M. Diawara u.a. (Hrsg.): Historical Memory in Africa

Cover
Titel
Historical Memory in Africa. Dealing with the Past, Reaching for the Future in an Intercultural Context


Herausgeber
Diawara, Mamadou; Lategan, Bernard; Rüsen, Jörn
Reihe
Making Sense of History 12
Erschienen
Oxford 2010: Berghahn Books
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 69,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Brahm, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Der vorliegende Band, der Beiträge zur Erinnerungsforschung mit einem regionalen Schwerpunkt auf Afrika versammelt, geht auf ein internationales Forschungsprojekt des Stellenbosch Institute for Advanced Study und des Kulturwissenschaftlichen Instituts Nordrhein-Westfalen zurück. Den Herausgebern geht es nicht nur um Funktionen historischer Erinnerung in der Gegenwart, sondern dezidiert auch um die in der Regel weniger beachtete Frage, in welcher Beziehung Erinnerung zu Zukunftsentwürfen steht. Einleitend wird die sinnstiftende Funktion von Erinnerung herausgestellt. In Hinblick auf Zukunftsentwürfe plädieren die Herausgeber dafür, Geschichte „gegen den Strich“ zu lesen und einen Perspektivwechsel dergestalt vorzunehmen, dass dem zukünftig Möglichen eine Priorität gegenüber dem gegenwärtig Realen eingeräumt wird. Auf diese Weise könne der dominante erinnerungsdiskursive Modus der Rechtfertigung durchbrochen werden.

Im ersten Teil des Bandes (acht Beiträge) liegt der regionale Schwerpunkt auf Afrika, insbesondere auf Südafrika. Elísio Macamo geht auf die sozialwissenschaftliche Theoriebildung als einen spezifischen Modus der temporalen Sinnstiftung ein. Er legt sich die Frage vor, warum sich keine spezifisch afrikanische Soziologie entwickelt habe. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Feststellung, dass die Entwicklung der Soziologie in Europa eine Ordnung stiftende Antwort in der Suche nach Gemeinschaft vor dem Hintergrund sozialen Wandels war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren für Afrika, schreibt er, ähnliche Bedingungen gegeben. Der soziale Wandel wurde, wie er am Beispiel des südlichen Mosambiks aufzeigt, im Zuge des Kolonialismus jedoch „eingefroren“. Auch Mamadou Diawara setzt sich mit dem Entwicklungsparadigma auseinander, in dem mit einem Fokus auf die Zukunft die Gegenwart von der Vergangenheit differenziert werde. Um die Kluft zwischen den Development Studies, der Geschichtswissenschaft und der Ethnologie zu überwinden, bedürfe es eines Blickes jenseits konkreter Entwicklungsprojekte, der Abkehr von einer simplifizierten Opfergeschichte sowie einer stärkeren Berücksichtigung der vorkolonialen und der afrikanischen Zeitgeschichte. Während Entwicklungsexperten und Ethnologen oftmals lokales Wissen einbeziehen, ohne dessen historische Gebundenheit zu reflektieren, werde lokales Wissen in den historischen Wissenschaften zu selten Beachtung geschenkt.

Annekie Joubert erinnert daran, dass eine orale und performative Erinnerungskultur bis heute wichtige Funktionen für afrikanische Gemeinwesen im südlichen Afrika einnimmt. Unabhängig von der Quellenproblematik müsse das Vergangene in der Form der mündlichen Tradition in sein eigenes Recht gesetzt werden. Joubert geht auf die spezifische Form der praise poetry ein und führt hierzu Beispiele aus, die unter anderem die Funktion der Vermittlung eines gemeinschaftlichen Sicherheitsgefühls verdeutlichen, aber auch zeigen, dass praise poetry als eine „history from below“ Gegenperspektiven zu dominanten Geschichtserzählungen etablieren kann. Bogumil Jewsiewicki geht sogar davon aus, dass in der gegenwärtigen afrikanischen Erinnerungskultur eine Herrschaft legitimierende historische Meistererzählung kaum mehr zu erlangen ist; vielmehr sei von einem Nebeneinander multibler lokaler Erinnerungen auszugehen. Einer detemporalisierten Erinnerung an historische Entrechtung komme indes eine besondere Bedeutung auch für die nationale Profilierung im internationalen Kontext zu. Justin Bisanswa zeigt am Beispiel Kongos, dass im Falle konfligierender Erinnerungen eine Ambiguität des Vergangenen erzeugt werden könne. Er setzt sich kritisch mit der verfügbaren Literatur zu den Ereignissen im Osten des Landes in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre auseinander und konstatiert in diesen Texten die Dominanz der Außenperspektive, die sich mit einer kulturalistischen und dichotomischen Interpretation der Konflikte verband.

Albert Grundlingh untersucht, wie der früher so genannte „Zweite Burenkrieg“ im neuen Umfeld des demokratisierten Südafrikas erinnert wurde. Die 100. Wiederkehr des Kriegsausbruchs im Jahr 1999 stellte für die nationale Geschichtspolitik ein heikles Thema dar. Grundlingh zeigt auf, wie aus dem „Zweiten Burenkrieg“, der auf eine lange Tradition sektiererischer Geschichtspolitik verweist, der „Südafrikanische Krieg“ wurde, unter Herausstellung seiner Opfer in allen Bevölkerungsgruppen Südafrikas. Bezüglich der Erinnerung an den Krieg innerhalb der Afrikaaner-Community macht Grundlingh zwar nostalgische Züge, jedoch auch eine mehrheitlich kritische Haltung zur früheren ethnozentrischen und traditionalistischen Interpretation aus. Weniger optimistisch äußert sich indes Patrick Harries, der auf die tiefen kommunalen Spaltungen der Erinnerungslandschaft im heutigen Südafrika als Konsequenz der Apartheid verweist. Er zeichnet die Entstehung des rassistischen „Südafrikanismus“ mit seinem erinnerungskulturellen Bildhaushalt nach, welcher die schwarze Mehrheit von der Nation ausschloss. In der Post-Apartheids-Ära sei zwar eine stärker auf Konsens gerichtete Geschichtspolitik etabliert worden, doch fehle es insbesondere an einer Aufarbeitung der Funktionsweise des Apartheid-Systems. Eine sich stärker artikulierende kommunale Erinnerungskultur könne ein gewisses Gegengewicht zur staatlichen Erinnerungspolitik darstellen und marginalisierten Gemeinschaften Chancen bieten. Bernard Lategan schließlich diskutiert die Frage nach dem Zukunftspotential von Erinnerung und verfolgt die These, dass Erinnerung eine Grundlage bereiten könne, um im Sinne eines Orientierungspunktes zwischen konfligierenden Positionen zu vermitteln. Zukunftserwartungen müssten aber auch kritisch hinsichtlich ihrer Vorannahmen analysiert werden. Teleologische Zukunftsorientierungen sieht er in einer entzauberten Welt als wenig haltbar an und plädiert für eine offene Betrachtung der Zukunft, die dem Möglichen Priorität einräume. „Remembering with the Future in Mind“ müsse überdies die Fragilität des menschlichen Daseins realisieren und die Möglichkeit des Erinnerns sowie des Vergebens eröffnen.

Im zweiten, kürzeren Teil des Bandes folgen je ein Beitrag aus dem deutschen, indischen und dem koreanischen Kontext. Jörn Rüsen bietet einen Überblick über den westdeutschen Umgang mit dem Holocaust nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In Bezug auf eine vergegenwärtigende diachrone und intergenerationelle Identitätsbildung macht er drei Phasen aus (Concealment, Moralization, Historicization) und stellt fest, dass das historische Bewusstsein der Bedeutung des Holocausts mit zeitlichem Abstand gewachsen ist. Abschließend setzt sich Rüsen mit der Trauer als einer Strategie des Umgangs mit traumatischen Ereignissen auseinander, die eine in der postmodernen Welt unterschätzte stärkende Wirkung für die Betroffenen haben könne, eine Integrationskraft des Vergangenen beinhalte und die Chance zum Vergeben eröffne. Ranjan Ghosh kritisiert in seinem Beitrag den Rückgriff auf Mythen einer indischen Vor-Geschichte in der Repräsentation der Vergangenheit und die darauf gründende Behauptung einer distinkten indischen Geschichte. Am Beispiel des Erinnerungsortes von Ayodhya als Geburtsstätte Ramas zeigt er die selektive Mediation historischer Fakten für eine ethnozentrische Erinnerungspolitik auf, wobei er als Besonderheit die Rolle der Religion hervorhebt. Han Sang-Jin wirft hingegen die Frage auf, wie mit Schuldigen umzugehen ist, die ihre Schuld nicht eingestehen. Er führt hierzu den Fall des früheren südkoreanischen Militärdiktators Chun Doo-hwan an, der eine Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen nicht eingestehen wollte, dem gleichwohl vom späteren Präsidenten Kim Dae-jung ohne Bedingungen vergeben wurde. Han Sang-Jin gibt einen im Rahmen einer Universitätsrede Kim Dae-jungs entstandenen Dialog zwischen dem Präsidenten und einem Studierenden wider, der diese Haltung des Präsidenten kritisch hinterfragte. Dae-jung argumentierte, dass Vergebung auch ohne Schuldeingeständnis möglich sein müsse, allerdings würde erst letzteres den Weg zur Aussöhnung ebnen.

Der dritte Teil des Bandes enthält zwei Beiträge zur Praxis der Aufarbeitung, insbesondere zur Frage der Vergebung. Pumla Gobodo-Madikizela, die bekannte südafrikanische Psychologin, geht auf Beispiele aus der südafrikanischen Truth and Reconciliation Commission (TRC) ein, deren Mitglied sie war. Zahlreiche Fragen wirft der von ihr geschilderte Fall Eugene de Kocks auf. In den Verhandlungen der TRC hatte der berüchtigte Schlächter des Apartheidregimes das Schweigen gebrochen und aufgrund seiner als echt wahrgenommenen Reue Vergebung seitens zweier Witwen von Apartheidopfern erfahren. Gobodo-Madikizela kommt nach Interviews mit dem Verurteilten zu dem Ergebnis, dass es de Kock vornehmlich darum gegangen sei, Humanität zurückzugewinnen, die durch Vergeben gewährt werde könne. Nicht-Vergeben bedeute indes, die Tür zu einer möglichen Transformation zuzuschlagen. Abschließend ist die Eröffnungsrede von Eva Mozes Kor zu einem Symposium in Berlin im Jahr 2001 abgedruckt. Die Auschwitz-Überlebende berichtet über ihre Erfahrungen in dem Vernichtungslager, wo sie Opfer der menschenverachtenden Zwillings-Versuche Mengeles wurde. Im zweiten Teil ihrer Rede geht sie auf ihren späteren Umgang mit den traumatischen Erfahrungen ein. Sie begann in den 1980er-Jahre die Suche nach anderen Überlebenden und setzte sich mit der Frage einer Vergebung des KZ-Arztes Hans Münch auseinander.

Der vorliegende Band belegt insgesamt eindrucksvoll die einleitend formulierte These, dass „afrikanische Erfahrungen“ einen reichen Fundus für die Erforschung von Erinnerung darstellen, dass diese jedoch gleichzeitig nicht einzigartig sind, sondern auf allgemeine und universelle Probleme verweisen (S. 4). Es wäre allerdings eine substantiellere Auseinandersetzung mit spezifischen Herausforderungen wünschenswert gewesen, die sich in zahlreichen afrikanischen Staaten gerade hinsichtlich der Medialisierung von Erinnerung stellen. Was bedeutet es, wenn die Geschichte Afrikas überwiegend außerhalb Afrikas geschrieben wird und viele Menschen vor Ort gar nicht erreicht? Welche Konsequenzen haben mangelnde Publikationsmöglichkeiten für die lokale Historiographie, welche die angespannte Situation zahlreicher historischer Archive? Diese Fragen klingen in den Beiträgen zwar gelegentlich an, bedürfen aber dringend einer stärkeren Thematisierung.

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