L. O'Sullivan: The regime of Demetrius of Phalerum in Athens

Cover
Titel
The Regime of Demetrius of Phalerum in Athens, 317-307 BCE. A Philosopher in Politics


Autor(en)
O'Sullivan, Lara
Reihe
Mnemosyne Supplements 318
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 344 S.
Preis
€ 124,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Dreßler, Excellence Cluster Topoi, Humboldt-Universität zu Berlin

Athen war lange Zeit ein Hort des Widerstands gegen die sich etablierende makedonische Hegemonie. Dies änderte jedoch langfristig nichts daran, dass die Abhängigkeit vom neuen Hegemon zu einer Tatsache wurde, mit der sich auch die frühere Großmacht zu arrangieren hatte. Dass sich diese nicht nur im Bereich der Außenpolitik, sondern auch im politischen Leben der Stadt auswirkte, zeigte sich besonders deutlich unter den Nachfolgern Alexanders, den Diadochen. Hatten sich Philipp und Alexander noch weitgehend mit der militärischen Gefolgschaft Athens begnügt, diktierte Antipater der Stadt nach dem verlorenen Lamischen Krieg ein oligarchisches Regime: Das Bürgerrecht wurde an einen Zensus gebunden, die Exponenten der Demokratie mussten fliehen oder wurden beseitigt und über die ‚Treue‘ Athens wachte eine Garnison im Piräus. Der Tod Antipaters 319 v.Chr. brachte zwar auch das Ende des vom athenischen Strategen Phokion geführten Regimes, und dieser sowie einige Gefolgsleute wurden wegen der Auflösung der Demokratie zum Tode verurteilt. Dass dies jedoch nicht die Rückkehr zu Freiheit und Autonomia bedeutete, zeigte sich schnell: Der neue Hegemon hieß Kassander und als seinen ‚Gewährsmann‘ (epimeletes) in Athen setzte er Demetrios von Phaleron ein. Mit dessen zehnjähriger Herrschaft (317–307 v.Chr.) beschäftigt sich Lara O’Sullivans aus ihrer Dissertation hervorgegangenes Buch.

Der bisherigen Forschung attestiert die australische Althistorikerin, dass sie Demetrios’ Zeit als Epimeletes zumeist im Lichte eines Schemas interpretiert habe, das zwar schon auf zeitgenössische Kritiker zurückgehe, von den Quellen aber nur bedingt getragen werde: Es sei „a common assumption that Demetrius’ regime was staunchly anti-democratic and very much a product of the hostility to democracy expressed by some of Athens most noted thinkers“, also des Peripatos (S. 5). O’Sullivan hat es sich demgegenüber zur Aufgabe gemacht, die Quellen neu zu lesen und das gängige Bild einer grundlegenden Revision zu unterziehen (S. 5–8).

Das erste Kapitel des Buches (S. 9–44) behandelt die Vorgeschichte von der Etablierung der makedonischen Hegemonie in Griechenland bis zur Einsetzung von Demetrios als Kassanders ‚Bevollmächtigter‘ (epimeletes) in Athen. Das zweite Kapitel („The Moral Programme“, S. 45–103) beschäftigt sich mit der Sittengesetzgebung, die nach O’Sullivan Demetrios’ wichtigstes Werk war und die sie als „coherent programme in which moral and religious propriety were enshrined in law“ (S. 90) deutet. Die Maßnahmen standen dabei, wie sie zeigt, im Kontext eines in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v.Chr. wachsenden Interesses der Politik an der eukosmia der Bürger, also an Sitte und Moral, das sich auch schon für Lykurg feststellen lässt. Im Einzelnen werden Demetrios ein Gesetz, das die Teilnehmerzahl von Banketten begrenzte, sowie die Einschränkung von ostentativem Luxus bei Begräbnissen zugeschrieben. Die zweite Maßnahme interpretiert O’Sullivan durchaus überzeugend als gegen die Tendenz zur Heroisierung und Vergöttlichung von Sterblichen gerichtet, die besonders von den makedonischen Herrschern ausging. Der Aspekt, dass solche Maßnahmen auch geeignet waren, die Ambitionen und den Prestigeanspruch der Oberschicht zu beschränken, wäre demnach nur zweitrangig.

Für die Einhaltung dieser Gesetze und die eukosmia der Bürgerschaft waren nach O’Sullivan die Gynaikonomoi und die Nomophylakes zuständig. Die Gynaikonomoi sollten das Verhalten von Frauen, besonders bei religiösen Festen und Begräbnissen beaufsichtigen. Als Aufgabe der Nomophylakes sieht die Autorin, anders als die bisherige Forschung, nicht die Kontrolle von Volksversammlung und Rat, sondern ebenfalls eine moralisch-sittliche Aufsicht ähnlich der der Gynaikonomoi. Auch ihre gründliche Diskussion (S. 75–85) kann jedoch den Eindruck nicht gänzlich ausräumen, dass die gängige Bedeutung des Begriffs ‚Nomophylakia‘ in den Quellen dieser Interpretation widerspricht.1 Dass die Einführung dieser beiden Magistraturen außerdem tatsächlich in die Jahre 317–307 fällt, kann sie zwar wahrscheinlich machen; sicher zu belegen ist es jedoch nicht.

Im dritten Kapitel (S. 105–163) untersucht die Autorin die Demetrios zugeschriebenen Änderungen an den Organen der Demokratie. Sie kommt dabei nach einer ausführlichen Prüfung des verfügbaren Quellenmaterials zu dem Schluss, dass die Kompetenzen der einzelnen politischen Institutionen (Volksversammlung, Rat, Gerichte sowie Areopag) unter Demetrios formal weitgehend unverändert geblieben sind, dass also von einer grundlegenden Veränderung der Verfassung – etwa im Sinn peripatetischen Gedankenguts – keine Rede sein kann.2 Wenn Demetrios‘ Herrschaft schon von den Zeitgenossen als Oligarchie gebrandmarkt und er nach 307 wegen der Auflösung der Demokratie (katalysis tou demou) angeklagt wurde, so hat das im wesentlichen zwei Ursachen: Zum einen wurde das Bürgerrecht, wohl auf Geheiß Kassanders, durch einen Zensus beschränkt – was allein eine Anklage rechtfertigte. Zum anderen ist davon auszugehen, dass die makedonische Hegemonie, deren Exponent in Athen Demetrios war, zwar informell, aber deswegen nicht weniger real, einen starken Einfluss auf die Funktionsweise und die Entscheidungen der demokratischen Institutionen ausübte. Dies gilt besonders für die Außenpolitik. In diesem Sinne konnte man Demetrios vorwerfen, er habe die athenische Freiheit dem makedonischen Machtanspruch untergeordnet. Auch im vierten Kapitel (165–195), das sich mit der Regelung der Finanzen und der Choregie beschäftigt, sieht O’Sullivan in den Quellen keine stichhaltigen Hinweise für wesentliche Veränderungen des bisherigen Systems durch Demetrios.

Das fünfte Kapitel (S. 197–240) behandelt die viel diskutierte Frage, ob und inwiefern Demetrios’ Politik durch seine Verbindung zum Peripatos zu erklären ist.3 Schließlich war Demetrios ein bedeutender peripatetischer Philosoph, Redner und Gelehrter. Einzuschränken ist allerdings, dass viele der Maßnahmen, die auf eine anti-demokratische Ausrichtung des Peripatos zurückgeführt wurden, nicht sicher belegt sind. Außerdem war seine Verbindung zur Philosophie offensichtlich ein Element der gegnerischen Propaganda. Seine Kritiker konnten sich dabei auf einen etablierten anti-philosophischen Diskurs stützen, der die Kontakte der Philosophen, besonders im Peripatos, zu den makedonischen Herrschern kritisch hervorhob und ihnen davon ausgehend eine anti-demokratische Haltung und tyrannische Neigungen unterstellte. Ein Einfluss von Demetrios’ philosophischer Prägung auf sein politisches Handeln ist daher zwar prima facie nicht unwahrscheinlich, sollte aber auch nicht überbewertet werden. Es gibt jedenfalls keinen Hinweis dafür, dass Demetrios in seiner Eigenschaft als Epimeletes Kassanders ein philosophisches Reformprogramm umsetzen wollte.

Das sechste Kapitel (S. 241–287) gibt einen Überblick über die außenpolitischen Ereignisse unter Demetrios und Athens Verhältnis zu Kassander, wobei besonders zwei Punkte hervorzuheben sind: Kassanders Hegemonie übersetzte sich erstens in eine außenpolitische Abhängigkeit und militärische Gefolgschaft Athens – was im Einzelfall nicht ausschloss, dass Athen auch eigene außenpolitische Interessen verfolgen konnte, wenn sie denen Kassanders nicht widersprachen. Diese Abhängigkeit vom makedonischen Hegemon hatte zweitens zur Folge, dass sich die wechselnden Machtverhältnisse unter den Diadochen direkt auf Athen auswirkten: Genau wie Demetrios erst durch Kassander an die Macht gekommen war, bedeutete die Eroberung Athens durch dessen Kontrahenten Demetrios Poliorketes 307 den Zusammenbruch seiner Herrschaft. Die Athener jubelten über die wiedergewonnene Freiheit – aber nur für kurze Zeit. Das siebente Kapitel (S. 289–301) bietet eine prägnante Zusammenfassung. Drei Anhänge, eine umfangreiche Bibliographie und Indizes beschließen das Werk.

O’Sullivans Buch ist gut geschrieben, sie argumentiert stringent und überzeugend – auch wenn sie dem Leser zuweilen längere argumentative Umwege zumuten muss, da sich viele Fragen nur durch eine weit ausholende Zusammenschau des heterogenen und bunt gestreuten Quellenmaterials wenigstens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit beantworten lassen. O’Sullivans entscheidender Erkenntnisfortschritt ergibt sich aus der grundlegenden Hinterfragung gängiger Annahmen zum Charakter von Demetrios’ Herrschaft. Das Bild einer anti-demokratischen Philosophenherrschaft lässt sich folglich nicht mehr halten. Die Untersuchung ist damit zugleich ein gutes Beispiel für den gelungenen Umgang mit einem dünnen und widersprüchlichen Quellenmaterial, der nur von dem ausgeht, was die Quellen auch tatsächlich belegen, und die Unklarheiten und Lücken in der Überlieferung nicht durch den Rückgriff auf vorgefertigte Schemata füllt – ein Ansatz, der auch für andere Bereiche der Alten Geschichte nicht ohne Relevanz ist.

Anmerkungen:
1 Philochoros, FGrH 328 F64; Pollux 8,94; vgl. Aristot. Pol. 1298b26-30, 1323a6; Jochen Bleicken, Die Athenische Demokratie, 4. Aufl., Paderborn u.a. 1995, S. 528f. Auch in Platons Nomoi stehen die Nomophylakes mit der Gesetzgebung in Verbindung (754d u. 840e), wobei man deren Beschreibung hier nicht eins zu eins aus dem Idealstaat in die Wirklichkeit übertragen kann. Für O’Sullivans Deutung scheint Aristot. Pol. 1322b37 zu sprechen, wo die nomophylakia im Zusammenhang mit der gynaikonomia, paidonomia und gymnasiarchia genannt wird, deren Zuständigkeit die eukosmia in der Stadt ist; vgl. O’Sullivan S. 85f. Auch Xen. Oik. 9,14 kann in diesem Sinne verstanden werden.
2 Dass dies im Einzelnen zwar wahrscheinlich, aber nicht immer sicher gemacht werden kann, zeigt die Frage, ob das Losverfahren für wichtige Ämter durch die Wahl ersetzt wurde: O’Sullivan (S. 131–138) verweist zwar nicht zu Unrecht darauf, dass die Tatsache, dass Demetrios und andere Gefolgsleute das Archontat innegehabt haben, auch durch eine informelle Beeinflussung des Losungsprozesses erklärt werden kann. Es bleibt allerdings genauso möglich, dass die Archonten unter Demetrios tatsächlich gewählt wurden, wie gemeinhin angenommen, oder dass sich Demetrios vielleicht gar einfach selbst als Archon eingesetzt hat.
3 Schon Hans-Joachim Gehrke hat einen engeren Zusammenhang weitgehend verworfen: Das Verhältnis von Politik und Philosophie im Wirken des Demetrios von Phaleron, in: Chiron 8 (1978), S. 149–193.

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