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Titel
Arkadien. Mythos und Wirklichkeit


Autor(en)
Santillo Frizell, Barbro
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
188 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Heitz, Archäologisches Institut, Georg-August-Universität Göttingen

Der Autorin und Direktorin des Schwedischen Instituts in Rom kam bereits vor 20 Jahren, wandernd auf alten Hirtenwegen Süditaliens, der Gedanke, das vorliegende Buch zu schrieben. Süditalien? Das mag befremdlich erscheinen, erschließt sich aber sehr schnell aus der Tatsache, dass hier nicht die zentralgriechische Landschaft gemeint ist, sondern tatsächlich das, was der Untertitel des Werkes schon andeutet: Frizell geht dem gedanklichen Konzept ‚Arkadien‘ auf den Grund, der generellen Idee von pastoraler Landschaft und Lebensstil, die sich mit diesem Begriff verknüpft. Und deutlich mehr als das: die Autorin skizziert die zentrale Bedeutung, die der pastoralen Lebensart in der Antike zukam und die tatsächlich in der modernen Forschung zu oft in den Hintergrund getreten ist. Frizell kann zeigen, dass es sich bei der Viehwirtschaft, und zwar insbesondere der Wanderweidewirtschaft, weniger um einen marginalisierten Wirtschaftszweig als vielmehr um einen bedeutenden ökonomischen wie sozialen Faktor handelte.1

Frizell hat das recht schmale Buch anschaulich und systematisch in nahezu gleich große Kapitel gegliedert, die einen umfassenden Überblick über das Thema und seine unterschiedlichen Facetten geben sollen. Ausgehend von einer kürzeren Einleitung (S. 12-19), in der auf Grundbegriffe wie Wanderweidewirtschaft und die Erläuterung des primär genutzten archäologischen, bildlichen und literarischen Quellenmaterials eingegangen wird, spannt Frizell einen weiten Betrachtungsbogen, der von der Einbettung pastoraler Kultur in die antike Landschaft (S. 20-55) über deren Mythen (S. 56-90), die konkreten Produkte der pastoralen Ökonomie (S. 91-125) bis zur Tierpflege und den oft damit verbundenen wichtigsten pastoralen Heiligtümern und Gottheiten führt (S. 126-153). Ein ebenfalls kurz gehaltener Epilog (S. 154-168) schließt die Erörterungen und knüpft die Verbindung zu gegenwärtigen Zuständen.

Die zentrale Bedeutung der Ziegen- und ganz besonders natürlich der Schafzucht für die antike und nachantike Wirtschaft bis weit ins späte Mittelalter hinein, seit der Domestikation dieser Tiere vor über 11.000 Jahren, wird von Frizell an wunderbar anschaulichen Beispielen verdeutlicht. Schon im Vorwort zeigt Frizell anhand der prächtigen, von der Gilde der Wollhändler gestifteten Kuppel der Kirche Santa Maria del Fiore in Florenz, wie tief verwurzelt die Schaftzucht und wie einflussreich ihr Umfeld lange Zeit im Mittelmeerraum gewesen ist. Bis heute prägen die Spuren der weiträumigen Wanderweidewirtschaft das Bild mediterraner Landschaften (sogenannte tratturi, meist Spuren des mittelalterlichen Dogana-Systems).2 Frizell zeigt, wie sehr der Mittelmeerraum mit seinen natürlichen topographischen Gegebenheiten (salzige Küstenmarschen und bewaldetes, hügeliges Hinterland) und seinem Klima (gemäßigte Winter an den Küsten, nicht zu warme Sommer in den Bergen) diesen Wirtschaftszweig favorisierte und quasi ideale Bedingungen für eine extensive Nutzung schuf. Sie verdeutlicht, wie eng eine in größerem Stil praktizierte Transhumanz auch mit der nichtpastoralen Wirtschaft und Gesellschaft verknüpft sein musste, um ihre Existenz zu gewährleisten – sei es durch Wegerechte und Kontrolle über die Weiden und Wanderwege, sei es durch die Entwicklung von Städten als Abnehmer der Produkte. Dabei greift sie weit über die römische Zeit aus und betont die Bedeutung der Wollproduktion und -verarbeitung schon für die Herrschersitze der mykenischen Zeit. Selbst die Ursprünge und die Entwicklung Roms können mit der zentralen Rolle von Salz, das als Nahrungsergänzung und Konservierungsstoff in der Viehwirtschaft eine herausragende Bedeutung besitzt, eng mit der Prosperität des pastoralen Lebens verbunden werden (S. 46-52).

Aber es ist nicht nur die wirtschaftliche Seite des pastoralen Lebens, die Frizell beleuchtet. Das Leben der Hirten, am Rande der Zonen, in denen sich kulturelles Leben entwickelte und in die diese immer wieder und meist kurz eindrangen, erschien aufgrund dieser Tatsache entrückt, fast mythisch. So war auch der menschenfressende Polyphem im Mythos ein Schafhirte. Der pastorale, vom Stadtleben getrennte Lebensraum erscheint angefüllt mit Monstern und Gottheiten, der Hirte fast als halbtierisch. So auch der klassische Hirtengott Pan, der als Ziegenbock nichts von der Sanftheit der Schafe besitzt. Jedoch sind auch große Gottheiten, allen voran Herakles und Hermes, Schützer der Hirten und Herden und viele große Feste pastoralen Ursprungs (Parilia, Lupercalia). Frizell zeichnet diese zentrale Stellung des pastoralen Lebens in der gesellschaftlich-religiösen Ideenwelt bis zum christlichen „guten Hirten“ nach – hier erscheinen ihre Ausführungen aber aufgrund des sehr weiten Bogens teilweise eher assoziativ.

Im folgenden Kapitel listet Frizell die Produkte, die aus der Zucht von Schafen zu gewinnen sind, auf: Von Fleisch, Milch und Wolle geht es über Knochenwerkzeuge bis zur Pergamentherstellung – Frizell gibt für alles Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen der Antike. Wie weit die Verarbeitung dieser Produkte und damit auch die Viehhaltung selbst Einfluss auf die gesamte Gesellschaft hatte, verdeutlicht sie anhand eines Beispiels aus dem Mythos: Penelope war als Gattin des Königs Odysseus mit dem Weben beschäftigt – eine Tätigkeit, die spezialisiert und ausschließlich im Hause nur von Frauen der Oberschicht vorgenommen werden konnte, während einfache Frauen auch auf dem Feld mitarbeiten mussten. So wurde Weben zum Kennzeichen für hohen gesellschaftlichen weiblichen Status. Analogien zur elitären Textilverarbeitung finden sich von den Komödien des Aristophanes bis in die Propaganda des Augustus. Aber auch in der Gestaltung der Umwelt hinterließ die Viehwirtschaft, insbesondere die Wanderweidewirtschaft, Spuren – wie etwa kleine, zur Käseherstellung verwendete Hütten, die sogar heute noch im kretischen Ida-Massiv sichtbar sind.

Herden waren eine sehr anfällige und wertvolle Ressource, weshalb ihre Pflege von höchster Wichtigkeit für das Funktionieren dieser Ökonomie war. Insbesondere der Befreiung von Ungeziefer kommt deshalb hohe Bedeutung zu. In der Antike wurde dazu das Bad der Herde in schwefelhaltigen Quellen und Seen genutzt, und Frizell offenbart dem Leser eine ganz besondere Erkenntnis: Sie kann wahrscheinlich machen, dass der antike Kurort Tibur/Tivoli mit seinem bedeutenden Herkulesheiligtum und später mit der von Kaiser Hadrian dort erbauten prächtigen Landvilla ganz besondere Bedeutung für die wandernden Hirten und Herden hatte. Hier finden sich heute fast ausgetrocknete schwefelhaltige Seen, die Aquae Albulae, die den wandernden Hirten als wichtige Anlaufstation zwischen den Sommerweiden in den Abruzzen und dem Winterquartier in der Campagna diente. Tatsächlich führt eine breite Straße durch die Substruktionen des Herkulesheiligtums. Quasi unter den Augen des Herkules, als Schutzgott der Hirten und Herden genauso wie der Wege und des Handels, konnten hier die Herden passieren und gezählt werden. Diese Gottheit eignete sich wie keine andere zur Verbindung mit dem Herdentrieb, und sowohl am Forum Boarium in Rom als auch am zivilisatorischen Ende des Auftriebwegs in Alba Fucens befand sich an zentraler Stelle ihr Tempel.

Obwohl Frizell in ihrem Buch Beispiele aus vielen Kulturen und Regionen nennt, konzentriert sie sich in ihren Ausführungen auf Süditalien bzw. Apulien.3 Das tut dem ansprechenden Gesamteindruck des Werkes, das ein oft vernachlässigtes, weil aus der heutigen Ökonomie fast verschwundenes Phänomen in seiner zentralen Bedeutung für die antike Wirtschaft zurück in den Fokus rückt und das Thema zudem auch für Laien sehr anschaulich aufarbeitet, keinen Abbruch. Der Band wird durch die reiche, teils farbige und gut ausgewählte Bebilderung optisch ansprechend ergänzt. Der Anmerkungsapparat, obwohl für die deutsche Ausgabe extra nochmals erweitert, präsentiert sich sehr zurückhaltend und für Fachwissenschaftler wohl etwas zu spartanisch.

Anmerkungen:
1 Ähnliches hat, allerdings explizit auf die römische Zeit bezogen, schon Joan M. Frayn, Sheep-rearing and the wool trade in Italy during the Roman Period. ARCA classical and medieval texts, papers and monographs 15, Liverpool 1984, betont.
2 Die Bedeutung der Transhumanz wurde immer wieder erkannt und hervorgehoben und ist gerade für den süditalienischen Raum bereits Objekt verschiedener Forschungen gewesen, siehe z.B. Udo Sprengel, Die Wanderherdenwirtschaft im mittel- und südostitalienischen Raum, Marburg 1971; Jens E. Skydsgaard, Transhumance in Ancient Italy, in: Analecta Romana Instituti Danici 7 (1974), S. 7-36; Gerhard Waldherr, Das System der calles (Herdenwanderwege) im römischen Italien – Entstehung und infrastrukturelle Bedeutung, in: Eckart Olshausen / Holger Sonnabend (Hrsg.), Zu Wasser und zu Land. Verkehrswege in der antiken Welt. Stuttgarter Kolloquium zur historischen Geographie des Altertums 7, 1999, Stuttgart 2002, S. 429-444; etwas umfassender ders., Antike Transhumanz im Mediterran. Ein Überblick, in: Peter Herz / Gerhard Waldherr (Hrsg.), Landwirtschaft im Imperium Romanum (Pharos 14), St. Katharinen 2001, S. 331-357.
3 Wie bedeutend aber beispielsweise gerade Transhumanz auch in anderen mediterranen Gebieten, nicht zuletzt auch für deren Kulttopographie, ist, zeigt beispielsweise Beate Wagner-Hasel, Kommunikationswege und die Entstehung überregionaler Heiligtümer: das Fallbeispiel Delphi, in: E. Olshausen / H. Sonnabend (Hrsg.), Zu Wasser und zu Land [s. Anm. 2], S. 160-180.

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