C. Sachse (Hrsg.): »Mitteleuropa« und »Südosteuropa« als Planungsraum

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Titel
»Mitteleuropa« und »Südosteuropa« als Planungsraum. Wirtschafts- und kulturpolitische Expertisen im Zeitalter der Weltkriege


Herausgeber
Sachse, Carola
Reihe
Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert 4
Erschienen
Göttingen 2010: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
430 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Müller, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Universität Leipzig

Dieser Sammelband ist ein Ergebnis des von der Herausgeberin Carola Sachse an der Universität Wien geleiteten Projektes „‚Ergänzungsraum Südosteuropa‘. Konzepte und Strategien des Mitteleuropäischen Wirtschaftstags und die Europapolitik im Zeichen der Südosterweiterung“. Abgesehen von eventuell möglichen Schlussfolgerungen für die aktuelle Europapolitik, die im Band nicht thematisiert werden, eröffnet die Geschichte des Mitteleuropäischen Wirtschaftstages (MWT) neue Perspektiven auf eine ganze Reihe von in der historischen Forschung zuletzt intensiv diskutierten Problemen. Dies gilt nicht nur für die Planungsgeschichte bzw. die Rolle von Wissenschaftlern und akademischen Institutionen im Nationalsozialismus. Der Band bietet auch eine differenziertere Sicht auf die Mitteleuropakonzeptionen der Zwischenkriegszeit, die häufig allzu leicht als direkte Vorläufer aggressiver deutscher Hegemonialpolitik oder als unmittelbare Vorgeschichte der (west-)europäischen Integration der Nachkriegszeit gedeutet werden. Außerdem ist die Entwicklung des MWT geeignet, die Handlungsspielräume und -zwänge der deutschen Wirtschaft im NS-System zu verdeutlichen. Schließlich eröffnet die Untersuchung der vom MWT durchgeführten Projekte die Chance, Südosteuropa eben nicht allein als passiven „Ergänzungsraum“ und Objekt der nationalsozialistischen Vorbereitung und wirtschaftlichen Absicherung des Krieges zu sehen, sondern auch die Interessen und Einflussnahmen südosteuropäischer Akteure zu berücksichtigen.

In der Einführung erklärt Carola Sachse die Bedeutungen von „Mitteleuropa“ und „Südosteuropa“ in den zeitgenössischen Diskursen, resümiert die älteren Forschungen zur Geschichte des MWT und gibt einen Ausblick auf die einzelnen Beiträge. Im folgenden Aufsatz über die „‚Ehe von Schornstein und Pflug‘. Utopische Elemente in den Raumvorstellungen des Mitteleuropäischen Wirtschaftstags in der Zwischenkriegszeit“ beschreibt Sachse, wie der 1925 in Österreich gegründete MWT seit 1931 durch seine „Deutsche Gruppe“ dominiert wurde. Diese Umgründung des MWT beruhte auf dem „Abschluss einer mehrjährigen verwickelten und widersprüchlichen Sammlungsbewegung der deutschen Wirtschaft“ (S. 56). Radikalprotektionistische ostelbische Großagrarier, ruhrindustrielle Anhänger einer gelenkten Wirtschaft und eingeschworene Freihändler im Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHT) konnten sich auf ein gemeinsames, zunächst noch relativ vages Ziel verständigen: die Herstellung eines mitteleuropäischen Großwirtschaftsraums. Dieses Konzept wurde maßgeblich von rechten Intellektuellen im Umfeld des von der deutschen Wirtschaft nun finanziell unterstützen MWT und der Zeitschrift „Volk und Reich“ entwickelt, wobei man ältere Vorstellungen von der deutschen zivilisatorischen Überlegenheit mit der vorgeblichen Fürsorge für das „Auslandsdeutschtum“ und jüngerer Volkstumsideologie verband. Auch wenn der MWT somit zum Vordenker der nationalsozialistischen Außenwirtschaftspolitik wurde, ließ sein Einfluss nach der Machtergreifung nach, so dass sich der MWT zunehmend auf die Realisierung einzelner Projekte konzentrierte. Carl Freytag, dessen Monographie über den MWT in Kürze erscheinen wird 1, zeigt in seinem Beitrag über Südosteuropa-Konzepte und die Positionierung des MWT nach dem „Anschluss“ Österreichs, wie sich der MWT in der Konkurrenz mit anderen, direkter mit dem nationalsozialistischen Staats- und Parteiapparaten verbundenen Organisationen, wie etwa der Wiener Südosteuropa-Gesellschaft, behaupten konnte. Die langfristig angelegte MWT-Konzeption einer begrenzten Industrialisierungsförderung in den südosteuropäischen Ländern konnte sich allerdings gegen konkurrenzscheue deutsche Unternehmen sowie mit Fortgang des Krieges vor allem gegen das Interesse einer möglichst umfassenden Ausbeutung der kriegswirtschaftlich relevanten Ressourcen nicht durchsetzen.

Die 14 Beiträge wurden vier Teilen zugeordnet. Im ersten Abschnitt über „institutionelle Akteure“ findet sich neben den bereits erwähnten Aufsätzen von Sachse und Freytag ein Beitrag von Nils Müller über die vielfältigen Bestrebungen des ungarischen Ökonomen Elemér Hantos und der von ihm in Wien, Brünn und Budapest gegründeten Mitteleuropa-Institute, einen gemeinsamen mitteleuropäischen Markt zu schaffen, dem Deutschland allerdings zunächst nicht angehören sollte. Ansonsten waren Hantos’ Überlegungen und Ziele denen des MWT, gerade auch in Bezug auf Südosteuropa, sehr ähnlich. Stephen Gross beschäftigt sich mit dem 1927 gegründeten Dresdner Mitteleuropa-Institut, das die außenwirtschaftlichen Interessen der traditionell sehr eng mit den mitteleuropäischen Nachbarstaaten verflochtenen sächsischen Wirtschaft vertrat und dabei – wie auch der MWT – auf Exportförderung durch die Vergabe von Stipendien für die Ausbildung ausländischer Studenten in Deutschland setzte. Der Dresdner Institutsleiter, Walter Lörch, wollte mit „Auslandskulturpolitik“ die „Herzen der Menschen“ (S. 134) erobern, um die deutsche Vorherrschaft in Mittel- und Südosteuropa zu legitimieren, aber auch die Repressionskosten zu senken. Gleichzeitig galt die Arisierung jüdischen Eigentums als geeignetes Mittel zur Schaffung einer deutschfreundlichen Wirtschaftselite.

Die Beiträge des zweiten und dritten Teiles beschäftigen sich mit der Rolle von Medien und einzelnen Akteuren bei der Konzeption deutscher Südosteuropapolitik sowie mit südosteuropäischen Debatten über die eigene sozio-ökonomische Situation. Konkret geht es hier um konservative und agrarsozialistische Vorschläge zur Lösung des Problems der „agrarischen Übervölkerung“ sowie um Vor- und Nachteile der Einbeziehung Jugoslawiens in einen deutschen „Ergänzungswirtschaftsraum“. Als wichtige Medien werden die Berliner Zeitschrift „Volk und Reich“ sowie die von Franz Ronneberger von 1939 bis 1944 in Wien herausgegebene Reihe „Wochenberichte Südosteuropa“ vorgestellt. Tim Kirks Aufsatz beschreibt zudem die in den 1920er-Jahren beginnenden Versuche der deutschen auswärtigen Kulturpolitik, die öffentliche Meinung in den neuen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas zu beeinflussen. In den Beiträgen über Hermann Neubacher, der vor seiner Zeit als Wiener Bürgermeister (1938-1940) Verbindungsmann der IG Farben für den Südosten und danach Sonderbeauftragter des Auswärtigen Amtes in Rumänien war, und Hugo Hassinger, dem damals wohl wichtigsten in Wien tätigen Raumforscher, werden zwei österreichische Karrieren betrachtet.

Der vierte Abschnitt verspricht endlich eine Beschäftigung mit den Praktiken der Südosteuropa-Politik. Er startet verheißungsvoll mit Tamara Scheers stringentem Vergleich zwischen den österreichisch-ungarischen und bulgarischen Besatzungsregimes in Serbien während des Ersten Weltkrieges, der sehr interessante Befunde liefert. Allein für die im Resümé auch der bulgarischen Seite bescheinigten „Ansätze wirtschaftlicher und besonders landwirtschaftlicher Modernisierung“ (S. 337) im Besatzungsgebiet enthält der Text keine Belege. Markus Wien untersucht mit dem Aufbau der Musterdörfer Mramor und Dolni Lukovit eines der wichtigsten, auch in der Praxis realisierten Projekte des MWT. Dabei weist er nach, dass die Initiative von der bulgarischen Seite ausging, die sich entsprechend ihrer eigenen Vorstellungen und Interessen an den Modernisierungskonzepten des deutschen Reichskuratoriums für Technik in der Landwirtschaft bzw. des Reichsnährstandes orientierte. In den beiden anderen Beiträgen beschäftigen sich Elisabeth Harvey mit „Volkstumsarbeit“ deutscher Studenten in Jugoslawien und Rumänien sowie Roumiana Preshlenova mit den von der Südost-Stiftung des MWT seit 1940 an der Wiener Hochschule für Welthandel organisierten Kursen zur südosteuropäischen Landeskunde.

Sicher hätte eine stärkere Berücksichtigung des Spannungsverhältnisses zwischen Planung und Realisierung dem Band zusätzliche Relevanz gegeben. Zu Recht resümiert ja Milan Ristović in seinem Beitrag zu den Debatten über den „Ergänzungswirtschaftsraum“: „Mit fortschreitendem Kriegsverlauf diktierten bald einzig und allein kriegswirtschaftliche Interessen die Maßnahmen, und die Diskussion selbst hatte keine Auswirkungen“ (S. 234). Dass die eigentliche Planung und Durchführung der Einbeziehung Südosteuropas in die deutsche Kriegswirtschaft im Band kaum und deren wirtschaftliche Folgen für die Region gar nicht thematisiert werden, resultiert wohl daraus, dass der MWT daran eben nicht, zumindest nicht direkt, beteiligt war. Während dies letztlich alle Autoren betonen, finden sich in den einzelnen Beiträgen durchaus unterschiedliche Bewertungen der deutschen Wirtschaftspolitik und auch speziell der Rolle des MWT in Südosteuropa. So betont Carola Sachse, dass die den MWT tragenden Firmen nicht davor zurückschreckten, „auch außerökonomische, also gewaltsame Sicherungen, der deutschen wirtschaftlichen Vorherrschaft einzufordern.“ Die wirtschaftspolitische „Durchdringung“ Südosteuropas wäre eben letztlich doch auf den Krieg angewiesen gewesen (S. 39, 81). Carl Freytag hebt hingegen hervor, dass der MWT gerade nach Kriegsbeginn seine Auffassungen von einer „organischen Industrialisierung“ Südosteuropas propagierte und dabei durchaus nicht in der Bedeutungslosigkeit versank (S. 157, 163). Und Markus Wien lehnt Charakterisierungen des deutsch-bulgarischen Verhältnisses als „kolonialistisch“ oder auch nur „halbkolonialistisch“ deutlich ab (S. 340, Anm. 1). Diese – hier nur andeutbaren – unterschiedlichen Interpretationen einzelner Beiträger stellen einen wesentlichen Vorteil des mitunter gescholtenen Sammelband-Formates dar. Da der vorliegende Band nicht nur inhaltlich außerordentlich interessant ist, sondern auch vorzüglich redigiert wurde, kann seine Lektüre empfohlen werden.

Anmerkung:
1 Carl Freytag, Deutschlands „Drang nach Südosten“. Der Mitteleuropäische Wirtschaftstag und der Ergänzungsraum Südosteuropa 1931-1945, Göttingen (im Druck).

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