U. Herrmann u.a. (Hrsg.): Junge Soldaten im Zweiten Weltkrieg

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Titel
Junge Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Kriegserfahrungen als Lebenserfahrungen


Herausgeber
Herrmann, Ulrich; Müller, Rolf-Dieter
Erschienen
Weinheim 2010: Beltz Juventa
Anzahl Seiten
446 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Kerstin Theis, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Frage nach Kriegserlebnissen und Kriegserfahrungen beschäftigt die Forschung seit den 1980er-/90er-Jahren intensiv und ist wesentlich durch den 2008 abgeschlossenen, einschlägigen Tübinger Sonderforschungsbereich vorangetrieben worden.1 Einem nach wie vor bestehenden Desiderat widmet sich der vorliegende Sammelband, indem er gezielt die Erfahrungen junger deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg in den Blick nimmt. Die 16 Beiträge beruhen größtenteils auf einem 2002 abgehaltenen Symposium des Arbeitskreises für Historische Jugendforschung und des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes.

Im Zentrum stehen die Kriegserfahrungen „junger Soldaten“ während des Zweiten Weltkriegs mit Blick „auf eine bisher vernachlässigte Extremsituation“ (S. 11), die sich im Militärdienst, im Kampfeinsatz, in der Verwundung, während der Kriegsgefangenschaft und der Kriegsfolgenbewältigung junger Kriegsteilnehmer manifestierte und eine hohe Prägekraft für ihre Persönlichkeitsformung besaß. Anknüpfend an die Historische Jugendforschung2 und Forschungen etwa zu Kriegserfahrungen, Disziplin und Kameradschaft im Militär3, beziehen sich die übergeordneten Fragestellungen des Bands darauf, (1.), welche Erfahrungen die jungen Wehrmachtsoldaten im Kriegsverlauf sammelten, prägten, artikulierten und verarbeiteten, (2.), welche Bewältigungsstrategien und -muster sie dabei entwickelten und nutzten, und, (3.), welche lebensgeschichtlichen Implikationen das Kriegserlebnis für sie bedeutete. Zu Grunde liegt ein Verständnis von Generation als „Generations-‚Einheiten‘ im Kontext umfassenderer Generations-‚Lagerungen‘ von benachbarten Geburtsjahrgängen“ (S. 16) und eine altersmäßige Definition von Jugendlichen/jungen Soldaten, die von den Jahrgängen 1914-1920 („ältere“ Junge) und 1921-1929 („jüngere Junge“) bis hin zur Obergrenze von 25 Jahren reicht.

Im Zentrum steht ebenfalls der Ansatz einer psychohistorischen Kriegsgeschichte „von innen“, den Ulrich Herrmann in seinen einleitenden Beiträgen darlegt – in Rekurs auf Überlegungen zu einer „Militärgeschichte in der Erweiterung“ (Kühne/Ziemann) und einer „Militärgeschichte von unten“ (Wette)4. Herrmann erweitert diese Perspektiven um eine „Kriegsgeschichte als Prägungs- und Erlebnisgeschichte“, welche die Erfahrungen und Innenperspektiven der jungen Soldaten im Kriegseinsatz zum Gegenstand hat und sie in einen psychosozialen und psychohistorischen Analyserahmen einbettet. Als Analysekategorien schlägt er Phasenmodelle von soldatischen Selbstdeutungen und Verhaltensweisen vor, wie sie etwa der „Terror-Management-Ansatz“ (Cachay) implementiert, um die „Verdrängungsleistungen fürs Überleben und die damit einhergehenden Selbststabilisierungen prozessual-begrifflich und dialektisch zu fassen“ (S. 38).

Als Ausgangslage nimmt zunächst Andreas Kunz kenntnisreich die Geburtskohorten junger Soldaten unter die Lupe und widmet sich den Ursachen, Grundzügen und organisatorisch-strukturellen Rahmenbedingungen, unter denen die Wehrmacht im Zeichen des „totalen Kriegs“ mit Kriegsverlauf immer jüngere Soldaten rekrutierte. Ein weiteres Forschungsdesiderat bearbeitet Michael Buddrus, indem er den Kriegseinsatz der Hitler-Jugend 1944/45 untersucht, der sich von Grenz- und Schanzarbeiten bis zu Panzervernichtungseinheiten spannte. Auch hier zeigt sich, dass die Wehrmacht und das NS-Regime die Jugendlichen spätestens ab 1944 als kriegswichtige „Ressource“ in ihren Dienst nahmen und die Altersgrenzen der Rekrutierten stetig senkten. Vervollständigt wird das Bild mit Rüdiger Overmans Bestandsaufnahme zu den jugendlichen deutschen Kriegsgefangenen (Geburtsjahrgänge 1927ff.), der er zwei autobiographische Berichte zu ihren subjektiven Erfahrungen in russischer und amerikanischer Kriegsgefangenenschaft (Willy Birkemeyer, Manfred Messerschmidt) anfügt.

Das Kriegserleben steht sodann im Fokus der Beiträge von Klaus Latzel, Hannes Heer, Jens Ebert und Magnus Koch. Latzel plädiert am Beispiel der Dichotomie der Kriegserfahrung von „Töten und Getötet-werden“ dafür, die Perspektive der Verletzbarkeit stärker zu berücksichtigen, wenn es um die Ambivalenzen der soldatischen Kriegserfahrung von Gewalt geht. Heer geht den Kriegserfahrungen junger Soldaten an der Ostfront und der Frage nach, wie sie die Widersprüche und Spannungen ihrer Erlebnisse aushielten. Er konstatiert dabei zwei Leben der Soldaten: das äußere Kriegsleben und eine „Flucht nach Innen“ (S. 160). Jens Ebert leuchtet aufschlussreich die Reflektionen von jungen Wehrmachtangehörigen während ihrer Zeit im Kessel von Stalingrad aus literaturwissenschaftlicher Perspektive anhand von Feldpostbriefen aus. Magnus Koch spürt Verarbeitungsstrategien eines jungen Deserteurs (Gerhard Selck) nach. Er zeigt, wie verschieden dieser, je nach existentieller Situation, seine Kriegserfahrungen und männlichen Selbstbilder 1942 und 2002 darlegte und dabei dem Wandel gesellschaftlicher Männlichkeitsvorstellungen unterworfen war.

Einen letzten Schwerpunkt des Sammelbands bilden Zeitzeugenberichte, die der Publikation dadurch teilweise auch den Charakter eines Quellenbands verleihen. Zu nennen sind hier die Interviews von Ulrich Herrmann mit zwei Opfern der NS-Militärjustiz (Horst Bendekat, Ludwig Baumann) und ehemaligen jungen Wehrmacht-Soldaten (Helmut Arndt, Erhard Eppler, Hartmut von Hentig, Norbert Kloten, Jürgen Moltmann, Carl Weiss) über die lebensgeschichtliche Bedeutung ihrer Kriegserlebnisse. Traugott Wulfhorst liefert überdies einen persönlichen Erfahrungsbericht als 1927 geborener Soldat und Richter für Kriegsopferversorgung in der BRD, und erläutert in diesem Kontext auch die Entwicklung der Rechtsgrundlage der Kriegsopferversorgung. Lothar Hilbert schildert zudem sein „Lernerlebnis“ an der „Oberschule kriegsgefangener Soldaten“ in britischer Gefangenschaft 1945/46.

Der Beitrag von Ulrich Linse rundet diese Sektion zur Erinnerungsarbeit ab. Er beleuchtet die Erinnerungskultur an „junge Helden“ im akademischen Milieu der Universität München am Fallbeispiel der Gefallenen-/Kriegerdenkmäler im „Lichthof“ mit einem breiten zeitlichen Bogen vom Wilhelminismus bis in die BRD. Offenkundig wird hier, wie eng der Erinnerungskult jeweils mit den Gründungsmythen und politischen Diskursen der Nachkriegsgesellschaften verknüpft war.

Die Publikation zeigt insgesamt ein vielschichtiges Panorama der Kriegserfahrungen junger Wehrmachtangehöriger im Zweiten Weltkrieg auf. Ihr gebührt der Verdienst, die Thematik damit für weitere Forschungen eröffnet und umfassend dargelegt zu haben. Denn deutlich wird bei der Lektüre: Die soldatischen Selbstdeutungen und Erfahrungen gestalteten sich ambivalent und variierten je nach persönlichem Einsatz-Kontext. Zu denken ist hier an Ort, Kriegsphase und Dauer des Kampfeinsatzes, die Waffengattung und Einheit des Soldaten sowie dessen Zugehörigkeitsgefühl zur Truppe und sein Identifikationsgrad mit der NS-Herrschaft. Im Verbund mit den vielschichtigen Einflussfaktoren der nationalsozialistischen Propaganda, der wehrmachtinternen Rekrutenausbildung und Gehorsamsproduktion sowie interner Kameradschafts- und Männlichkeitsbilder und vormilitärischer Sozialisierung ist ein Bündel an Prägekräften für die Analyse der Kriegserfahrungen virulent. Erschwerend hinzu tritt die Quellenproblematik, da das Gros der Soldaten ihr Kriegserleben weder verbalisierte noch dokumentierte.

Wünschenswert wären ein Aufsatz, der dezidiert das psychosoziale und -historische Analysewerkzeug thematisiert, sowie Rückbezüge hierauf in den Einzelbeiträgen gewesen, um so noch genauer die Möglichkeiten einer erweiterten „Kriegsgeschichte von innen“ nachvollziehen zu können. Der Ansatz droht hierdurch streckenweise etwas blass zu geraten, was aber sicher auch der Sammelband-Form geschuldet ist und nun Aufgabe zukünftiger Arbeiten ist, diese überaus anregende Perspektiverweiterung in einer umfassenderen Studie umzusetzen.
Evident macht der Band auch Forschungslücken, die etwa in Hinblick auf die Unterschiede zur Kriegserfahrung und ihrer Verarbeitung bei älteren Kriegsteilnehmern und weiblichen Jugendlichen im Kriegseinsatz bestehen sowie bei Vergleichen zu jungen, nichtdeutschen Soldaten und jungen Militärangehörigen während des Ersten Weltkriegs.

Anmerkungen:
1 Als Bilanz des Tübinger SFBs und Bestandsaufnahme zur Forschungssituation der Sammelband von Georg Schild / Anton Schindling / Dietrich Beyrau (Hrsg.), Kriegserfahrungen - Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue Horizonte der Forschung, Paderborn 2009. Eine Gesamtbibliographie listet ab S. 302 alle im Kontext des SFBs entstandenen Studien auf.
2 Exemplarisch etwa die Studien zu Jugendbewegungen/-kulturen und jungen Kriegsfreiwilligen u.a. von Gudrun Fiedler, Jugend im Krieg. Bürgerliche Jugendbewegung. Erster Weltkrieg und Sozialer Wandel 1914-1923, Köln 1989; Dietmar Schenk, Die Freideutsche Jugend 1913-1919/20. Eine Jugendbewegung in Krieg, Revolution und Krise, Münster 2000.
3 Zum Themenkomplex der Kriegserfahrungen siehe exemplarisch auch Nikolaus Buschmann / Horst Carl (Hrsg.), Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001. Zur Kameradschaft und Disziplin im Militär: Ulrich Bröckling, Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion, München 1997; Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006.
4 Angelehnt an Thomas Kühne / Benjamin Ziemann, Militärgeschichte in der Erweiterung. Konjunkturen, Interpretationen, Konzepte, in: dies., (Hrsg.), Was ist Militärgeschichte? Paderborn 2000, S. 9-46; Wolfram Wette (Hrsg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1982.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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