S. Schmidt: Frankreichs Außenpolitik in der Julikrise 1914

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Titel
Frankreichs Außenpolitik in der Julikrise 1914. Ein Beitrag zur Geschichte des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges


Autor(en)
Schmidt, Stefan
Reihe
Pariser Historische Studien 90
Erschienen
München 2009: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
434 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Krumeich, Historisches Seminar II, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Der Erste Weltkrieg ist und bleibt wohl noch lange historiographisch aktuell. Insbesondere mentalitäts- und kulturgeschichtliche Darstellungen haben sich in den letzten Jahren in fast unüberschaubarer Menge angehäuft, über die Methoden zur Erforschung des „Kriegserlebnisses“ oder zur Relevanz von Soldatenbriefen wird teilweise heftig gestritten.

Im Vergleich mit der Geschichte des Weltkriegs selber ist jedoch die Geschichte der Vorkriegszeit und – vor allem – des Entscheidungshandelns in der Juli-Krise von 1914 stark zurückgetreten. Wir bewegen uns im Grunde auf dem Forschungsstand der 1970er-Jahre, sieht man von einigen wenigen Arbeiten wie denen David Stevensons oder dem ersten Band von Hew Strachans weithin wohl definitiver politisch-militärischer Gesamtgeschichte des Ersten Weltkriegs ab.

Was Frankreich angeht, ist der Forschungsbedarf besonders groß. Hier ist die politische Geschichte der Vorkriegszeit gänzlich aus der Mode gekommen. Schon in der monumentalen Studie von Jean-Jacques Becker1 trat die politische Entscheidung hinter die Untersuchung der Reaktionen der öffentlichen Meinung und die Entwicklung der „Vorkriegsmentalität“ zurück. Seit Jean-Claude Allains Arbeit über die Agadir-Krise2 (1975) folgte nichts mehr im Hinblick auf die französische Regierungspolitik und Diplomatie in der unmittelbaren Vorkriegszeit, mit Ausnahme meiner eigenen Arbeit über „Aufrüstung und Innenpolitik in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg“3, die ich hier nenne, weil Stefan Schmidt sich mit diesem Buch extensiv und intensiv als „Stand der Forschung“ auseinandersetzt.

Insgesamt hat Schmidt also zweifellos Recht mit seiner anfänglichen – von Herbert Langdon übernommenen – Feststellung, dass Frankreich in der Historiographie der „forgotten belligerant of July 1914“ gewesen ist.

Es sei gleich gesagt, dass der Forschungsertrag dieser Arbeit wirklich erheblich ist. Das liegt zum Einen an der ungeheuren Fülle des verarbeiteten Archivmaterials. Stefan Schmidt hat, wenn ich dies richtig sehe, die für Außen- und Militärpolitik relevanten französischen und englischen Archive in toto gesichtet. Zum Anderen ist die Masse der Forschungsliteratur zur Julikrise 1914 insgesamt durchgearbeitet worden, wie der sehr informative und kluge Abschnitt „Forschungsstand und Fragestellungen“ (S. 14-34) zeigt.

Bemerkenswert ist auch, dass sich die Analyse der französischen Außenpolitik vor 1914 in dieser Arbeit quasi nahtlos verzahnt mit der weitreichenden Untersuchung der strategischen Planung Frankreichs, also mit dem problematischen Verhältnis von „Staatskunst und Kriegshandwerk“.

Weniger glücklich erscheint mir zunächst, dass die innenpolitische Dimension einer Außenpolitik im demokratischen Staatswesen kategorisch zurückgewiesen und in der Untersuchung komplett ausgeschlossen wird. Über eventuelle „restriktive Bedingungen“ der Außenpolitik (man hat in postmoderner Zeit diesen Ansatz der vergleichenden Politikwissenschaft der 1960er-Jahre zu sehr vergessen) wird nicht reflektiert.

Noch störender aber als diese systematischen Fehlstellen ist, dass eine Reihe zentral wichtiger Passagen doch eher Insinuation als klare wissenschaftliche Argumentation beinhalten. Ein Beispiel aus einem Zusammenhang, in dem Stefan Schmidt die von Fritz Fischer angestoßene Problematik diskutiert, dass Deutschland eventuell 1914 einen lang vorbereiteten Hegemonialkrieg geführt habe: „Eine Analyse der französischen Außenpolitik – sollte sie auch zu der Erkenntnis führen, dass Frankreich im Juli 1914 eine sich günstig ausnehmende Gelegenheit ergriff, um eine hegemoniale (sic!) Stellung auf dem europäischen Kontinent zu erringen, – ist sicherlich nicht dazu angetan, Fragen von vergleichbarer Brisanz aufzuwerfen“ (S. 10). Ich glaube, dass spätestens bei dieser sowohl syntaktischen als auch inhaltlichen Zumutung die Redaktion der „Pariser Historischen Studien“ helfend hätte eingreifen sollen.

Der Sachteil der Arbeit beginnt S. 55 mit einem längeren Kapitel über das außenpolitische Kalkül der „Mittelmächte“ Österreich-Ungarn und Deutschland. Es ist natürlich nicht ohne Bedeutung, dass Schmidt seine Darlegungen über Frankreichs Politik mit einem solchen Abschnitt über Deutschland beginnt. Die Dynamik der deutschen Politik wird aber leider nur recht schwach beleuchtet. Grund für die deutsche Risikopolitik sei gewesen, dass sich die außenpolitische Gesamtsituation des Deutschen Reiches enorm verschlechtert habe. Und als Grund hierfür „muss wohl an erster Stelle die russische Machtentfaltung genannt werden“ (S. 56). Die „Einkreisungssorgen“, so Schmidt weiter (S. 61) waren also nicht herbeigeredet sondern echt; und beifällig kommentiert er das Kalkül Bethmann Hollwegs, durch einen „auf den Balkan zu lokalisierenden Krieg gegen Serbien“ Österreich-Ungarn wieder zu stärken und damit Russland zu schwächen.

Ab S. 65 wird die französische Reaktion auf diese Hasard-Politik Deutschlands und Österreich-Ungarns beleuchtet, was uns endlich mitten in das Thema der Arbeit bringt. Die quellennahen und zum Teil innovativen Überlegungen Schmidts bezüglich der Einschätzung der Lage durch die französische und russische Regierung zeigen deutlich, wie stark deren Krisenwahrnehmung tatsächlich von diesem Hasard der Deutschen geprägt war. So hat Stefan Schmidt unbedingt Recht, gegen John Keiger und andere zu betonen, dass Poincaré auf seinem Staatsbesuch in Russland ganz eindeutig von einem Kriegswillen der Deutschen ausging und sich dementsprechend bemühte, dem Zaren die absolute Bereitschaft Frankreichs zur gemeinsamen – auch militärischen – Meisterung der Krise zu versichern. Schmidt betont sehr zutreffend, dass Poincaré mit seiner „Politik der Festigkeit“ nicht den Krieg provozieren wollte, er habe aber ganz bewusst „ein sehr hohes Risiko in Kauf“ genommen (S. 97).

Allerdings halte ich die weiter gehende und sehr scharfe These – sicherlich die Hauptthese des Buches – für schwer nachvollziehbar, nämlich die Behauptung, dass Russland sich nicht zu einer Unterstützung Serbiens entschlossen hätte, „hätte Frankreich ihm nicht zuvor im Zuge einer Politik der fermeté seinen militärischen Beistand zugesichert.“ (S. 102) Solche Behauptung, die wie eine direkte Fortsetzung der deutschen Kriegsunschuld-Apologetik klingt, erfordert sicherlich stärkere Quellen als die hier präsentierten. Und zudem: der Platz, den die deutsche Drohung für die „Entschlossenheit“ Frankreichs zum russischen Bündnis gehabt hat, geht bei solchen generalisierenden Behauptungen schlicht verloren.

Schmidt wendet sich nach diesem nur bedingt überzeugenden ersten Teil über die Bündnispolitik in einem sehr ausführlichen zweiten Hauptteil der „Motivlage“ der französischen Politik zu, Zunächst stellt er auf mehr als 100 Seiten (S. 105-211) das Verhältnis von französischer Außenpolitik und militärischer Planung dar. Wie schon im ersten Teil ist auch der sachkundige Leser immer wieder stark beeindruckt von der Fülle der hier geleisteten Quellenforschung. Ich kenne keine zweite Arbeit, auch nicht auf französischer Seite, die sich so quellennah mit der Geschichte des berühmt-berüchtigten Aufmarschplans „XVII“ befasst hätte, wie diese Dissertation. Selbst die bislang wohl bedeutendste Arbeit, nämlich Snyder, The Ideology of the Offensive, dürfte damit „überholt“ worden sein. Am wichtigsten ist, dass die aus dem französischen Militärarchiv extrahierten Informationen über die Genesis und Entwicklung des Aufmarschplans stets begleitet werden von einer Analyse der Bedeutung, welche diese militärischen Pläne für die Außenpolitik Frankreichs hatten, insbesondere gegenüber Großbritannien und Italien. Besonders Italien ist, wie gezeigt wird, für die französische militärisch-außenpolitische Planung von großer Bedeutung gewesen. Die einzelnen Forschungsergebnisse sind auch hier wieder wirklich weiterführend. Es wird vor allem klar, dass um 1913 die zu erwartende italienische Neutralität im Fall eines Krieges mit Deutschland in militärischer Hinsicht für Frankreich sehr beruhigend war, weil somit Frankreichs Streitkräfte doch ganz überwiegend an der Grenze zu Deutschland positioniert werden konnten. Aber die Conclusio ist – wieder einmal – ebenso schneidig wie schief: „Die Bedeutung des Abkommens bestand nach Auffassung Poincarés nicht mehr primär in der Bewahrung des Friedens, sondern in der Vorbereitung des militärischen Triumphes.“ (S. 123) Das ist exakt die Sprache der uralten deutschen Kriegsunschuld-Apologetik und ein solches Urteil ist angesichts der eigenen Quellenforschung unverständig, unvertretbar, ja skandalös.

Insgesamt war vorher bekannt, ist aber von Schmidt in vielen hochinteressanten Details noch präziser dargestellt worden, dass in der Vorkriegszeit wegen der wachsenden „Blockbildung“ und dem gegenseitigen Misstrauen die Außenpolitik dazu tendierte, sich den militärischen Erfordernissen unterzuordnen. Das gilt, mit Ausnahme Großbritanniens, für alle Großmächte. Warum aber dann die ebenso großspurige wie verwaschene Schlussfolgerung: „Letztlich machten es die strategischen Planungen Frankreichs den Entscheidungsträgern unmöglich, mit der wahrhaft großmächtlichen Geste souveräner Gelassenheit auf Machtschwankungen im internationalen System zu reagieren, gleichgültig , ob diese Schwankungen aus einer zusätzlichen Rüstung oder aber aus einer partiellen Neuausrichtung des außenpolitischen Konfiguration des Systems resultierten.“ (S. 154) Was will uns solch ein sprachliches Ungetüm denn lehren? Es bleibt im Grunde nichts als die haltlose Behauptung, dass insbesondere Frankreich seine Außenpolitik überflüssig stark – und aggressiv – militarisiert habe.

Aber es kommt noch schlimmer. Wenig später lesen wir, dass durch die französischen Forderungen an Russland, seine Rüstungen zu verstärken (insbesondere durch den Ausbau seines strategisch wichtigen Schienennetzes), eine „Entgrenzung“ der strategischen Möglichkeiten Russlands entstanden sei. Und diese „Machtentfaltung“ Russlands habe bis zum Juli 1914 „die außenpolitische Gesamtsituation des Deutschen Reiches in einem Maße verschlechtert, dass letztlich auch seine [Deutschlands] politische Leitung keine andere Möglichkeit mehr sah, als diese notfalls in Rekurs auf militärische Mittel zu korrigieren.“ (S. 193)

Frankreich habe auf diese Weise mit allen Mitteln “die Entfaltung der russischen Macht“ gefördert, anstelle „etwa durch Konzessionen auf dem Rüstungssektor oder durch eine Kooperation über bestehende Allianzen hinweg, die Lage des Deutschen Reiches erträglich zu gestalten“ (S. 244f.). Ja, wenn alle Mächte sich dieses klugen Ratschlags zur De-Eskalation befleißigt hätten, also zum Beispiel auch das Deutsche Reich, dann wäre sicherlich der gesamte Erste Weltkrieg vermieden worden.

Es ist jammerschade, dass die immer wieder grundsolide und weiterführende Forschung geradezu zerstört wird durch die Einseitigkeit dieser permanenten politisch-historischen Beurteilerei.

Anmerkungen:
1 Jean-Jacques Becker, 1914. Comment les Français sont entrés dans la guerre. Contribution à l’étude de l’opinion publique printemps-été 1914, Paris 1977.
2 Jean-Claude Allain, Agadir 1911. Une crise impérialiste en Europe pour la conquête du Maroc, Paris 1975.
3 Gerd Krumeich, Aufrüstung und Innenpolitik in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg. Die Einführung der dreijährigen Dienstpflicht 1913-1914, Stuttgart 1980.

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