K. Tenfelde (Hrsg.): Religiöse Sozialisationen im 20. Jahrhundert

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Titel
Religiöse Sozialisationen im 20. Jahrhundert. Historische und vergleichende Perspektiven


Herausgeber
Tenfelde, Klaus
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe A: Darstellungen 43
Erschienen
Anzahl Seiten
267 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Voßkamp, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Eine Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Bedeutung religiös geprägter Erziehung in Familie und außerfamilialen Instanzen findet zur Zeit oft nur mit dem Blick auf die „Anderen“ statt, die muslimischen Mitglieder der Gesellschaft; diese Auseinandersetzung erschöpft sich vielfach in überspitzten Polemiken. Die historische Dimension religiöser Sozialisation bleibt dabei auch im christlichen Kontext und seitens der historischen und soziologischen Disziplinen unterbelichtet. Der vorliegende Band begegnet diesem Defizit mit einer Vielfalt von Beiträgen.

Der Plural „Religiöse Sozialisationen“ im Titel des Sammelbandes, dessen Aufsätze überwiegend das Ergebnis eines 2007 an der Ruhr-Universität Bochum abgehaltenen interdisziplinären Symposiums sind, verweist bereits auf die Breite des Themenfeldes. Die Beiträge aus kirchengeschichtlichen, profanhistorischen und sozialwissenschaftlichen Perspektiven sind in drei Kapitel gegliedert – „Instanzen der religiösen Sozialisation“, „Schichtspezifische Sozialisation des Religiösen“ sowie „Religiöse Sozialisationen im [westeuropäischen] Vergleich“. Dabei ergeben sich teilweise thematische Überschneidungen.

Den Rahmen für diese drei Thementeile bildet Klaus Tenfeldes einführender Beitrag „Sozialgeschichte und religiöse Sozialisation“, in dem das Desiderat einer historischen Sozialisationsforschung (jenseits der Disziplinen Psychologie, Pädagogik und Sozialwissenschaften) betont wird. Allenfalls implizit sieht Tenfelde Sozialisation in der neueren Forschung über „Historische Generationen“ berücksichtigt, wobei er die Aussagekraft des Generationenkonzeptes als begrenzt bewertet, wenn es zu generalisierend auf „Sozialisationskohorten“ abhebe (S. 11). Dagegen sollten religiöse Sozialisationen als Fundamente überindividueller Gedächtnisketten untersucht werden; ihr Wandel sei ein möglicher Erklärungsfaktor für Transformationen von Religion. Solche Transformationen könnten als „Selbstmodernisierung der Religion“ (S. 22) parallel zu Säkularisierungsprozessen verlaufen, wobei den ‚langen 1960er-Jahren’ als Phase der Koinzidenz und Konvergenz verschiedener Entwicklungen zentrale Bedeutung zukomme.

Im ersten Teil des Bandes skizziert Christoph Kösters zunächst in einem Forschungsüberblick die unterschiedlichen Deutungsangebote zur Geschichte des Vereins- und Organisationskatholizismus. Vor allem zur Frage nach dem Zusammenhang zwischen demokratischen Bewegungen und Vereinskatholizismus im 19. und 20. Jahrhundert treten antithetische Deutungen zutage: Kirchlichen Organisationen werden entweder wichtige politische und stabilisierende Funktionen zugeschrieben (insbesondere für das Gelingen der westdeutschen Nachkriegsordnung); oder der allmähliche Bedeutungsverlust der kirchlichen, lange Zeit auch politisch wirksamen Milieus wird ausdrücklich begrüßt. Zur Frage nach Erosion und/oder Transformation in den 1960er-Jahren spitzt Kösters die bisherigen Forschungen auf drei Aspekte zu (S. 41ff.): die „Verkirchlichungs-These“ Heinz Hürtens und Karl Forsters, die eine zunehmende Anbindung selbstständiger katholischer Laienorganisationen an die kirchliche Hierarchie und damit zusammenhängende Änderungen ihrer Arbeit hervorhebt; die „Säkularisierungs-These“, die einen massiven Einbruch Ende der 1960er-Jahre konstatiert; sowie die „Transformations-These“, welche die Um- und Neugründungen Anfang der 1970er-Jahre in den Vordergrund stellt. Als Ausblick schlägt Kösters vor, einzelne Verbandsgeschichten von den 1950er-Jahren bis in die 1980er-Jahre zu untersuchen, um Transformations- und Pluralisierungsprozesse adäquater erfassen zu können. Erste Hinweise dazu liefert der Beitrag von Mark Edward Ruff zur katholischen Jugendarbeit im Erzbistum Köln bis 1965. Diese Begrenzung des Untersuchungszeitraumes erklärt sich daraus, dass Ruff die wesentliche Zäsur für die Mitgliedererosion in der Jugendarbeit nicht um 1968, sondern bereits in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre ansetzt. Wesentlich dafür seien unter anderem die „Entzauberung“ der Autoritätsstrukturen (S. 72) und das veränderte Verhalten des Individuums gegenüber (kirchlichen) Autoritäten gewesen, was zu einem signifikanten Mitgliederschwund in der Jugendarbeit alten Typs geführt habe.

Ewald Frie untersucht mit der Geschichte der weiblichen Kongregationen ein wichtiges und bislang vernachlässigtes Feld, in dem sich Katholizismus- und Wohlfahrtsgeschichte treffen. Den Umbruch in der Ordensgeschichte sieht er wiederum in den ‚langen 1960er-Jahren’. Der infolge des II. Vatikanums (1962–1965) einsetzende Erneuerungsprozess in den Orden habe die Selbstbilder älterer und jüngerer Schwesterngenerationen auseinanderklaffen lassen und habe zu vielfältigen Konflikten hinsichtlich des Habitus und der beruflichen Aufgaben geführt. Für Frauen, die einen helfenden oder pädagogischen Beruf anstrebten, war zudem die Mitgliedschaft in einem Orden nicht mehr obligatorisch.

Im Beitrag von Dimitrij Owetschkin steht mit dem Konfirmandenunterricht eine zentrale evangelische Sozialisationsinstanz im Fokus. Reformen der 1960er- und 1970er-Jahre (etwa die aktivere Rolle der Konfirmanden und der Wandel bei der Selbstbeschreibung der Pfarrer vom Lehrer zum Gesprächspartner) wurden und werden in Umfragen positiv bewertet, konnten langfristig die erhoffte Kirchenbindung aber nicht sicherstellen. Tabea Sporer kommt in ihrem sozialwissenschaftlichen Beitrag zur „religiösen Sozialisation in Thüringer Familien am Übergang ins 21. Jahrhundert“ nur zu bedingten Vorhersagen über Tradierungen von Familienreligiosität, stellt ihren Überlegungen aber ein vielsagendes Zitat einer befragten Mutter voran: „Ich lasse mein Kind seine eigene Meinung zu Kirche und Glauben bilden, das finde ich wichtig, ich sage ihm nur immer ganz genau, was da richtig ist und was nicht“ (S. 109).

Im zweiten Teil erhellen drei Beiträge schichtspezifische Dimensionen. Michael Fellner betrachtet Stadt- und Landunterschiede katholischer Jugend unter dem Aspekt der Mobilitätsunterschiede und nimmt die steigende Zahl ländlicher Pendler seit den 1950er-Jahren in den Blick. Auf die als Bedrohung empfundenen Einflüsse urbanen Lebens suchte unter anderem die Landjugendbewegung Antworten zu finden, was Fellner für die Erzdiözese München-Freising beschreibt. Julia Riediger arbeitet in ihrer Betrachtung von Sozialisationen in der Arbeiterschaft vor allem den Pragmatismus als spezifisch für die Arbeiterreligiosität heraus. Ihr Ausgangspunkt sind Erhebungen zur Religiosität in Familien der Industriearbeiterschaft aus den 1950er- bis 1970er-Jahren. Riediger hält fest, dass neben der Schichtzugehörigkeit ebenso Geschlecht und Umfeld für religiöse Sozialisationen bedeutsam seien. Der Beitrag von Friederike Benthaus-Apel schließt hier inhaltlich mit einer Untersuchung der „neuen Mittelschicht“ und Formen alternativer Religiosität seit den 1970er-Jahren anhand verschiedener Repräsentativstudien an. Die Autorin kann ihre Eingangsthese bestätigen, dass Angehörige der neuen Mittelschicht überproportional an alternativen Religiositätsformen interessiert seien, selbst wenn es sich nur um ein Minderheitenphänomen handle. Da allerdings die Zugehörigkeit zu religiösen Organisationsformen seit den 1970er-Jahren zunehmend informell organisierten Netzwerken weicht, sind quantitative Aussagen schwer zu treffen.

Der dritte Teil des Bandes ist dem Vergleich mehrerer westeuropäischer Länder gewidmet. So begrüßenswert diese Perspektive auch ist, gerät hier die interessante Phase der 1960er- und 1970er-Jahre zum Teil leider aus dem Fokus. So beleuchtet Till Kössler den spanischen Bürgerkrieg und den frühen Franquismus (1936–1950) sowie deren Konsequenzen für die katholische Sozialisation zwischen „Reformeuphorie und Verfolgungstrauma“ (S. 195). Bert Roebben und Kim de Wildt beschreiben die religiöse Sozialisation und die Entwicklung des Religionsunterrichtes in den Niederlanden vor dem historischen Hintergrund der „Verzuiling“ zwischen 1870 bis 1960. Die als „Versäulung“ bezeichnete strenge Partikularisierung der niederländischen Gesellschaft in konfessionelle Teilgesellschaften erodierte ab den 1950er-Jahren und führte sukzessive zu einer größeren Individualisierung von Religiosität. Die Autoren skizzieren diesen Prozess insbesondere hinsichtlich der Auswirkungen auf den Religionsunterricht und konstatieren für die gegenwärtige Gesellschaft trotz der nachlassenden allgemeinen Kirchenbindung in Schule und Erziehungswesen eine Tendenz zu mehr Religiosität und Spiritualität sowie eine Zunahme konfessionell ausgerichteter Schulen. Daneben werden neue Gräben zwischen atheistischen, muslimischen und christlichen Bevölkerungsgruppen beobachtet.

Margrete Søvik konzentriert sich vor allem auf die 1980er-Jahre in der Bundesrepublik und hier auf die Anstrengungen muslimischer Organisationen für einen islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Besonders vor dem aktuellen Hintergrund der größtenteils polemischen Debatten über die angeblich gescheiterte bzw. nie stattgefundene Integration von Muslimen und einem angeblich monolithischen, mit westlicher Demokratie inkompatiblen Charakter des Islams sind die Einschätzungen und Debatten aus den 1980er-Jahren aufschlussreich. In ihrem Fazit betont Søvik, dass die zukünftige Entwicklung reformerischer Kräfte eines als europäisch verstandenen Islams nicht zuletzt von der Haltung der europäischen Mehrheitsgesellschaften abhänge. Den Abschluss des Bandes bildet Hugh McLeods Analyse religiöser Sozialisation im Großbritannien der Nachkriegszeit. Hier schließt sich der Kreis zu den Beiträgen der ersten beiden Teile, da wiederum die 1960er- und 1970er-Jahre als Phase von „dramatic religious change“ (S. 249) als Reaktion auf politischen und sozialen Wandel im Mittelpunkt stehen.

Abgesehen von wenigen, bei einem Sammelband kaum zu vermeidenden Disparitäten führt das Buch in wesentliche Themenbereiche und Forschungskontexte einer sozialhistorischen Analyse religiöser Sozialisationen im 20. Jahrhundert ein. Es ist zu wünschen, dass dies weitere Fallstudien und theoretische Reflexionen anregen wird.

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