Cover
Titel
Bloodlands. Europe Between Hitler And Stalin


Autor(en)
Snyder, Timothy
Erschienen
New York 2010: Basic Books
Anzahl Seiten
524 S.
Preis
$29.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Grzegorz Rossolinski-Liebe, Berlin

„The bloodlands were where most of Europe’s Jews lived, where Hitler and Stalin’s imperial plans overlapped, where the Wehrmacht and the Soviet Army fought, and where the Soviet NKVD and the German SS concentrated their forces“ (S. xi) – so definiert Timothy Snyder ein Gebiet, in dem zwischen 1933 und 1945 ca. 14 Millionen Menschen von dem nationalsozialistischen und dem sowjetischen Regime ermordet wurden (S. 409). Geopolitisch bestehen Snyders bloodlands aus den Gebieten Vorkriegspolens, der Ukrainischen und Weißrussischen SSR, Litauens, Lettlands und Estlands sowie einem dünnen Weststreifen der Russischen SSR (S. xi). Diese Räume waren „no political territory, real or imagined; they are simply where Europe’s most murderous regimes did their most murderous work“ (S. xviii). In diesen Gebieten, so Snyder, verwandelten Hitler und Stalin „people into numbers“. Das Anliegen des Autors ist es, „to turn the number back into people. If we cannot do that, then Hitler and Stalin have shaped not only our world, but our humanity“ (S. 408).

Snyder versucht dieses Vorhaben in elf Kapiteln umzusetzen. Er beginnt die Darstellung mit der großen Hungersnot (Holodomor), bei der in der Ukrainischen SSR 1932-1933 3,3 Millionen Menschen starben. Der Autor räumt zwar ein, dass die Hungersnot die Folge des ersten Fünfjahresplanes war, in dem die Landwirtschaft zwangskollektiviert wurde, er meint aber auch, dass Stalin mit ihr das Problem des Nationalismus in der Ukrainischen SSR lösen wollte (S. 24, 43-44). Das politische Ziel bestand auch darin, die Klasse der Kulaken, die ein ideologisch konstruiertes Feindbild war, mit Hilfe planmäßiger Lebensmittelentziehung und Deportationen zu liquidieren (S. 25). Die Hungersnot wurde von bolschewistischen Truppen verursacht, die sämtliche Nahrungsmittel und alles Saatgut der Bauern beschlagnahmten. Der Autor schildert in diesem Kapitel einige grauenhafte Details, wie den verbreiteten Kannibalismus und den Menschenfleischhandel (S. 48-52): „One six-year-old girl, saved by other relatives, last saw her father when he was sharpening a knife to slaughter her.“ (S. 50) Mit der Beschreibung jener Wachtürme, von denen aus junge Kommunisten die Äcker der hungernden Bauern überwachten, zieht Snyder Parallelen zwischen der Hungersnot und dem Holocaust (S. 39, 45), ohne sie jedoch explizit gleichzustellen. Dennoch kommt er zu der Überzeugung, dass die Ukraine einem „giant starvation camp, with watchtowers“ ähnelte (S. 45).

Der Große Terror der Jahre 1937-1938, bei dem der NKVD 681.692 Menschen liquidierte (S. 107), ist die nächste Stufe des Terrors in den bloodlands (S. 81). „A team of just twelve Moscow NKVD men shot 20.756 people at Butovo, on the outskirts of Moscow, in 1937 and 1938.“ (S. 83) Die größte nationale Gruppe unter den Opfern des Terrors waren Polen, von denen 143.800 wegen „Spionage“ verhaftet und 111.091 liquidiert wurden (S. 103).

In weiterer Folge geht Snyder den Konsequenzen des Molotow-Ribbentrop-Paktes nach, dem die Besetzung der Zweiten Polnischen Republik im Westteil von Nazideutschland und im Ostteil durch die Sowjetunion folgte. Damit stieg im September 1939 die Zahl der Juden im Deutschen Reich und den unter der nationalsozialistischen Verwaltung stehenden Gebieten um ein Vielfaches (S. 131f.), was signifikanten Einfluss auf die Suche nach einer praktikablen Lösung der so genannten „Judenfrage“ hatte. Die Sowjetunion deportierte aus den besetzten Gebieten rund 315.000 Menschen verschiedener Nationalität, verhaftete ca. 110.000, von denen rund 30.000 erschossen wurden und weitere 25.000 in Gefängnissen starben (S. 151). Beide Regime „ergänzten“ sich in ihren mörderischen Bemühungen zu dieser Zeit, was man beispielsweise an jenen 78.339 Personen ersehen kann, die im Juni 1940 von den Sowjets nach Kasachstan und Sibirien deportiert wurden; 84 Prozent dieser Deportierten waren Juden, die im September 1939 vor den Nazis in die Sowjetunion geflohen waren (S. 141).

Dies änderte sich mit dem Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges am 22. Juni 1941, als die deutschen Einsatzgruppen mit den systematischen Massenerschießungen von Juden begannen (S. 191-193, 198-200). Die Ermordung von 5,4 Millionen Juden, von denen die meisten polnische oder sowjetische Staatsbürger waren, beschreibt Snyder ebenso sachlich und ausführlich wie andere Massenverbrechen der Nazis und Sowjets in den bloodlands: Damit bettet er die Shoah in die Vernichtung der 14 Millionen Opfer der bloodlands ein. Er arbeitet auch heraus, wie sich die Pläne der NS-Führung bezüglich der Lösung der „Judenfrage“ von der Idee eines jüdischen Reservats in Lublin, Madagaskar oder Birobidschan über Massenerschießungen im Sommer 1941 und erste „experimentelle“ Vergasungen in LkWs zu den „death factories“ wandelten (S. 144, 185).

Hunger als Massenvernichtungswaffe wurde in den bloodlands ein weiteres Mal nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges eingesetzt. Zwischen Sommer 1941 und 1944 ließen die deutschen Besatzer insgesamt 4,2 Millionen Sowjet-Bürger verhungern (S. 411); 2,6 Millionen von ihnen waren sowjetische Kriegsgefangene (von denen insgesamt 3,1 Millionen umgebracht wurden (S. 184)). In Weißrussland wurden unter dem Titel der „Partisanenbekämpfung“ 320.000 Menschen erschossen, von denen die wenigsten tatsächlich Partisanen waren (S. 250f.). Städte wie Warschau, Minsk oder Leningrad verloren innerhalb kurzer Zeit rund die Hälfte ihrer Bevölkerung (S. 309).

In den folgenden Abschnitten des Buches beschäftigt sich der Autor mit dem „ethnic cleansing“, den Zwangsumsiedlungen, infolge deren gegen Ende des Krieges und in der Nachkriegszeit einige Millionen Deutsche, Polen, Ukrainer und andere aus ihrer Heimat vertrieben wurden, im letzten Kapitel geht er überdies auch auf den nach dem Krieg in der Sowjetunion und in Polen grassierenden Antisemitismus ein, ein – angesichts des unmittelbar vorhergegangenen Holocaust – besonders befremdliches Phänomen.

Gegen Ende seiner Ausführungen äußert der Autor die Überzeugung, dass „the image of the German concentration camps as the worst element of National Socialism is an illusion“ (S. 382), da „by the time the gas chambers and crematoria complex at Birkenau came on line in spring 1943, more than three quarters of the Jews who would be killed in the Holocaust were already dead“ und weil über 90 Prozent aller Menschen, die durch die Sowjetunion und NS-Deutschland in den bloodlands ermordet wurden, bereits tot waren, als die „death factories“ überhaupt erst in Betrieb genommen wurden (S. 383).

Obwohl Snyder sich deklariert dazu bekennt, gegen die „international competition of martyrdom“ und gegen die „romantic justification of mass murder“ (S. 401) anzuschreiben, gibt es in seiner Studie dennoch einige Probleme, die interessanterweise zum Teil gerade diesen Bereichen zuzuordnen sind. So steht der Autor zwar dem Nationalismus überwiegend kritisch gegenüber, benutzt aber dennoch wiederholt unreflektiert Begriffe aus nationalistischen Diskursen wie zum Beispiel jenen der „unabhängigen Ukraine“ (zum Beispiel S. 407). Nur am Rande sei erwähnt, dass die Denkfigur der „Bloodlands“ nicht ohne eine legitimierende Erzählung auskommt: So könnte die Einbettung der 14 Millionen Opfer der bloodlands in die 55 Millionen Opfer des Zweiten Weltkrieges den besonderen Status der bloodlands in Frage stellen. Bei der Beschreibung des Schicksals der polnischen und sowjetischen Kriegsgefangenen entsteht überdies der Eindruck, dass die Vernichtung der polnischen Gefangenen, die unter der Chiffre Katyń als eine zentrale Leidensgröße in die polnische Nationalmythologie eingegangen ist, das weitaus dramatischere Ereignis gewesen wäre, während in Wahrheit die Zahl der getöteten sowjetischen Kriegsgefangenen um mehr als das hundertfache höher war (S. 133-141 und 175-186).

Das Hauptproblem der Monographie liegt jedoch in der Frage der Einbeziehung jener Formen von Terror in den bloodlands, die weder von der sowjetischen noch von der nationalsozialistischen Seite ausgingen, sowie in jener der Kollaboration verschiedener ultranationalistischer, antisemitischer und faschistischer Gruppen mit dem NS-Regime. Zwar blendet der Autor die Kollaboration von Balten und Ukrainern und den Terror faschistisch-nationalistischer Organisationen wie der OUN nicht vollkommen aus – abgesehen von der polnischen Kollaboration 1 –, jedoch schreibt er diesen Phänomenen nur geringe Bedeutung zu. Dies wäre dann berechtigt, wenn man allein Zahlen als die einzige Orientierungsquelle heranzieht, da diese Gruppen tatsächlich weitaus weniger Opfer als die Nazis und Sowjets verursachten. Damit würden aber die Vernichtungsmethoden dieser Gruppen und Bewegungen, ihre Involvierung in den Holocaust sowie ihre Ideologien im Prinzip gegenüber jenen der Nazis und der Sowjets verniedlicht. Es sind aber Fälle dokumentiert, in denen Juden in die von Nazis kontrollierten Arbeitslager flüchteten, um dem Terror der ukrainischen „Freiheitskämpfer“ zu entkommen.2

Problematisch ist in Snyders Darstellung überdies die starke Konzentration auf das kollektive Leiden und den patriotischen Kampf der Polen unter Hitler und Stalin, demgegenüber der in den unteren Führungsschichten der polnischen Heimatarmee verbreitete Antisemitismus 3 nicht angemessen berücksichtigt wird. Aus diesen und einigen ähnlichen Gründen ist die Geschichte des Terrors in den bloodlands unter Hitler und Stalin wohl uneindeutiger, vielfältiger und komplizierter, als sie hier präsentiert wird, ohne dass die Zahlen, an denen sich der Autor orientiert, falsch wären.

Anmerkungen:
1 Für die polnische Kollaboration mit Nazi-Deutschland siehe z.B.: Klaus-Peter Friedrich, Zusammenarbeit und Mittäterschaft in Polen 1939-1945, in: Christoph Dieckmann / Babette Quinkert / Tatjana Tönsmeyer (Hrsg.), Kooperation und Verbrechen. Formen der „Kollaboration“ im östlichen Europa 1939-1945, Göttingen 2003, S. 113-150.
2 Archiwum Żydowskiego Instytutu Historycznego, 301/3337, Hilary Koenigsberg, Bl. 14.
3 Frank Golczewski, Die Heimatarmee und die Juden, in: Bernhard Chiari (Hrsg.), Die polnische Heimatarmee. Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg, München 2003, S. 635-676, insbesondere S. 664.

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