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Titel
Mein 20. Jahrhundert. Stationen eines politischen Lebens


Autor(en)
Laqueur, Walter
Erschienen
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Keßler, Zenrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Der Rezensent machte mehrmals die Erfahrung, dass ihm, erwähnte er den Namen Walter Laqueur anerkennend, entgegengehalten wurde, dieser sei ein Kalter Krieger. Andererseits kritisierten ihn zionistische Studenten in den USA, nachdem er ihnen Walter Laqueur als Lektüre empfohlen hatte. Wenn Laqueur Jude sei, habe er doch nichts von moderner jüdischer Geschichte begriffen. Warum wohl sei er dem Zionismus gegenüber so negativ eingestellt?

Walter Laqueur, 1921 in Breslau geboren, ist Jude, und diese Tatsache bestimmte sein Leben mehr als ihm lieb sein konnte. Ende 1938 gelang ihm die Flucht ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina. Seine Eltern und so viele andere, die ihm nahe standen, wurden Opfer der nazistischen Mörder. Noch heute, auch im vorliegenden Buch, kann er zornig werden, wenn Uneinsichtige behaupten, viele Juden hätten damals gar nicht an Flucht gedacht. Zu Recht fragt er, wer sie denn hätte aufnehmen wollen?

In Jerusalem konnte Laqueur das Studium der Geschichte nicht beenden; zu hart waren die Bedingungen, zu sehr waren in jenen Jahren Arbeiter, Bauern und Soldaten, nicht Studenten oder Historiker gefragt. Im Kibbuz lernte Laqueur das Leben aus anderer Perspektive als jener der Studierstube kennen. Seine 1972 erschienene, großartige „Geschichte des Zionismus“ – keineswegs ein Dokument des Antizionismus – speist sich auch aus jenen Erfahrungen. Sie geht hart mit dem Grundfehler vieler Zionisten ins Gericht, nämlich ihrer Ignoranz gegenüber den Arabern. Noch härter urteilt Laqueur freilich über jene, die vergessen, dass die jüdische Gemeinschaft in Palästina mit dem Rücken zur Wand stand; einer Wand, von der niemand wusste, wie lange sie halten würde. Er wünschte sich, sagt er gelegentlich, dass Israel zwischen Österreich und der Schweiz läge. Aber Wunschträume sind nicht das Fundament, auf dem der Zeithistoriker Laqueur sein wissenschaftliches Werk errichtet hat.

Walter Laqueur, Verfasser von über vierzig Büchern zur Geschichte der Sowjetunion, Deutschlands, des Nahen Ostens, des Terrorismus und der politischen Gewalt, hat 1995 mit „Wanderer wider Willen“ seine Autobiographie vorgelegt. Sie umfasst die Zeit seiner Jugend in Deutschland, des Neubeginns in Palästina und Israel, der Gründung einer Familie und des Einstiegs in den Beruf des politischen Journalisten. Durch immensen Fleiß und ungemeine Belesenheit erwarb sich Laqueur einen hervorragenden Ruf in der Fachwelt. Recht spät gelang dem „Seiteneinsteiger“ der Weg in die Academia: Gastprofessuren an der Johns Hopkins University, der Brandeis University und in Tel Aviv folgte eine Professur für internationale Beziehungen in Georgetown.

Gern hätte man mehr über die zweite, akademisch geprägte Lebenshälfte Laqueurs erfahren, aber das hier vorliegende Buch „Mein 20. Jahrhundert“, wiewohl nicht frei von persönlichen Reminiszenzen, zeigt eher die Meinungen, die sich der Autor zu Kardinalproblemen seiner Zeit gründlich erarbeitet hat. Es kann als eine lesenswerte Mischung von intellektueller Spurensuche und Forschungsbericht gelesen werden, denn man erfährt einiges über die Entstehungsgeschichte der Bücher Laqueurs. Wo immer es ihm möglich war, erschloss er sich die Wirklichkeit der von ihm untersuchten Gesellschaften durch Reisen und durch Gespräche, die er mit den verschiedensten Menschen unterschiedlicher politischer Überzeugung führte. Er sagt es nicht, doch es verdient festgehalten zu werden, dass er solche Gespräche in deutscher, englischer, russischer und hebräischer Sprache führte. In seinen ersten Jahren in Palästina hatte er auch versucht, Arabisch zu lernen. Auch dies gelang ihm leidlich, doch musste er feststellen, dass ihm die Grundkenntnis des Hocharabischen beim Disput im Kaffeehaus wenig nützte.

„Mein 20. Jahrhundert“ behandelt in acht locker geschriebenen Kapiteln Laqueurs Erfahrungen in Deutschland, Reflexionen zum Marxismus russischer Spielart, den ‚Kongress für kulturelle Freiheit‘, Gedanken zum Nahostkonflikt, zur Geschichtschreibung und zur Arbeit politischer Denkfabriken sowie Ausblicke auf die Zukunft terroristischer Bewegungen wie auch auf das Europa von morgen.

In Breslau war der junge Laqueur kaum direkt vom Antisemitismus bedroht, wiewohl er wusste, dass er an seiner Schule damit ausgesprochenes Glück hatte. Die linksliberale Atmosphäre im bürgerlichen Elternhaus war eine Fluchtburg vor der Ideologie der Gewalt, die ab 1933 Staatsräson wurde. Laqueur, der Hitler einmal auf einer Kundgebung sah, erkannte die zentrale Rolle, die der Naziführer weit über seine „Bewegung“ hinaus spielte. Treffs mit einem Kreis antistalinistischer Kommunisten, die der verbotenen KPD-Opposition angehörten, schärften Laqueurs Bewusstsein. Zu politischen Utopien, auch wenn ihnen so noble Motive zugrunde lagen wie Stalins kommunistischen Gegnern, ging er jedoch zeitlebens auf gewisse Distanz. Das marxistische Menschenbild schien ihm zu sehr auf Glauben denn auf rationaler Skepsis zu beruhen.

Dem Stalinismus und auch dessen Beschwichtigern im Westen stand und steht Laqueur zwar ohne Schaum vor dem Mund, doch als harter, unerbittlicher Kritiker gegenüber. Beredt wendet er sich gegen eine revisionistische Geschichtsdeutung der Sowjetunion, worunter er das Bestreben versteht, Stalins „Leistungen“ gegen seine Missetaten aufzurechnen. Ohne Stalin, aber mit dem von ihm ermordeten Heerführern oder mit Marschall Shukow als Oberbefehlshaber wären viele unermessliche Verluste zu vermeiden gewesen, die die deutschen Aggressoren der Roten Armee in der Anfangsphase des Krieges zufügten, so Laqueur. Er nimmt Überlegungen wieder auf, die 1994 seinem Buch „The Dream that Failed“ zugrunde lagen, und fragt, warum im Westen die „revisionistische Schule“ der Sowjetologie ab etwa 1970 den Stalinismus als beinahe einen Normalfall politischer Herrschaft darstellen wollte. So legitim die Frage ist, so muss Laqueur doch entgegnet werden, dass keineswegs alle „Revisionisten“ dies taten; Untersuchungen zum Alltagsleben legten weit öfter den Blick auf die bleierne Wirklichkeit frei als dass sie ihn vernebelten.

Auch das Kapitel über den ‚Kongress für kulturelle Freiheit‘ entlässt die Leserschaft mit einigen Fragen. Laqueur schreibt, um dies klarzustellen, durchaus nicht wie ein Kalter Krieger. Er gibt interessante Einblicke in die Atmosphäre des Netzwerkes liberaler antikommunistischer Intellektueller, aber das rundherum positive Urteil, das er über die Arbeit des Kongresses fällt, bedarf wohl der Diskussion. Franz Borkenau, Ruth Fischer, George Orwell und Ignazio Silone (nur bei ihm erwähnt Laqueur dies) bespitzelten Freunde und Kollegen, im Falle Ruth Fischers sogar die eigenen Brüder. Silone spitzelte zudem für Mussolinis Geheimdienst. Sie schrieben Berichte, in denen Behauptungen über eine kommunistische „Wühlarbeit“ der Beobachteten nachlesbar sind, die zum großen Teil frei erfunden waren. Lassen sich die Werte von Freiheit und Demokratie aber mit Menschen durchsetzen, denen die Wahrheit so wenig gilt?

Unverzichtbar ist der hellwache Zeitzeuge und Analytiker Laqueur, geht es um den Nahostkonflikt. Ein Beispiel soll hier die Neugier für das wohl beste Kapitel des Buches wecken: „Im Unterschied zu vielen Historikern der Gegenwart bin ich nicht der Meinung, dass der Krieg hätte verhindert werden können, nachdem Nasser die Meerenge von Tiran blockiert und die UN-Friedenstruppen aus der Sinai-Halbinsel ausgewiesen hatte“ (S. 170). Doch nach dem großen Sieg vom Juni 1967 hätten die Politiker nicht erkannt, „welche Konsequenzen ihre Politik haben würde. Sie ignorierten, dass sie aufgrund der hohen Geburtenrate der Palästinenser bald vor Problemen stehen würden, die sie nicht mehr oder nur zu einem inakzeptabel hohen Preis bewältigen konnten“ (S. 173). Kann man es Laqueur verdenken, dass er auf ähnliche Äußerungen verweist, die er freilich bereits 1967 getan hatte? Immer und immer wieder schrieb er, dass die besetzten Gebiete unter dem Strich Israel nicht mehr Sicherheit geben, sondern mehr Lasten aufbürden. Doch wer hörte auf diese Stimme der Vernunft? Engstirnige Nationalisten jeder Couleur haben jedenfalls immer wieder versucht, ihn in Acht und Bann zu legen. Menschen, die lernbereit sind, sei freilich die Lektüre der Bücher Laqueurs dringend empfohlen.

Der begrenzte Raum einer Besprechung gestattet es nicht, alle Teile des Buches Revue passieren zu lassen. Auf Laqueurs Prognosen zum schleichenden Niedergang Europas, die bereits einigen Widerspruch hervorriefen, kann nur kurz hingewiesen werden. Seine abwägenden Worte über die Möglichkeiten und Grenzen des Terrorismus, dessen Geschichte zu erforschen eine seiner Pioniertaten war, bagatellisieren nichts, warnen aber vor Panik. Der islamistische Fanatismus werde nicht von Dauer sein. Ein Triumphgefühl wegen des Scheiterns des Kommunismus sowjetischer Machart war und bleibt ihm fremd. Ein um das andere Mal betont er, dass Marxismus und Kommunismus nicht die schlechtesten Menschen anzogen. Sie suchten nach einer Antwort auf drängende Probleme des Kapitalismus. Diese Probleme seien heute nicht verschwunden. Wenn Demokratie und Freiheit für immer mehr Menschen nur noch als Synonyme für schrankenlose Bereicherung, Ausbeutung und Korruption erscheinen, dann werden sich mehr und mehr Menschen von einer demokratischen Ordnung abwenden. Bei der Suche nach Antworten auf die Frage, wie Freiheit und Gleichheit besser zusammenzuführen sind, als es derzeit geschieht, stellen Walter Laqueurs Bücher, wie immer man sie im einzelnen beurteilen mag, ein notwendiges geistiges Marschgepäck dar.

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