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Titel
Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders


Autor(en)
Stangneth, Bettina
Erschienen
Hamburg 2011: Arche Verlag
Anzahl Seiten
656 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Krause, Geisteswissenschaftliche Sektion, Universität Konstanz

Die spektakuläre Gefangennahme des ehemaligen SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann durch den israelischen Geheimdienst in Argentinien (1960) und der sich anschließende, nicht minder aufsehenerregende Strafprozess in Jerusalem (1961/62) haben nicht nur dazu geführt, dass der Name „Eichmann“ zum Synonym für die vielen NS-„Schreibtischtäter“ geworden ist. Darüber hinaus trug die immense öffentliche Aufmerksamkeit für den Fall dazu bei, dass das „Phänomen Eichmann“ (S. 13, dort auch in Anführungsstrichen) und die vielen damit verbundenen Bilder die konkrete Person Eichmann zu überlagern begannen. Vor allem über Eichmanns Leben nach dem Krieg, seine Flucht und seine Zeit im argentinischen „Exil“ ranken sich bis heute verschiedene Gerüchte. Immer wieder diskutiert wird auch die Frage, ob er aus innerer Überzeugung an der Ermordung der Juden mitgewirkt habe oder in seiner Position als Leiter des für die Organisation der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden zuständigen Referats des Reichssicherheitshauptamtes der SS „nur“ ein seelenloser Bürokrat gewesen sei.

In den letzten Jahren sind einige neue Studien über Eichmanns Biografie sowie über den Jerusalemer Prozess publiziert worden, die zum Teil auf erstmals zugänglichen Dokumenten beruhen.1 Diese Arbeiten korrigieren das zuvor dominante, maßgeblich durch Hannah Arendts berühmten Prozessbericht „Eichmann in Jerusalem“ geprägte Bild Eichmanns als „Bürokrat des Massenmordes“, der nicht aus eigenem Antrieb und aus Hass, sondern aus „Mangel an Vorstellungskraft“ (Arendt) getötet bzw. das Töten organisiert habe. Mit dem vorliegenden Buch von Bettina Stangneth – das ausdrücklich auch eine Auseinandersetzung, „ein Dialog“ mit Hannah Arendt sein möchte (S. 22) und dies schon im Titel erkennen lässt – kommt ein weiteres Werk hinzu. Auf der Grundlage von zum Teil erst in den letzten Jahren freigegebenen Dokumenten versucht Stangneth herauszuarbeiten, wer und vor allem was Eichmann war. Dabei wählt sie einen indirekten Weg, indem sie fragt, wem Eichmann bekannt war, bevor er in Israel vor Gericht gestellt wurde (vgl. S. 11). Diese zunächst irritierende Perspektive eröffnet einen ungeahnt weiten Horizont, denn sie rückt sowohl die Frage nach dem Fremdbild als auch die Frage nach der „Selbstinszenierung“ Eichmanns in den Fokus der Aufmerksamkeit (S. 13).

Ausgehend von der Grundthese, dass Eichmann – ganz im Gegensatz zu seinen eigenen Behauptungen im Jerusalemer Gerichtssaal – keineswegs der unbedeutende und unbekannte Referent gewesen sei, sondern ein gefürchteter und bekannter Drahtzieher des Massenmordes, schildert die Autorin besonders im ersten Teil des Buches (S. 30-87) eindrücklich seinen Karriereweg. Auf dem Weg nach oben habe Eichmann es geschickt verstanden, sich gezielt und durchaus auch öffentlich in Szene zu setzen. Gegenüber den Juden habe er seine Macht herausgestellt, und gegenüber den Mitarbeitern anderer Dienststellen und Behörden des NS-Regimes habe er immer wieder darauf geachtet, dass seine „Leistungen“ als „Fachmann für Judenangelegenheiten“ angemessen wahrgenommen und gewürdigt worden seien. Diese These, dass Eichmann in seiner Zeit als „Judenreferent“ bewusst an seinem „Image“ gearbeitet habe, ist ungewöhnlich, erscheint aber auf der Basis des ausgebreiteten Materials und auch der jüngeren Forschungen überaus plausibel: Eichmann wollte „bedeutend“ sein und wurde bekannt – und so hatte er allen Grund, nach dem Ende des Krieges unterzutauchen und schließlich 1950 nach Argentinien zu fliehen.

Vor dem Hintergrund dieser Befunde und Überlegungen richtet Stangneth ihren Blick auf die Nachkriegszeit, insbesondere auf die Zeit von Eichmanns argentinischem „Exil“. Mit Hilfe seiner zahlreichen Selbstzeugnisse sowie den Ausführungen einer Reihe von Zeitzeugen stellt sie die These auf, dass es Eichmann nicht ertragen habe, in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Er habe sich nicht nur seinen Anteil am „Ruhm“ sichern wollen, sondern sei weiterhin ein überzeugter Nationalsozialist und rassistischer Antisemit gewesen, der an den (Wahn-)Ideen des „Blutes“ und des Rassenkrieges festgehalten habe. Diese Kombination habe dazu geführt, dass er sich im Kreise der in Argentinien versammelten Ewiggestrigen darin gefiel, über seine wichtige Rolle bei der Umsetzung der „Endlösung“ sehr offen und nahezu unverblümt zu reden.

Das Schlüsseldokument zur Absicherung dieser These – wie auch für das gesamte Buch – ist neben den Aufzeichnungen, die Eichmann in Argentinien selber angefertigt hat, vor allem das „Sassen-Interview“, das Stangneth einer ausführlichen Analyse und Neubewertung unterzieht. Eindrücklich arbeitet sie dabei zunächst heraus, dass dieses Gespräch weit mehr war als „nur“ ein Interview zwischen dem ehemaligen niederländischen SS-Mann und Kriegsberichterstatter Willem Sassen und Adolf Eichmann. Vielmehr handelt es sich dabei um die Aufzeichnungen einer Serie von Gesprächen, die Eichmann im Jahr 1957 über mehrere Monate hinweg in Sassens Haus in Buenos Aires mit einer ganzen Phalanx alter Nazis geführt hat. Ziel dieses Unternehmens sei es gewesen, Eichmanns Memoiren zu einem Buch zu verarbeiten und im rechtextremen „Dürer-Verlag“ des argentinischen Nationalsozialisten und Hitler-Bewunderers Eberhard Fritsch zu veröffentlichen. Das gesamte Interview-Material umfasst mehrere hundert Seiten Transkripte und eine Anzahl von Tonbändern. Es ist nach und nach über verschlungene Wege in den letzten Jahrzehnten an die Öffentlichkeit gelangt, nachdem Sassen bereits kurz nach der Gefangennahme Eichmanns Teile des Materials an die Presse verkauft hatte. Einiges davon war auch in die Hände der israelischen Staatsanwaltschaft gelangt. Stangneth leistet eine breite und detailreiche Analyse dieses umfangreichen Materials, die an einzelnen Stellen des Buches aufgrund der Fülle an ausgebreiteten Informationen etwas unübersichtlich zu werden droht. Sie zeichnet das Bild eines karrierebewussten, „fanatischen Nationalsozialisten“ (S. 16), der aus tiefster Überzeugung die Ermordung der europäischen Juden vorangetrieben und auch noch nach dem Krieg an seiner antisemitischen Rassenideologie festgehalten habe. Sie zeigt uns einen Mann, dem es gelungen sei, sich in jeder Situation geschickt zu inszenieren, seinen Vorteil zu suchen und zu finden; einen Mann, der es selbst noch im Gerichtssaal von Jerusalem – als es darum ging, seinen Hals zu retten – geschafft habe, der Weltöffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen und sich erfolgreich manchem Prozessbeobachter als „kleines Rädchen im Getriebe“ darzustellen.

Aber das Buch bietet noch mehr: Es gibt einen Einblick in jene schauerlich anmutenden Kreise alter Nazis, die in ihrem komfortablen südamerikanischen Exil den alten Ideen nachhingen und auf eine Rückkehr an die Macht hofften. Zudem wird deutlich, dass Eichmann mitnichten still und verschämt unter dem Namen „Ricardo Klement“ an einem dunklen Ort fernab der Welt lebte, sondern dass er innigen Kontakt zu alten Kameraden pflegte, die sich gegenseitig stützten und halfen – zumindest so lange, wie es zum eigenen Vorteil war. Auch dieser Aspekt macht eine Lektüre des Buches lohnend und wirft die – auch von Bettina Stangneth angesprochene – Frage auf, warum Eichmann nicht früher gefasst worden ist.

Kritisch anzumerken ist, dass der Stil des Buches bisweilen allzu stark ins Journalistische tendiert. Und auch die an verschiedenen Stellen allzu detailreiche Informationsfülle macht die Lektüre etwas mühsam und birgt die Gefahr, dass sich der Leser im Dschungel der Querverweise verliert. Aber diese Mängel verblassen vor dem Hintergrund der geleisteten Archivarbeit und vermögen den Wert des Buches nur in geringem Maße zu schmälern.

Nicht zuletzt lenkt das Buch die Aufmerksamkeit darauf, dass eine kritische Edition der „Argentinien-Papiere“, insbesondere der „Sassen-Transkripte“ sowie der von Eichmann in der israelischen Haft verfassten Texte, bislang fehlt. Dieses mehrere tausend Seiten umfassende Material dürfte einmalig sein. Es böte die Chance, dem abgründigen Denken der Mörder weiter auf die Spur zu kommen, um so die Mechanismen des „Verwaltungsmassenmordes“ (Arendt) sowie die personellen und institutionellen Verflechtungen noch klarer herauszuarbeiten.

Anmerkung:
1 Zu nennen sind hier vor allem David Cesarani, Adolf Eichmann. Bürokrat und Massenmörder – Biografie, Berlin 2004 (siehe dazu meine Rezension, 9.2.2005: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-106> [18.8.2011]); Irmtrud Wojak, Über Eichmanns Memoiren. Ein kritischer Essay, Frankfurt a.M. 2001 (rezensiert von Susanne Benöhr, 22.4.2002: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/NS-2002-013> [18.8.2011]); sowie Hanna Yablonka, The State of Israel vs. Adolf Eichmann, New York 2004.