T. Trautmann (Hrsg.): The Madras School of Orientalism

Cover
Titel
The Madras School of Orientalism. Producing Knowledge in Colonial South India


Herausgeber
Trautmann, Thomas
Erschienen
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
£34.99 / € 42,48
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Berkemer, Institut für Asien- und Afrikawissen­schaften, Seminar für Südasien-Studien, Humboldt-Universität zu Berlin

Ist das Thema Orientalismus tot? Mag sein, dass die Epigonen von Edward Said keine neuen Themen mehr finden. Aber weder ist der Orientalismus als geistige Einstellung abgetreten, noch sollte man die Auseinandersetzung damit für beendet erklären. Einen guten Grund zur weiteren Beschäftigung damit im Bereich Südasiens bietet das hier vorgestellte Buch, welches mehr als nur eine neue Nuance zur bisherigen Erzählung der Geistesgeschichte des Orientalismus bietet. Die standardisierte Erzählung der historischen Textbücher teilt uns mit, dass zum Ende des 18. Jahrhunderts Mitglieder der englisch-indischen Administration in Bengalen, insbesondere Colebrook, Hastings und Jones, zusammen mit kollaborierenden Brahmanen den Orientalismus „erfanden“. Das Resultat dieser Bemühungen ist ein geistiges Konstrukt, welches bis heute spürbar ist in der ideologischen Ausrichtung des modernen nationalistischen Hinduismus, der Konzentration westlicher Gelehrsamkeit auf die Philologie des Alten Indiens – im Gegensatz zu orientalistischen Disziplinen wie Sinologie und Japanologie –, und in der traditionellen Konzentration der gesamten Südasienkunde auf Nordindien.

Doch es gab alternative Diskurse in Indien, deren Scheitern wissenschaftshistorische Bedeutung haben, und die im hier zu erörternden Falle sogar die Wurzel der heutigen anti-brahmanischen Haltung des Tamil-Nationalismus mit geprägt haben könnten. Wurde doch schon um 1800 in Schriften aus Madras zwischen der südlichen „Dravida nation“ und der nördlichen „Gauda nation“ unterschieden (so Donald Davis auf Seite 297 dieses Bandes), eine Sicht, die sich gegen die Idee Kalkuttas von einer „Hindu nation“ nicht durchsetzen konnte. Allerdings wäre es falsch, diese südliche Geistestradition auf die britischen Namen Buchanan, Ellis und Mackenzie zu beschränken. Hier waren indische Akteure ebenfalls beteiligt.

Trautmanns Sammelband ist Teil und guter Einstieg zu einem Netzwerk von wissenschaftlichen Texten, deren Beitrag zum Thema der „Madras School of Orientalism“ (MSO) sich aus dem Unbehagen am konventionellen Indienbild nährte, und anfänglich vielleicht ungeplant zustande kam, sich dann aber um die Jahrtausendwende zum hier präsentierten Thema verdichtete. Neben den im vorliegenden Sammelband beitragenden Altmeistern Thomas Trautmann und Nicholas Dirks wären vor allem Größen wie Velcheru Narayana Rao und David Shulman zu nennen, die zwar bedauerlicherweise keinen Beitrag beigesteuert haben, auf deren Arbeiten aber häufig Bezug genommen wird. Trautmann bedauert, dass ein Beitrag zu Telugu als der größten und dominanten südinischen Sprache fehlt. Explizit empfiehlt er die Heranziehung einer Arbeit zur Rolle der Telugu-Gelehrsamkeit in der MSO von V. Narayana Rao.1 Fast alle der Beitragenden in diesem Band hatten schon Arbeiten zum Komplex der südindischen Identitäten, ihrer historischen Gewordenheit oder der europäischen Kontakte zu dieser Welt geliefert. Dass der Herausgeber Thomas Trautmann in diesem Band nun die spezifischen Charakteristika dieser komplex verwobenen Geistesströmungen und ihre Konkretisierung in der MSO thematisiert, also die bisherigen separaten Arbeiten mit dem „Etikett“ MSO versieht, ist zu begrüßen. Südindien-Kennern war schon lange bekannt, dass auf der Halbinsel eine auch in der Kolonialzeit eigene kulturelle Welt bestand und weiter besteht, die mit den Mitteln des dominanten Kalkutta-Diskurses und seiner wissenschaftlichen Konsequenzen nicht erfasst werden konnte. Diese Welt wurde im Mainstream bestenfalls ignoriert, im schlimmeren Fall aber einer prokrustischen Normungslogik unterzogen, die in indischer und internationaler Politik und Wissenschaft gleichermaßen stattfand und stattfindet.

Der erste Beitrag ist von Nicholas Dirks und nimmt aus früheren Publikationen bekannte Themen auf.2 Sylvia Vatuk berichtet dann über die oft vergessene Rolle muslimischer Gelehrter am College des Fort St. George im 19. Jahrhundert. Sie waren es, die den Briten die für Südinder fremden Verwaltungssprachen des Nordens, Persisch und Urdu, vermittelten. Vatuk führt so in eine zweite, subalterne Konfliktlage ein. Es ging unter anderem darum, Arbeitsplätze für die Experten der verschiedenen Sprachen zu finanzieren und zu legitimieren. Jennifer Howes schreibt über einen konkreten Fall von Recherche durch Mackenzies Assistenten in Mahabalipuram. Sie zeigt, dass die Quellen zur „Feldforschung“ der damaligen Zeit in Verbindung mit heutigen Methoden interessante Erkenntnisse über die sozialen Spannungen vor Ort liefern. Darüber hinaus und für das Thema der MSO wichtiger ist, dass wir hier ein konkretes Beispiel für die Arbeitsweise der „Firma“ Mackenzie erhalten, vor allem was die Zusammenarbeit zwischen dem Colonel und seinen langjährigen Assistenten, den Kavali-Brüdern, betrifft.

Der nächste Abschnitt geht auf Gruppen und Individuen unter indischen Intellektuellen ein, die mit den britischen Gelehrten zusammenarbeiteten, und in der Öffentlichkeit und im Blick auf Kalkutta oft als Hilfsarbeiter erschienen. Tatsächlich waren es aber diese einheimischen Gelehrten, die die Wissensproduktion in Madras wesentlich bestimmten. A. R. Venkatachalapathy liefert Details zur Integration von Tamil-Traditionen der Gelehrsamkeit ins College von Fort St. George. Diese detailreiche Darstellung individueller Leistungen und persönlicher Biographien bleibt zwar meist deskriptiv, der Leser kann aber aus dem Zusammenhang mit den übrigen Beiträgen des Bandes seine eigene Synthese bilden. Vor allem wird dort der Konflikt zwischen traditioneller normativer Grammatik für Schriftgelehrte, und der zum Spracherwerb nötigen deskriptiven Vorgehensweise, für Telugu wie für Tamil, thematisiert. Dieser Konflikt zwischen anciens und modernes ist paradigmatisch für viele Felder der südindischen Kultur. Durch den langfristigen Sieg der Modernen in Madras trägt dieser Konflikt auch eine überregionale Note, da sich in Kalkutta die antike Richtung bei gleichzeitiger Europäisierung der Moderne durchgesetzt hat.

Prosopographische Methodik trägt Rama Sundari Mantena bei, indem er eine bestimmte Gruppe von Assistenten, nämlich die fünf Brüder Kavali in den Mittelpunkt der Darstellung rückt. Sie waren teilweise Mackenzies persönliche Freunde, arbeiteten als Bürovorsteher, Archivare, Übersetzer, Ethnographen, Expeditionsleiter und vieles andere mehr. Sowohl Mantena als auch darauf folgend Lisa Mitchell und mit Blick auf Kavali Venkata Ramaswami zeigen, dass hier eigene individuelle Leistungen als Gelehrte über Mackenzies Tod hinaus vorliegen … und ignoriert werden. Dem Thema des Vergessens widmet sich auch der Beitrag von Philip Wagoner über die manchmal verschlungenen Wege, die spezifische Manuskripte der Mackenzie Collection bis zur Publikation erfuhren. Im konkreten Beispiel aus der Telugu-Literaturgeschichte zeigt sich, wie wenig Wertschätzung Mackenzies Archiv bis heute hat – eine Folge seiner Vernachlässigung durch die Bildungsbehörden Kalkuttas im 19. Jahrhundert.

Die beiden folgenden Beiträge behandeln die soziolinguistische Veränderungen im Tamil-Sprachbereich, ausgelöst durch den Kontakt zwischen einheimischen Verwaltungsspezialisten (Bhavani Raman) und Grammatikern (Sascha Ebeling) und den Behörden bzw. deren College in Madras.

Der letzte Abschnitt des Bandes wendet sich „special histories“ zu. Konkret geht es um historiographische Debatten, oft mit Bezug zur tagesaktuellen Administration. Leslie Orr zeigt am Beispiel der Forschung zum Jainismus, der im Süden eine lebendige Gelehrtentradition und keine antike, tote Religion war, dass „if the Madras-style Orientalism had become dominant, our understanding of the history of Indian religions might have gone in a very different direction“ (S. 281). Ähnliche Resultate bringen die Beiträge von Donald Davis und Thomas Trautmann zu Hindu Law bzw. Land- und Steuerrecht. In beiden Fällen ist die Forschung zu den Schriften von F.W. Ellis das Zentrum der Arbeiten, in denen die gerade entstehenden Forschungen zu Dharmasastra, jajmani, Königtum usw. aufgegriffen werden.

Was dem Buch fehlt, ist ein Fazit. Denn nach all den Beispielen eines „anderen“ Orientalismus und den Erzählungen seines Scheiterns bleibt eben doch die zuvörderst unwissenschaftliche Frage nach dem „was wäre gewesen, wenn ...“. Doch geht es hier nicht um „alternative histories“, sondern um die faszinierende Tatsache, dass im Machtdiskurs des kolonialen Südasiens ein Orientalismus einen anderen dominiert und verdrängt. Es geht auch um die von Trautmann im Vorwort angedeutete, aber nicht weiter verfolgte Verknüpfung der „südlichen“ orientalistischen Tradition mit den schon vorhandenen Patriotismen oder Proto-Nationlismen. Oriya-Sprachdebatte in Ganjam, Tamil-Bewegung, Andhra-Movement, und womöglich auch die neueren Phänomene wie Kommunismus in Kerala und die Telingana-Movements könnten historiographisch mit der MSO in Verbindung stehen. Nicholas Dirks, Velcheru Narayana Rao und David Shulman zeigen dies episodisch durch die zeitlichen Brückenschläge in ihren Arbeiten auf. Der Band bringt den Nachweis, dass hier noch mehr zu erforschen ist. Doch wie die heterogenen Ansätze zu einem Gesamtkonzept zusammenkommen könnten, bleibt der Phantasie des Lesers überlassen.

Anmerkungen:
1 Velcheru Narayana Rao, Print and Prose. Pundits, Karanams, and the East India Company in the Making of Modern Telugu, in: Stuart H. Blackburn / Vasudha Dalmia (Hrsg.), India’s literary history. Essays on the nineteenth century, Bangalore 2004, S. 146–166.
2 Nicholas B. Dirks, Colonial Histories and Native Informants. Biography of an Archive, in: Carol A. Breckenridge / Peter Van der Veer (Hrsg.), Orientalism and the Postcolonial Predicament. Perspectives on South Asia, Philadelphia 1993, S. 279–313.

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