M.-J. Calic: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert

Titel
Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert.


Autor(en)
Calic, Marie-Janine
Erschienen
München 2010: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
415 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ljiljana Radonic, Universität Wien

Der vorliegende Band ist eine von fünf Länderstudien der von Ulrich Herbert herausgegebenen Reihe „Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert“. Mit der „Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert“ der Ost- und Südosteuropa-Historikerin Marie-Janine Calic liegt „die erste Gesamtdarstellung in deutscher Sprache seit der Auflösung des Vielvölkerstaates“ vor. Während in Ex-Jugoslawien vor allem Werke zur Geschichte des jeweiligen Nachfolgestaates erscheinen, in denen die jugoslawische Periode zu einer kurzen Episode eines teleologischen Vorlaufs zur Eigenstaatlichkeit zusammenschrumpft (S. 14), kann Calics Werk als ein entgegengesetztes Statement verstanden werden. Sie wendet sich explizit gegen das Verständnis Jugoslawiens als einer künstlichen Staatsschöpfung, die unausweichlich scheitern musste: „Immerhin existierte der Staat gut 70 Jahre lang, weshalb die Frage, was seine Völker so lange zusammenhielt und was sie entzweite, auch durch den Untergang noch nicht obsolet wurde.“ (S. 14) Aus der Kritik wird eine Gegenerzählung: „Jahre bevor im Ersten Weltkrieg der politisch entscheidende Moment für die Staatsgründung Jugoslawiens heranreifte, hatte sich in der künstlerischen und literarischen Avantgarde Sloweniens, Kroatiens und Serbiens ein Konsens über dessen kulturelle Fundamente gebildet.“ (S. 63) „Es waren lang erlittene, schmerzhafte Erfahrungen sozialer Deklassierung und politischer Marginalisierung, nun verdichtet durch das Kriegstrauma, die sich in der historischen Umbruchsituation 1918 in einem grenzenlosen Enthusiasmus für den gemeinsamen Neuanfang entluden. ‚Jugoslawien‘ war für viele zur Chiffre für ein besseres Leben in Würde, Frieden, Freiheit und Wohlstand geworden. Der neue Staat startete mit immensen euphorischen Zukunftshoffnungen.“ (S. 82)

Unter Berufung auf Maria Todorova kritisiert Calic in der Einleitung ferner das „Vorurteil“, wonach sich in Bezug auf den Balkan „oft bar jeglicher Empirie die Vorstellung dauerhafter Rückständigkeit“ (S. 11) halte. Dies steht jedoch im Widerspruch zu den unzähligen Belegen für ebendiese und die oftmalige Verwendung des Begriffes durch die Autorin: „Die Überwindung der Rückständigkeit bildete seit dem 19. Jahrhundert ein starkes Motiv der südslawischen Einigung“ (S. 334) oder „Wie konnte der Fluch der Rückständigkeit überwunden, wie das geistig-technische Niveau Europas erreicht werden?“ (S. 35) Der Balkan wird darüber hinaus als etwas von „Europa“ Unterschiedenes begriffen: Um die Jahrhundertwende waren viele Städte „in Wirklichkeit nicht mehr als riesige Dörfer, lediglich die Zentren von Ljubljana, Zagreb und Belgrad und weniger Mittelstädte machten ‚europäische‘ Metamorphosen durch. [...] Eine dünne urbane Oberschicht begann, europäische Formen der Geselligkeit und Lebensstile wie Salon, Freizeitgestaltung und Wohnkultur zu übernehmen.“ (S. 33f)

Abgesehen von diesem impliziten Widerspruch sind es gerade diese Unterkapitel zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die auf eigenständige Forschung der Autorin zurückgehen, die interessante Analysen über den Wandel des Dorf- und Stadtlebens enthalten und über die bekanntere Darstellung der Politikgeschichte hinaus überzeugen. So erfahren wir, dass in den 1920er-Jahren in Bezug auf das Verhältnis zwischen Mann und Frau die regionalen Unterschiede am größten waren und zwischen sklavenähnlichen Verhältnissen und von Liebe geleiteter Partnerwahl oszillierten (S. 100), oder dass nach 1945 zwei Drittel des jugoslawischen Führungspersonals aus der Arbeiter- und Bauernschicht stammten und nur rudimentäre Schuldbildung besaßen, weshalb ein Ministeriumserlass den Beamten nahebringen sollte, „dass man Lebensmittel, Papier und Zigaretten nicht einfach aus dem Fenster werfen solle, auf Gängen und Treppen nicht ausspucken dürfe und wozu und wie man eine Toilette benutzt.“ (S. 176)

Unbedingt ist der Autorin dabei zuzustimmen, dass die Deutungen der jugoslawischen Vergangenheit bis heute stark mit Emotionen befrachtet sind und sich heftiger Kritik aussetzt, „wer sich nicht eindeutig auf die eine oder andere Seite schlägt“ (S. 15). Dass ihr letzteres gelingt, ist einer der größten Vorzüge des Buches. Calic schreibt von einem nationalismuskritischen Standpunkt aus, wenn sie etwa dem ontologisierenden Kroatentum entgegengesetzt betont, dass das Wort „Kroate“ um die Jahrhundertwende „mal als ethnische, mal als regionale Kategorie benutzt wurde. Gleichzeitig bezeichnete man sich – je nach Wohnort – als ‚Slawonier‘, ‚Dalmatiner‘ oder ‚Istrianer‘.“ (S. 23) Auch verfällt sie nicht in vereinfachende Opfer-Täter-Schemata, sondern versorgt die Leser/innen mit wichtigen Hintergrundinformationen: So lernen wir über Srebrenica, dass serbische Freiwillige 1914 die Provinzstadt einnahmen, „aber bereits kurz darauf wieder von den Österreichern vertrieben“ wurden, „die den Kommandanten töteten und zusammen mit muslimisch-kroatischen Legionären grausame Vergeltung an der Zivilbevölkerung übten“ (S. 72), während dort im Zweiten Weltkrieg „die kroatische Ustascha 1943 ein Massaker unter der serbischen Zivilbevölkerung in Gang gesetzt hatte.“ (S. 204) Unklar bleibt nur, warum der „Jugoslawischen Nationalbewegung“ Ljotićs (S. 126) und der serbischen Kollaborationsregierung Nedićs im Zweiten Weltkrieg (S. 141) ein völkisch-rassistischer Blut-und-Boden-Kult attestiert wird, während die gleiche, weitaus angebrachtere Charakterisierung bei den „faschistischen“ (S. 125, 138, 170) kroatischen Ustascha ausbleibt, obwohl diese nach NS-Vorbild Todeslager betrieben haben. Während Calic einerseits zu Recht den Aspekt des Bürgerkrieges zwischen Ustascha, Tschetniks und Partisanen betont, werden andererseits die Verbrechen (mit Ausnahme der Partisanen) miteinander gleichgesetzt: „In allen Landesteilen verfolgten Nationalisten nun eine gnadenlose Assimilations-, Umsiedlungs- und partielle Vernichtungspolitik, um unerwünschte Bevölkerungsgruppen zu entfernen“ (S. 158), und weiter: „So wie die Ustascha von einem ethnisch ‚reinen‘ Großkroatien träumten, schwadronierten die serbischen Tschetniks von Großserbien.“ (S. 161) Doch während für die Ustascha der Traum von Großkroatien vier Jahre lang verbrecherische Wirklichkeit war, fanden die Verbrechen der Tschetnik nicht im Rahmen eines staatlichen Terrors statt. Abgesehen davon, dass die Betonung wichtig zu sein scheint, dass „die Tschetniks [...] den Ustascha an Barbarismus in nichts nach[standen]“ (S. 164), machen aber dem deutschsprachigen Publikum wenig bekannte Fakten das Buch facettenreich: So etwa das Engagement des jungen Alija Izetbegović, des späteren Präsidenten Bosnien-Herzegowinas, für die durch „Verbissenheit und Fanatismus“ zu erreichende „Vereinigung der islamischen Welt in einem riesigen Staat“, das ihm 1946 eine Gefängnisstrafe einbrachte und das er 1970 in seiner „Islamischen Deklaration“ (S. 245) wieder aufnahm.

Über Tito erfahren wir, dass er im Zweiten Weltkrieg „selbst bei seinen härtesten politischen Gegnern einen Rest ehrfürchtiger Bewunderung“ erzeugte, „über legendäre Führungsqualitäten [verfügte] und Selbstsicherheit, Entschlusskraft und natürliche Autorität aus[strahlte].“ (S. 153) Das sozialistische Jugoslawien zeichnete sich durch Pragmatismus aus: „Anders als in der Sowjetunion sollte die rückständige Bauernschaft nicht durch Terror in die neue Ära gezwungen werden.“ (S. 186) Nach dem „Terror bei Kriegsende“ (S. 173) betont Calic vor allem den „vergleichsweise liberalen Umgang mit seinen Systemkritikern“ (S. 195) und Aspekte einer „Entwicklungsdiktatur“ (S. 188), wie die Volksbildung: „Es gibt rührende Fotos von älteren Männern und Frauen, wie sie sich auf die Holzbänke der Dorfschule zwängen, um mit leuchtenden Augen ihre ersten Wörter zu buchstabieren.“ (S. 187) Trotz des Preises für diesen „Modernisierungsterror“, wollten vielen Menschen laut Calic „dennoch an die Vorteile des Systems glauben.“ (S. 188) Doch den „Bemühungen der Kommunisten“ zum Trotz schlichen sich „in den 1960er Jahren [...] unverblümt nationalistische Diskurse ein.“ (S. 238)

Den Zerfall Jugoslawiens erklärt Calic durch 1) „Strukturprobleme der longue durée, besonders das steile sozialökonomische Entwicklungsgefälle, die nie ganz überwundene ethnische Distanz zwischen den Völkern sowie die disparaten historisch-politischen Traditionen“ und 2) situative Faktoren: „Vor dem Hintergrund einer tiefgreifenden Krise von Wirtschaft und gesellschaftspolitischem System Mitte der 1980er Jahre, angesichts übermächtiger existenzieller Sorgen und Zukunftsängste wurden nach Titos Tod Sprache, Nation und Religion für viele Menschen zu einem zentralen Identitätsanker.“ (S. 342) Ökonomische, sozialkulturelle und machtpolitische Konflikte wurden laut Calic „in ethnonationale Kategorien uminterpretiert.“ Dies führte zum Krieg, weil strukturelle Konflikte nach 1945 kontinuierlich verstärkt, die blutige Konfliktgeschichte vor allem des Zweiten Weltkrieges stets aufs Neue aktualisiert wurde. (S. 343)

Ulrich Herberts Einschätzung, dass es Mut erfordert, eine Nationalgeschichte im 20. Jahrhundert in einem Band zu erzählen, stimmt im Fall Jugoslawiens umso mehr, als es sich bedingt durch die Zerfallskriege der 1990er-Jahre um besonders „heiße“ Geschichte handelt. Abgesehen von den erwähnten Punkten kann das Werk somit uneingeschränkt empfohlen werden, denn es handelt sich um eine überzeugende Synthese. Besonders bestechend erscheint 1) das Aufzeigen der Schuldzuweisungs-Mechanismen, wonach in Kroatien der Zwischenkriegszeit „die Serben“ sogar für die schlechte Kartoffelernte und Anfang der 1980er-Jahre in Serbien der Kosovo für alle Missstände verantwortlich gemacht wurden, und 2) die Ablehnung jeglichen Automatismus: „Buchstäblich in jedem Moment der historischen Entwicklung gab es für jeden Menschen individuelle Entscheidungsspielräume. Niemand kann sich auf [...] Kultur oder die Eigendynamik der Gewalt herausreden, um von seiner Verantwortung für Krieg und Massenverbrechen abzulenken. Nichts war unumkehrbar, nichts unvermeidlich.“ (S. 344)

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