T. Weger (Hrsg.): Grenzüberschreitende Biographien

Cover
Titel
Grenzüberschreitende Biographien zwischen Ost- und Mitteleuropa. Wirkung - Interaktion - Rezeption


Herausgeber
Weger, Tobias
Reihe
Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
513 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Hannes Schweiger, Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie, Wien

Menschen, die als Vermittler/innen zwischen Kulturen und Nationen fungierten oder für deren Lebensläufe das Überschreiten kultureller, sprachlicher oder nationalstaatlicher Grenzen konstitutiv ist, wurden von der Biographik lange Zeit vernachlässigt. Zu sehr war die Gattung Biographie vom Denken in nationalen Kategorien geprägt. Gerade in jüngerer Zeit werden aber in zunehmendem Maße grenzüberschreitende Lebensgeschichten in den Blick genommen.1

Der vorliegende Sammelband, entstanden aus einer Tagung im Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa im November 2006 in Oldenburg, liefert dafür wichtige Impulse, weniger durch ausführliche theoretische Überlegungen und neue Konzepte zur biographischen Forschung unter grenzüberschreitender Perspektive als vielmehr durch eine Vielzahl an Fallbeispielen. Dabei werden die unterschiedlichen Formen biographischer Grenzüberschreitungen deutlich: Häufig handelt es sich um nationalstaatliche, sprachliche oder kulturelle Grenzen, die überschritten werden, aber auch der Wechsel zwischen politischen Lagern, unterschiedlichen Berufsfeldern oder Lebensbereichen wird thematisiert. Grenzen werden dabei nicht notwendigerweise aufgelöst, sondern markiert, konstruiert, in Frage gestellt oder verschoben. In vielen Beiträgen des Bandes werden kulturelle Transferprozesse in Folge von Migration dargestellt und es wird die Rolle von Individuen als Kulturvermittler/innen thematisiert, in erster Linie in Bezug auf den deutsch-polnischen Kontext. Die Lebensläufe von Kulturvermittler/innen zu untersuchen, ermöglicht es, Aspekte des Austausches und der Verflechtung zwischen Nationen, Regionen, aber auch zwischen ethnisch oder sprachlich definierten Gemeinschaften in den Blick zu nehmen.

Der Band ist in fünf große Abschnitte unterteilt und enthält insgesamt 24 Beiträge von sehr unterschiedlicher Länge. Im ersten Abschnitt werden „methodische Überlegungen“ angestellt, die grundsätzlichen Fragen der Biographik gelten: der Geschichte der Gattung von ihren Ursprüngen in der Antike bis in die Gegenwart und der Frage nach der Darstellung von Handlungsmöglichkeiten des/der Einzelnen; oder der Nähe der Biographie zum Roman und ihre Relevanz für die Geschichtswissenschaft, kann sie doch durch ihre Fokussierung auf das Individuum dabei helfen, „nach Momenten der Öffnung in der Geschichte zu suchen, in denen sich neue Perspektiven aufgetan hatten“ und „nach verpassten Wegen und Lösungen zu fragen, die vergessen oder verdrängt wurden“. (S. 46) Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive wird der Konstruktionscharakter jeder Biographie herausgearbeitet und nachdrücklich auf die in der Theorie der Biographie immer wieder betonte Literarizität jeder schriftlichen Darstellung einer Lebensgeschichte hingewiesen. Mehrfach wird betont, dass es einer modernen Biographie nicht darum gehen kann, die Lebensgeschichte eines Individuums so darzustellen, als wäre sie die einzig mögliche. Vielmehr ist Aufgabe der Biographik, die Komplexität und Widersprüchlichkeit von Lebensgeschichten darzustellen und die Möglichkeitsräume in einem Lebenslauf herauszuarbeiten.

Nach dem ersten Abschnitt zu grundsätzlichen Überlegungen zur Biographie und im Besonderen zu grenzüberschreitenden Biographien widmen sich die folgenden vier Abschnitte unterschiedlichen Aspekten der Grenzüberschreitung: Im Abschnitt zu „Biographischen Optionen des Exils“ wird zunächst auf die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten von Individuen in unterschiedlichen Exilsituationen eingegangen und damit ein weites Themenfeld eröffnet. In den folgenden Beiträgen werden Einzelbeispiele näher dargestellt: die Lebensgeschichten des Philosophen Bronisław Ferdynand Trentowski, des Lyrikers und Erzählers Manfred Sturmann und des Schriftstellers Witold Gombrowicz. Der Abschnitt zu „biographischen Grenzüberschreitungen in Religion und Wissenschaft“ spannt einen zeitlichen Bogen von Nicolaus Copernicus bis in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und beleuchtet sowohl Einzelbiographien als auch kollektivbiographische Fragen etwa am Beispiel der Biographien von deutschen und polnischen Linguisten und dafür relevanten sprachenpolitischen Fragen. Der vierte Abschnitt widmet sich „grenzüberschreitenden Biographien in Gesellschaft und Politik“ und geht bis ins Mittelalter zurück. Im gesamten Band stehen Lebensläufe im deutsch-polnischen Kontext im Mittelpunkt, der abschließende Abschnitt ist aber in besonderem Maße Einzelpersönlichkeiten gewidmet, die für die gemeinsame deutsch-polnische Geschichte von Bedeutung sind, darunter etwa Marion Gräfin Dönhoff.

Eine der durchgängig verhandelten Fragen ist jene nach der nationalen oder kulturellen Zugehörigkeit der dargestellten Personen. Zu beobachten ist, wie Individuen mitunter eindeutige Identitäten – beispielsweise eine polnische wie im Fall des Autors Stanisław Przybysewski (S. 410) – konstruieren, obwohl ihre Lebensläufe weitaus komplexer sind und eine solche Zuordnung aus der Sicht der Biographin oder des Biographen nicht ohne Verkürzungen und Vereinfachungen vorgenommen werden kann.

Deutlich wird in dem Band, wie die Ambivalenz und Vielschichtigkeit von Lebensläufen aus nationaler Perspektive häufig auf einfache Muster reduziert wird. Gezeigt wird dies etwa an den Biographien dreier Vertreter eines kaschubischen Regionalismus, die bis in die Gegenwart herauf als Agitatoren und Separatisten gesehen werden und für die „eine fehlende nationale Biographiefähigkeit“ kennzeichnend ist (S. 282). Sie lassen sich nur durch Vereinfachungen, die der Komplexität biographischer Verläufe nicht gerecht werden können, aus nationaler bzw. nationalistischer Perspektive darstellen. „Wahrscheinlich sind die genannten gebrochenen Biographien jedoch ein Stück realitätshaltiger als manche stromlinienförmige Meistererzählung über nationale Helden, ein Stück moderner als manche gradlinige biographische Konstruktion“. (S. 283) Gerade solcher Lebensläufe muss sich eine moderne Biographik annehmen, um dem nationalen Blick einen differenzierteren entgegenzusetzen. Die Auseinandersetzung mit grenzüberschreitenden Biographien leistet einen wichtigen Beitrag zur längst fälligen und zum Teil auch schon begonnenen Transnationalisierung der Geisteswissenschaften.

Von besonderem Interesse für das Thema des Sammelbandes ist der grundlegende Beitrag von Matthias Weber zur „Aktualität geschichtswissenschaftlicher Erforschung grenzüberschreitender Biographien zwischen Mittel- und Osteuropa“, zu finden im ersten Abschnitt zu den „methodischen Überlegungen“. Angesichts der in den letzten Jahrzehnten zu verzeichnenden Zunahme an Migrationsbewegungen und Austauschprozessen über nationale und sprachliche Grenzen hinweg rücken in der soziologischen Biographieforschung ebenso wie in den Kulturwissenschaften grenzüberschreitende Lebensgeschichten und Individuen als Kulturvermittler in den Mittelpunkt des Interesses. Weber weist aber auch darauf hin, dass biographische Untersuchungen zu kulturellen Transfers auch für weiter zurückliegende Zeiträume aufschlussreich sind, ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit dabei aber häufig nicht im Vordergrund stehen, sondern soziale und ökonomische Differenzlinien ausschlaggebender sind. Kulturelle und sprachliche Grenzüberschreitungen waren im Mittelalter viel selbstverständlicher, als sie in der noch immer vom nationalstaatlichen Denken, das im 19. Jahrhundert seine Wurzeln hat, geprägten Gegenwart erscheinen. „Zugespitzt lässt sich formulieren: Für die früheren Großreiche [gemeint sind etwa das Heilige Römische Reich deutscher Nation, die polnisch-litauische Monarchie, das Königreich Preußen oder die Habsburgermonarchie] war Multinationalität nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall.“ (S. 73) Weber plädiert nachdrücklich und überzeugend dafür, dass sich die Geisteswissenschaften von nationalstaatlichen und nationalkulturellen Paradigmen lösen müssen, gerade angesichts der gegenwärtigen Globalisierung und der damit einhergehenden Infragestellung nationaler Identifikationsmuster – auch wenn diese nach wie vor von großer Wirksamkeit sind und zum Teil als Begleiterscheinung oder Folge von europäischen Integrations- und Transnationalisierungsprozessen in unterschiedlichen Bereichen unseres Lebens verstärkt werden.

Die Beiträge dieses Sammelbandes divergieren nicht nur hinsichtlich ihrer Länge (zwischen 8 und 41 Seiten), sondern auch in Qualität und Signifikanz über den Einzelfall hinaus. Manche Beiträge sind nur für ein sehr spezialisiertes Publikum aufschlussreich und lassen die Beantwortung der Frage, welche allgemeinen Fragestellungen und Schlüsse aus den jeweiligen Darstellungen gezogen werden können, vermissen. Mehr Kohärenz und eine biographietheoretisch fundierte Einleitung zu den Voraussetzungen und Implikationen einer Beschäftigung mit grenzüberschreitenden Biographien hätten dem Band gut getan. Dennoch gibt er wichtige Anregungen für eine Transnationalisierung der Biographik und macht die Relevanz des biographischen Ansatzes, insbesondere in der Geschichtswissenschaft, deutlich.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Bernd Hausberger (Hrsg.), Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen, Wien 2006; Desley Deacon / Penny Russell / Angela Woollacott (Hrsg.), Transnational Lives. Biographies of Global Modernity, 1700-present, Basingstoke 2010; vgl zu einem Versuch der Systematisierung grenzüberschreitender Lebensläufe: Madeleine Herren, Inszenierungen des globalen Subjekts. Vorschläge zur Typologie einer transgressiven Biographie, in: Historische Anthropologie 13 (2005), S. 1-18.

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