: Remembering Pinochet’s Chile: On the Eve of London 1998. The Memory Box of Pinochet’s Chile, Vol. I. Durham 2004 : Duke University Press, ISBN 978-0-8223-3354-8 278 S. € 28,04

: Reckoning with Pinochet. The Memory Question in Democratic Chile, 1989-2006. Memory Box of Pinochet’s Chile, Vol. III. Durham 2010 : Duke University Press, ISBN 978-0-8223-4729-3 584 S. € 22,72

: Battling for Hearts and Minds: Memory Struggles in Pinochet’s Chile, 1973-1988. The Memory Box of Pinochet’s Chile, Vol. II. Durham 2006 : Duke University Press, ISBN 978-0-8223-3827-7 596 S. € 73,84

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Ruderer, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität

Die historische Entwicklung Chiles in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde international viel beachtet. Sowohl Salvador Allendes demokratischer Weg zum Sozialismus als auch die brutale Militärdiktatur von Augusto Pinochet symbolisierten weltweit Hoffnung und Enttäuschung der 68er-Generation. Auch nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 wurde der chilenische Umgang mit der Vergangenheit schnell – und nicht immer zu Recht – zu einem globalen „Modellfall“ stilisiert, der vorbildhaft für die vielen anderen Prozesse der Vergangenheitsaufarbeitung stehen könne.1 Auch deswegen weist eine Geschichte über die chilenische Erinnerungskultur über den Einzelfall hinaus, stellt immer auch einen wichtigen Beitrag zu der allgemeinen Debatte über Vergangenheits- und Erinnerungspolitik dar.

Steve Sterns Trilogie über die „Erinnerungsbox“ von Pinochets Chile ist, das sei vorweg schon gesagt, ein beeindruckendes Werk, das nicht nur Experten und Chile-Interessierte ansprechen wird, sondern auch zahlreiche Anregungen für die immer noch boomende Geschichtsschreibung der Erinnerung und Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit bietet. Besonders hervorzuheben ist Sterns gelungene Gratwanderung zwischen Empathie angesichts der zu erzählenden und erinnerten Geschichte (in deren Zentrum die brutalen Verbrechen der Diktatur stehen) und kritischer Distanz des analysierenden Historikers. Stern verschweigt nicht seine Sympathie mit den Opfern der Diktatur, die er auch mit seiner eigenen Geschichte als Kind einer von den Nazis verfolgten jüdischen Familie erklärt, doch das hindert ihn nicht daran, auch die Opfererinnerung kritisch zu hinterfragen und in der vielstimmigen chilenischen Erinnerungslandschaft angemessen einzuordnen. Dabei hilft ihm seine beeindruckende Literaturkenntnis, die nicht nur viele lateinamerikanische und europäische Fälle der Vergangenheitsaufarbeitung einschließt, sondern auch die theoretische Debatte um Erinnerungspolitik umfasst (leider mit Ausnahme der deutschsprachigen Literatur, wobei zumindest die Rezeption der Werke von Jan und Aleida Assmann die Argumentation Sterns hätte bereichern können). Diese Kenntnis bildet den Hintergrund für die detaillierte und einfühlsame Analyse des chilenischen Falles, für die ihm die zahlreichen Interviews während seiner langen Forschungsaufenthalte in Chile (der erste datiert von 1995!) auch den direkten Zugang zu den Menschen und ihren Erinnerungen erlaubten.

Die gelungene Verbindung zwischen Oral History und angemessenem theoretischen Rahmen gelingt Stern über das Konzept der „emblematischen Erinnerung“. Dabei argumentiert er gegen die Idee, dass es den sozialen Akteuren vor allem um den Widerstreit zwischen Erinnern (an die Verbrechen) und Vergessen (der Vergangenheit) ginge, sondern weist auf den dynamischen „Kampf“ diverser Erinnerungsnarrative hin, die innerhalb der „Erinnerungsbox“ Chiles unterschiedliche Plätze einnehmen können. „Emblematisch“ wird die Erinnerung dann, wenn das eigene Erleben als Teil einer kollektiven Erfahrung erkannt und in der Öffentlichkeit so vermittelt wird. Diese emblematischen Erinnerungen artikulieren sich über „Erinnerungsknoten“ im sozialen Körper, die für Stern entweder bestimmte Persönlichkeiten (ehemalige Diktaturanhänger, Militärangehörige, Menschenrechtsaktivisten, Mitglieder von Wahrheitskommissionen, Politiker, etc.), oder Erinnerungspunkte in Zeit und Raum (Jubiläen, Jahrestage, Folterzentren, Leichenfundstellen, etc.) darstellen können. Die emblematische Erinnerung ist dabei nicht statisch, sondern kann sich aufgrund von Ereignissen, Kontakt mit anderen Erinnerungen oder der öffentlichen Wahrnehmung verändern. Gleichzeitig grenzt sie immer andere Erinnerungen aus, für die sich keine Artikulationskanäle bzw. „Erinnerungsknoten“ finden. Stern ist sich der Vielschichtigkeit und Dynamik der chilenischen Erinnerungslandschaft bewusst und berücksichtigt diese auch im Aufbau seiner Bücher.

Im ersten Band zeichnet der Autor neben den theoretischen Ausführungen die erinnerungspolitische Sackgasse („impasse“) nach, in der Chile im Jahr 1998 vor der Verhaftung von Pinochet in London steckte. Dabei arbeitet er vier emblematische Erinnerungen heraus, die – und auch das macht Stern deutlich – nie nur auf die Vergangenheit zielen, sondern immer auch zur Legitimation der aktuellen politischen und sozialen Rolle dienen. Der Erinnerung an die Pinochetdiktatur als Erlösung von dem Chaos der Allendezeit und Rettung des Vaterlandes stehen die Erinnerung an die Diktatur als Zeit der Verfolgung und des Bruches in der eigenen Lebensgeschichte und die Erinnerung als Zeit der Erweckungserfahrung, in der das eigene Leid in soziales Engagement und kollektiven Widerstand umgewandelt wurde, gegenüber. Daneben bildete sich immer mehr eine – meist aufgrund der eigenen Verstrickungen in die Diktatur interessengeleitete – Erinnerung als „closed box“ heraus, nach der die Vergangenheit nicht mehr wichtig sei und am besten nicht mehr „erinnert“ werden solle. Diese Erinnerungen existierten 1998 relativ unversöhnlich und anscheinend unverrückbar in der Öffentlichkeit nebeneinander, ohne dass eine Annäherung oder gar ein politischer Ausweg aus der chilenischen „Erinnerungssackgasse“ möglich schien. Gleichzeitig bricht Stern die herausgearbeiteten emblematischen Erinnerungen aber immer wieder auf, indem er in Nachworten zu den einzelnen Kapiteln dem Verschwiegenen, dem Unpassenden, den Nebenlinien der Erinnerung nachgeht. Diese Nachworte stellen eine der großen Stärken der Trilogie dar, da es Stern gelingt, auf die menschliche Tiefe der Erinnerungsproblematik einzugehen, ohne sich in der Komplexität des Themas zu verlieren. So wird zum Beispiel der Fall eines chilenischen Wehrdienstleistenden von 1973 geschildert, der mit ansehen musste, wie einer seiner Kameraden, als er sich bei einer Hausdurchsuchung weigerte, auf ein wehrloses Kind zu schießen, von seinem Vorgesetzten selbst erschossen wurde. Der ehemalige Soldat trägt seitdem nicht nur dieses traumatische Erlebnis mit sich, sondern auch die bis dahin unausgesprochene Schuld, in der Folge den Befehlen seiner Vorgesetzten gehorcht zu haben, auch um das eigene Leben zu retten.

Im zweiten Band behandelt der Autor die Zeit der Diktatur und schildert die Entwicklung der die Öffentlichkeit bestimmenden emblematischen Erinnerungen. Während zu Beginn der Diktatur die vom Regime inszenierte Erinnerung als Erlösung und Rettung vor dem Chaos dominierte und auch von einem Großteil der Gesellschaft angenommen wurde, so bildete sich ab Mitte der 1970er-Jahre verstärkt eine Gegenerinnerung heraus, die die Menschenrechtsverletzungen in den Mittelpunkt stellte. Diese Erinnerung kanalisierte sich dann in den politischen Protesten der 1980er-Jahre und führte auch bei Regimeanhängen dazu, dass die Rettungsnarrative Platz machten für die Idee des Vergessens, mit der der Blick in die Vergangenheit abgeschlossen werden sollte. Zum Ende der Diktatur existierten schon die vier von Stern für 1998 festgestellten Erinnerungen mit ihren Erinnerungsträgern und –ritualen, auch wenn das Regime aufgrund seiner politischen und militärischen Macht das öffentliche Bild noch weitgehend bestimmte.

Der dritte und aktuelle Band, der hier etwas ausführlicher vorgestellt werden soll, behandelt dann den Umgang mit der Erinnerung nach der Diktatur. Stern erkennt im letzten Jahr der Pinochetherrschaft eine Öffnung der „Erinnerungsbox“, in der sich jetzt die Gegenerinnerungen immer stärker in der Öffentlichkeit artikulieren können, analysiert aber ebenso genau die zahlreichen Beschränkungen, die die Diktatur den demokratischen Politikern hinterlassen hatte, und die auch das Feld der Erinnerungspolitik beeinflussen sollten. In dem Bericht der ersten Wahrheitskommission 1991 sieht Stern den Beginn der „Erinnerungssackgasse“ in Chile, da hier zwar offiziell die schwersten Menschenrechtsverbrechen anerkannt wurden, dies jedoch nicht dazu geführt hatte, dass die Erzählung von der Rettung des Vaterlandes bei Militär- und Diktaturanhängern an Einfluss verloren hatte. Die Zeit zwischen 1991 und 1998 beschreibt der Autor als Tauziehen zwischen den Anhängern der Idee einer Erinnerungsarbeit als Abschluss unter die Vergangenheit („formula“) und der Erinnerungsarbeit als erster Keil („wedge“) in der „Erinnerungsbox“, der zu einer immer weiteren Öffnung und Offenlegung der Vergangenheit führen sollte. Dabei analysiert er detailliert die vielschichtigen Beziehungen im Erinnerungskampf zwischen der „soft power“ der demokratischen Regierung und dem Menschenrechtsektor und der „hard power“ des Militärs und der der Diktatur verpflichteten Großunternehmer. Stern macht deutlich, wie wichtig die „friktionalen Synergieeffekte“ zwischen der Regierung und der Zivilgesellschaft, insbesondere den Menschenrechtsgruppen, waren, um einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu verhindern und das Thema der Erinnerung „offen“ zu halten. Er zeigt auch, wie sich diese unter der Regierung Aylwin noch positiven Synergieeffekte während der Regierung Frei immer mehr zu Konflikten wandelten, da Mitte der 1990er-Jahre auch in der demokratischen Regierung die Anhänger eines Schlussstrichs unter die Vergangenheit zunahmen.

Zu Recht betont er die Bedeutung der Verhaftung Pinochets in London als Wendepunkt in der Erinnerungspolitik, wobei er in seiner Analyse diese Bedeutung insgesamt vielleicht sogar ein wenig unterschätzt. Ohne die Verhaftung Pinochets wäre es trotz der sich schon vorher abzeichnenden Maßnahmen sicher nicht zu der dann einsetzenden Öffnung der „Erinnerungssackgasse“ gekommen, die im Chile des neuen Jahrhunderts zu immer weiteren Maßnahmen der Vergangenheitsaufarbeitung und zu immer größeren Zugeständnissen hinsichtlich der Erinnerung an die Verbrechen der Diktatur führte. Auch Stern betont, dass das „Gravitätszentrum“ des Erinnerungskampfes seit der Verhaftung Pinochets verschoben wurde, da jetzt verstärkt die Menschenrechtsverbrechen im Mittelpunkt des erinnerungspolitischen Interesses standen und die Erinnerung als unabgeschlossene Arbeit von nahezu allen politischen und sozialen Akteuren anerkannt wurde, die Idee des Schlussstriches also immer mehr an Bedeutung verlor. Trotzdem konstatiert Stern auch für das Chile unter der Regierung Bachelet ab 2006 ein Erinnerungsparadox, bei dem die Erinnerung an die Menschenrechtsverbrechen mit einer positiven Wertschätzung des Pinochetregimes einhergeht.2

Insgesamt legt Stern ein Werk vor, das sehr abwägend argumentiert, sein Thema immer auch in den größeren Rahmen der allgemeinen politischen Entwicklung in Chile einordnet, dabei aber sehr detailliert alle Aspekte der Erinnerungskultur von offizieller Politik, über Mahnmale, Fernsehsendungen, Zeitungsberichte bis hin zu Bücherverkaufslisten, Kinofilmen, Musik- oder Theaterstücken mit einbezieht. Die Komplexität und Vielschichtigkeit der chilenischen Erinnerungslandschaft wird aufgezeigt, ohne auf deutliche analytische Urteile zu verzichten, wobei diese zugleich kritisch reflektiert werden und auf Teilaspekte, Seitenwege und Sackgassen der Erinnerung immer wieder hingewiesen wird.

Der umfangreiche Anmerkungsapparat enthält kommentierte Literaturhinweise und zahlreiche Details (so zum Beispiel die meines Wissens bisher am besten dokumentierte Schätzung der Opferzahlen der Diktatur) und der in allen drei Bänden enthaltene Quellenessay erweist sich als nützliches Hilfsmittel für die Chileforschung. Insgesamt stellt die Trilogie Sterns eine beeindruckende Forschungsleistung dar, die die komplexen Erinnerungszusammenhänge in Chile detailliert aufzeigt, ohne dass die emotionale Nähe des Autors zum Thema der wissenschaftlichen Analyse im Wege steht. Es ist zu hoffen, dass dieses Werk nicht nur unter Lateinamerikahistorikern, sondern auch unter den deutschen und europäischen „Erinnerungsforschern“ eine breite Aufnahme findet.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu Stephan Ruderer, Das Erbe Pinochets. Vergangenheitspolitik und Demokratisierung in Chile 1990-2006, Göttingen 2010.
2 In ähnlicher Weise wurde diese Situation von mir als „hybride Erinnerung“ bezeichnet, vgl. Stephan Ruderer, Hybride Erinnerung. Geschichtspolitik in Chile, in: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010) 1, S. 129-156.

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