Cover
Titel
Zersetzen. Strategie einer Diktatur


Autor(en)
Pingel-Schliemann, Sandra
Reihe
Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs 8
Erschienen
Anzahl Seiten
413 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christof Geisel

In der Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs legt Sandra Pingel-Schliemann ein weiteres Buch zum Thema Stasi vor. Seine Lektüre dürfte nicht nur beim Rezensenten einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen. Zum einen teilt man die Entrüstung der Autorin über die dokumentierten „Zersetzungsmaßnahmen“. Ihr Fazit – „auch ohne den politisch Verfolgten je äußere Gewalt anzutun, gelang es dem MfS, sie unmenschlich, grausam und erniedrigend zu behandeln“ (S. 353) – trifft fraglos den Kern der Sache. Andererseits gesellt sich zur Empörung aber immer wieder ungläubiges Staunen über das absurde Missverhältnis zwischen Aufwand und Resultat der MfS-Aktivitäten. Selbst wenn diese sämtlich das gewünschte Ziel, sprich: die politische Neutralisierung der jeweiligen Zielperson(en) erreicht hätten, wären sie, unterstellt man eine kühle Logik des Machterhalts, insofern kontraproduktiv gewesen, als der massive Einsatz von Personal, Geld und Intelligenz jeder Kosten-Nutzen-Rechnung Hohn sprach.

Bei einem Gutteil der „Operativen Vorgänge“, die uns Pingel-Schliemann vor Augen führt, verfehlte das MfS die selbstgestellten Zielsetzungen, so dass die „Maßnahmen“ zwar persönliches Leid verursachten, nicht aber ihren politischen Zweck erreichten. Fallbeispiele wie die (S. 237-249) umfassend dokumentierte, sich über fast zwei Jahrzehnte hinziehende Verfolgung des thüringischen Pfarrers Walter Schilling („OV Reaktionär“ bzw. „OV Spinne“) zeugen von beträchtlicher Perfidie; mitunter auch von hoher krimineller Energie. Als Nachweis einer durchgreifend wirksamen Unterdrückungsmaschinerie taugen sie jedoch schwerlich. Eher bestätigen sie Wolfgang Rüddenklaus Wort von der „komischen Repression“, welche die letzte Dekade der Honecker-DDR geprägt und dazu geführt habe, "dass Oppositionelle nicht nur relativ sicher vor Haftstrafen sein konnten, sondern sich auch in den wiederholten Verzweiflungsübergriffen der Staatssicherheit profilieren konnten“ 1 Desgleichen fühlt man sich an Wolfgang Ullmanns Erkenntnis erinnert, nach der das hypertrophe Mielke-Ministerium letztlich „an der Fülle der Informationen gescheitert“ sei. [taz, 14.1.1992].

Dies ändert jedoch nichts an den gravierenden Folgen, welche die Zersetzungsaktivitäten im privaten und gesellschaftlichen Leben der davon Betroffenen hinterließen. Mag manchen Facetten des Stasi-Treibens noch eine gewisse Komik anhaften – man denke an Requirierung von „Geruchsproben“ (S. 148), die auffällige Akkuratesse, mit der gefälschte, vermeintlich von gesetzestreuen Christen verfasste Briefe den Ton eines bigotten Untertanenkonservatismus trafen (S. 249 f. und S. 291), oder den Usus, derlei Material als „Kompromat“ zu bezeichnen (S. 236) -, wird einem spätestens bei der Schilderung, wie Freundschaften und Liebesbeziehungen zerstört oder Kinder gegen die eigenen Eltern gehetzt wurden (S. 253 ff.), speiübel. Und zwar umso mehr, als diese „Maßnahmen“ nach geltenden Rechtsmaßstäben in aller Regel nicht justitiabel sind, den z. T. bis heute nachwirkenden Verletzungen also eine fast vollständige Straflosigkeit der Täter entgegensteht (vgl. S. 356 f.).

Angesichts der Ängste und Traumata, die die Stasi-Aktivitäten gesät haben, mag der obige Verweis auf die faktische Ineffizienz des MfS deplaziert, ja degoutant erscheinen. Da sich die Autorin mit der Dokumentation ihrer Archivstudien nicht zufrieden gibt, sondern deren Resultate partout (totalitarismus)theoretisch aufbereitet wissen will, kommt man um diesen Aspekt aber nicht herum. Nach ihrer Deutung lag der „Zersetzung“ ein ausgefeiltes und mit hoher Präzision zur Anwendung gebrachtes Repressionsszenario zugrunde, das dem Honecker-Regime das Gepräge eines „subtilen Totalitarismus“ verlieh. Wir sehen uns somit inmitten der anhaltenden Debatte, ob und inwieweit die späte DDR ein totalitärer Staat war. Für Pingel-Schliemann ist sie entschieden.

So firmiert die Forderung, es müsse „dem Einwand begegnet werden, das allmähliche Verschwinden des offenen Terrors (..) widerspreche einer Charakterisierung der DDR als totalitäre Diktatur“, auch nicht als Schlussfolgerung der Studie, sondern eröffnet (S. 30) deren Einführungskapitel. In dem wird – vor allem unter Rückgriff auf Carl Joachim Friedrich - der Begriff des „subtilen Totalitarismus“ entwickelt. Dies kulminiert am Ende eines historischen Abriss´ („Vom offenen Terror zur Zersetzung: Der Wandel der Repression“, S. 75 ff.) in der These, dass „Honeckers Abkehr vom offenen Terror der Ulbricht-Ära (..) keinen Bruch mit dem totalitären Herrschaftsanspruch der SED“ bedeutete (S. 108), die vierzigjährige Geschichte der DDR mithin ´aus einem Guss` gewesen sei.

Ob es eine glückliche Entscheidung war, diesen Exkurs den eigentlich faktenorientierten Abschnitten des Buches („´Operationsbereich` politische Opposition“, S. 109 ff. und „Zersetzungsstrategien und –maßnahmen des MfS“, S. 187 ff.) voranzustellen, sei einmal dahingestellt. Ebenso die Frage, ob die Wortschöpfung „subtiler Totalitarismus“ nicht – gleich einem „gewaltlosen Massenmord“ – einen begrifflichen Widerspruch in sich darstellt. Das eigentliche Problem besteht darin, dass die „Maßnahmen“, die uns die Autorin vor Augen führt, ihren theoretischen Prämissen nur sehr bedingt gerecht werden.

Pingel-Schliemann ist sich bewusst, dass noch der „subtilste“ Totalitarismus die Präsenz eines konsistenten, zentral vorgegebenen und exekutierten Repressionsmechanismus voraussetzt. Entsprechend nimmt sie (S. 93 bzw. S. 105) mit der „Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge“ vom 1. Januar 1976 den „methodische(n) Übergang zur leisen Zerstörung von Menschen“ wahr, der vom MfS genauso akribisch geplant und umgesetzt worden sei, wie ihn die um Entspannung bemühte westdeutsche Öffentlichkeit geflissentlich übersehen habe. Jedoch wiederspricht dieser These schon das Detail, dass man (vgl. S. 130) bei der Anwerbung von „Informellen Mitarbeitern“ regional höchst unterschiedlich verfuhr. Vor allem aber liefern die quellengestützten Abschnitte des Buches immer wieder Beispiele, die nicht nur einen akuten Kompetenzwirrwarr innerhalb des MfS belegen (vgl. S. 132, S. 328 mit Anm. 73 u.a.), sondern auch darauf schließen lassen, dass die Ära Honecker bis zu ihrem Ende von einem gleichsam institutionalisierten Dauerkonflikt zwischen grundsätzlicher Repressionsbereitschaft und tagespolitischen Opportunitätsüberlegungen geprägt war (vgl. S. 103 und S. 281).

Zudem schreibt die Autorin den subjektiven Motiven der mit der Zersetzung beauftragten MfS-Leute ein beträchtliches Eigengewicht zu: „Je mehr ein Mitarbeiter den als ´feindlich-negativ` stigmatisierten Menschen gehasst hat, je verinnerlichter sein Feindbild war und je weniger moralische Hemmschwellen er kannte, um so skrupelloser, kaltherziger und demütigender konnte er seine ´Zielperson` traktieren.“ (S. 286). All dies kennzeichnet aber eher Militärdiktaturen, als dass es den Bestimmungskriterien totalitärer Systeme entspricht. Überhaupt fühlt man sich ob der kategorialen Bedeutung, die Pingel-Schliemann dem MfS zumisst, ein wenig an das Bonmot Klaus von Beymes erinnert, wonach totalitäre Führer und Totalitarismustheoretiker „eines gemeinsam“ hatten: „Sie glaubten an die Wirksamkeit der Sicherheitsapparate.“ 2.

Gemessen an den massenmörderischen Methoden, dessen sich der nominelle Stalinismus zu bedienen pflegte, ist das Diktum vom „offenen Terror der Ulbricht-Ära“ zumindest unpräzise. Abgesehen davon, dass es in der jungen DDR zu keinen Schauprozessen à la Rajk, Kostow und Slánski kam, war das Vierteljahrhundert, in dem Walter Ulbricht die Geschicke der SBZ/DDR bestimmte, durchaus von Zäsuren gekennzeichnet, die eine (und sei es nur temporäre, taktisch bedingte) Zügelung oder gar Stornierung des „Terrors“ zur Folge hatten.

Sehr viel fragwürdiger scheint mir jedoch die Behauptung, „hinter der Fassade politischer Normalität“ habe bis zum Abgesang des Regimes im Jahr 1989 der „totalitäre Maßnahmestaat“ getobt. Immerhin bezieht sich Pingel-Schliemann hier (S. 105 mit Anm. 112) ganz bewusst auf einen Terminus, der gemeinhin der Beschreibung nationalsozialistischer Herrschaftspraxis vorbehalten ist. Dass ein Ulbricht-Nostalgiker ihrer Kontinuitätsthese vehement widerspricht, indem er die Honecker-Jahre durch „die Preisgabe eigener Ziele für das Zugeständnis bloßer Herrschaft“ geprägt sieht 3, mag zunächst nicht viel bedeuten. Erstaunlicherweise wird sein Befund aber durch Selbstzeugnisse einer Opposition verifiziert, deren halböffentliche Existenz während der achtziger Jahre ja schon für sich ein Distinktionsmerkmal zu den Gepflogenheiten der Ulbricht-Ära darstellt.

Ganz anders als in polnischen Dissidentenkreisen, wo der „Totalitarismus“ zwar nur selten theoretisch-wissenschaftlich elaboriert wurde, als "subjektiver Begriff, der genau wie ´Demokratie` oder ´Freiheit` auf einem Werturteil beruht", aber allgegenwärtig war 4, fand er im DDR-Samisdat keinen nennenswerten Niederschlag. Mochten viele Ex-Oppositionelle in den neunziger Jahren auch die „Totalität der geistigen und politischen Herrschaft der SED" 5 geißeln, attestierten sie ihr zu Lebzeiten statt „totalitärer“ Entschlossenheit eher fortschreitende Ratlosigkeit. So begrüßte Ehrhart Neubert schon vor der Wende eine schnell voranschreitende Dekomposition des Systems: „Die monistischen Strukturen, die alles und jeden einbinden, unerbittliche Platzanweiser sind und gesellschaftliche Kommunikation zu Einbahnstrassen machen, zerfallen“ 6. Und bezeichnenderweise evozierten die Vorgänge um die Berliner Luxemburg-Liebknecht-Demonstration, die Pingel-Schliemann (S. 66) als „beispielhaft für die politische und ideologische Beharrungsfähigkeit der SED und ihres ´Schildes und Schwertes`“ erachtet, im DDR-Samisdat Spekulationen über innerparteiliche Konflikte, die in einen Appell an „die dialogwilligen Kräfte innerhalb der SED“ mündeten, „endlich Farbe zu bekennen und Position zu zeigen“ 7.

Natürlich hielt die SED sogar noch nach dem Sturz Erich Honeckers an dem ideologischen Konstrukt fest, das die Identität von Partei, Staat und Gesellschaft postulierte und damit einer Opposition jedes Existenzrecht bestritt. Zugleich ist aber unübersehbar, dass dieser Anspruch seit den späten siebziger Jahren verhandelbar und immer weniger rigoros umgesetzt wurde. Analog zu der Äußerung Timothy Garton Ashs [S. 288], der Mord an Jerzy Popiełuszko habe ihn eher an El Salvador als an die „klassische totalitäre Repression“ erinnert, ähnelte auch die späte DDR mehr einer chaotischen Bananenrepublik als einem totalitären Zwangsstaat.

Wenn Pingel-Schliemann dies ungeachtet ihres Staunens, „wie begrenzt Einfluss und Kontrolle von SED und MfS-Spitze auf die Arbeit der MfS-Mitarbeiter im letzten Jahrzehnt der DDR waren“ (S. 218), anders sieht, kann man ihr zugute halten, dass es die Totalitarismustheorie längst nicht mehr gibt, und das Wort „totalitär“ seit Hannah Arendt eine Inflationierung erfahren hat, die in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu seiner analytischen Tiefenschärfe steht 8. Gleichwohl sollte sie sich in Erinnerung rufen, dass die Menschenrechte während der siebziger und achtziger Jahre in zahlreichen (selbst formaldemokratischen) Staaten ungleich massiver verletzt wurden als in der DDR. Nicht umsonst betonten prominente Oppositionsvertreter, als sie sich am 12. Oktober 1987 mit Parlamentariern der CDU/CSU trafen, diese ließe „sich im übrigen nicht mit Chile und Südafrika vergleichen“ 9.

Es liegt dem Rezensenten fern, die Verbrechen der SED-Machthaber relativieren zu wollen. Sehr wohl aber stellt sich ihm die Frage, ob eine Charakterisierung der Honecker-Ära als "totalitär" – und mehr noch deren Vergleich mit dem Nationalsozialismus (vgl. S. 87) – nicht eine unfreiwillige Verharmlosung der monströsesten politischen Gräueltaten des 20. Jahrhunderts impliziert. Um nicht des „Anti-Antikommunismus“ 10 geziehen zu werden, sei denn auch an die Bemerkung Hannah Arendts erinnert, nach der der Antikommunismus während des Kalten Krieges zu einer „offiziellen ´Gegenideologie`“ geriet, welche „gleichfalls dazu neigt, einen Anspruch auf Weltherrschaft zu entwickeln, und uns dazu verleitet, nun unsererseits einer Fiktion nachzuhängen; denn er verbietet uns prinzipiell, die verschiedenen kommunistischen Einparteiendiktaturen, denen wir in der Realität gegenüberstehen, von einem echten totalitären System zu unterscheiden“ 11.

Dass Sandra Pingel-Schliemanns Buch an die „Zersetzungsopfer“, ihr „Recht auf gesellschaftliche und politische Anerkennung“ (S. 361) und die formalrechtlichen Gegebenheiten, die dem entgegenstehen, erinnert, ist Grund genug, es zur Lektüre zu empfehlen. Ob die Autorin den vergessenen MfS-Opfern gerecht wird oder gar nützt, indem sie die Totalitarismuskeule schwingt, wage ich freilich zu bezweifeln.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Rüddenklau, Störenfried: DDR-Opposition 1986-1989, Berlin 1992, S. 362.
2 Klaus von Beyme, Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt a. M. 1994, S. 32.
3 Thomas Neumann, Die Maßnahme: Eine Herrschaftsgeschichte der DDR, Reinbek 1991, S. 168.
4 Eckhard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert: Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996, S. 412.
5 Ders., Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Berlin, 1998 [2. Aufl.], S. 26.
6 Ehrhart Neubert, Gesellschaftliche Kommunikation im sozialen Wandel: Auf dem Weg zu einer politischen Ökologie, edition kontext, Ost-Berlin, Oktober 1989, S. 26.
7 Umweltblätter, 12.2.1988; zit. nach Rüddenklau, S. 203 bzw. S. 223.
8 Lothar Fritze, Essentialismus in der Totalitarismusforschung; in: Achim Siegel (Hg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln 1998, S. 143-166, S. 146 f.
9 Ralf Hirsch, Lew Kopelew (Hg.), Initiative Frieden und Menschenrechte: “Grenzfall” – Vollständiger Nachdruck der in der DDR erschienenen Ausgaben, Berlin 1989, S.132.
10 Eckhard Jesse, Die Wechselbeziehungen der beiden Großtotalitarismen; in: Siegel, Totalitarismustheorien, 1998, S. 125-142, hier S. 126.
11 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1993, S478.

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