Charakter dieser Migration unterstrich.

Innovativ, in Theoriefragen informiert und reflektiert ist Francesco Ragazzis Diskussion der kroatischen Diaspora. Diaspora sei keine a-priori-Kategorie, sondern ein Machtwort der Politik, eine linguistische und politische Konstruktion, die je nach Bedarf bestimmte Ziele verfolge (S. 167). In einer zunehmend transnationalen Welt erweise sich der Diaspora-Diskurs als eines der möglichen rhetorischen Instrumente in der Verfügungsgewalt der Regierungen, um die Grenzen der Nation und die Grenzen von Souveränität umzudefinieren. In einer longue-durée-Perspektive (von ca. 1870 bis in die 1990er-Jahre) untersucht Ragazzi „Praktiken der Diaspora“, das heißt soziale Praktiken, welche vorgeblich im Namen der Diaspora stattfinden. Dazu gehören Genealogien von Hegemonialpraktiken, deren diskursiven Konstruktionen, wie auch die Analyse monopolisierender staatsinterner und symbolischer Gewalt.

Eine Übersicht über die Migrationsforschung in Kroatien in den letzten fünf Jahrzehnten bietet die Analyse von Dubravka Mlinarić. Die 1990er-Jahre seien durch die langsame Konvergenz zweier im sozialistischen Jugoslawien vorherrschender analytischer Ansätze zur Migration gekennzeichnet gewesen: der eher deskriptiven und folkloristisch orientierten Diaspora-Studien und der soziologisch ausgerichteten Studien, welche sich dem sozioökonomischen Kontext und der psychologischen und linguistischen Dimension der Migration widmeten. Hinzu kam die zunehmende Beschäftigung mit Flüchtlingen und Vertriebenen.

Mirjam Milharčič Hladnik analysiert die Korrespondenz der Mitglieder einer slowenischen Migrantenfamilie im Dreieck zwischen den USA, Argentinien und Slowenien. Hladnik diskutiert anhand des Spezifikums der Quellengattung Brief die Herausbildung der subjektiven Migrantenerfahrung und unterstreicht den situativen Charakter der Kommunikation. Auf der Basis von Oral-History-Interviews behandelt sie im zweiten Teil ihres Beitrages die Erfahrungen slowenischer Migrantinnen im Schnittpunkt der Kategorien Generation und Gender, wobei sie deren veränderbare Einschätzungen und individualisierte Aushandlungsprozesse zwischen Tradition und neuer Umgebung hervorhebt.

Die Macht des Imaginären und die symbolische Aussagekraft von Architektur in der Konstruktion von Homeland stehen im Mittelpunkt des Aufsatzes von Robert Pichler. Anhand des Konstruktionsbooms im albanisch bewohnten Dorf von Velešta/Veleshtë in Mazedonien analysiert er die historischen Hintergründe und die soziale Dynamik der gegenwärtigen interethnischen Beziehungen zwischen Albanern und Mazedoniern. Aufgrund einer spezifischen, ethnisch konnotierten Arbeitsteilung zu sozialistischen Zeiten hätten die zwei Gruppen unterschiedliche Einstellungen gegenüber den Institutionen und der symbolischen Repräsentation des Staates entwickelt. Die gegenwärtige albanische Investition mittels Migranteneinkommen in infrastrukturelle Verbesserungen strebe Visibilität nach außen an und sei an die Idee politischer Emanzipation gekoppelt. Gleichzeitig solle ein imaginäres und idealisiertes Bild von Lokalität und Familie innerhalb der albanischen Gemeinschaft vermittelt werden.

Kann Tod in der Diaspora zum Markierungspunkt kollektiver ethnischer Identität werden? Aleksandra Pavićević nimmt serbische Friedhöfe und Grabsteine unter die Lupe, um das soziale „Leben“ der Toten bzw. den ritualistischen Umgang und die semantische Bedeutung vom individuellen Tod für die Migrationsgemeinschaft und die Gemeinde der Hinterbliebenen in der Heimat zu rekonstruieren.

Die Vorzüge empirischer Forschung für das Herausarbeiten analytischer Konzepte und Begriffe stellt der anregende und theoretisch ausgefeilte Beitrag von Janine Dahinden unter Beweis. In ihrer Analyse verweist sie auf „mangelnde Transnationalität“ (Missing Transnationalism) (S. 257) und dies genau dort, wo man Transnationalität am ehesten erwarten würde: bei serbischen und albanischen Migrationsgemeinden in der Schweiz. Entgegen der gängigen Annahme, dass diasporisches Sozialkapital transnationale soziale Räume schaffe, demonstriert Dahinden, wie instabil und fragmentiert transnationale Räume bei albanischen und serbischen Einwanderer waren, sowohl ihren Herkunftsländern als auch ihrem Gastland gegenüber. Ursachen dafür werden mit vielerlei Machtbeziehungen und strukturellen Merkmalen sowohl der Schweizer (zum Beispiel in den Kategorisierungsmechanismen von Migranten) als auch der früheren jugoslawischen Gesellschaft erklärt.

Die Lebensgeschichten fünf kroatischer Einwandererfamilien in Deutschland analysiert Jasna Čapo Žmegač. Multiple Faktoren wie makro-strukturelle Politik, die individuelle Migrationsbiographie, Rückkehrpläne oder eine bestimmte Phase in der Familienplanung hätten deren jeweiligen Entscheidungsprozesse beeinflusst. Bilokalität und transnationale Familienorganisation seien diachronische Merkmale der Familienkonfiguration und der Lebensart von Migrantenfamilien geblieben. Durch „Multiplacement“ hätten sich Migranten verschiedene Optionen für ein besseres und sicheres Leben offen gehalten. Vom Nutzen der Netzwerktheorie und -analyse bei der Untersuchung vom Migrantenfamilien berichtet der Aufsatz von Pascal Goeke.

Die Tatsache, dass dem Band aufs Ganze gesehen eine wirkliche inhaltliche Klammer und auch eine verbindlichen Fragestellung fehlen, erklärt sich aus der experimentellen Konzeptualisierung des Vorhabens. Es ist zudem festzustellen, dass mit der Verlagerung des Schwerpunktes auf die staatenübergreifende, zwischenräumliche Bewegung sozialer Subjekte zwar Transnationalität und Transterritorialität verkündet wird, dieses Vorgehen allerdings den Preis hat, dass dadurch nationale Identitäten großteils wieder reifiziert werden. Kroaten, Slowenen, Albaner, Muslime, Serben usw. werden oft als kompakte und bekannte Größen behandelt. Somit wird leider ungewollt ein wichtiges Anliegen der frühen kritischen Nationalismusforschung neutralisiert: die Konstruierbarkeit und Veränderbarkeit nationaler Identitäten. Obwohl die Subjektivität der Migrationserfahrung in verschiedenen Beiträgen ansatzweise zur Sprache kommt, vermisst man aber die Analyse der Aushandlungsprozesse zwischen sozialen und kulturellen Identitäten, wie auch angemessene einleitende methodologische Überlegungen dazu.

Vor allem für die Zwischenkriegszeit fehlt eine Anknüpfung an den größeren historischen Kontext und den synchronen internationalen Zeithorizont. Technokratisierung und Bürokratisierung staatlicher Politik, die Ausweitung der Überwachungsmechanismen gegenüber Aus- und Einwanderern sowie das „Management“ des Sozialen stellten in dieser Periode ein allgemeines zeitgenössisches Phänomen dar. Ähnliches gilt für die Beschäftigung mit dem „nationalen Körper“, die Verfeinerung der Technologien von Gouvernabilität, die „Sorge“ um die sozialen Reproduktionsmechanismen und ganz allgemein die stärkere Anknüpfung staatlicher Politik an soziale Fragen. Gerade hinsichtlich des letzten Punktes wäre ein historisches Framing unter der analytischen Prämisse von Transnationalität gewinnbringend gewesen. Wie viel spezifisch Jugoslawisches lässt sich erkennen? Welche besondere Ausprägung bekommt Gouvernabilität im Falle Jugoslawiens und welches sind hier die brisanten Fragen? Jugoslawien war weder eine einsame Insel noch ein Pionier der Biopolitik, sondern nahm an diesen europäischen und internationalen Prozessen teil.

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