Suny, Ronald Grigor; Göçek, Fatma Muge; Naimark, Norman M. (Hrsg.): A Question of Genocide. Armenians and Turks at the End of the Ottoman Empire. Oxford 2011 : Oxford University Press, ISBN 978-0-195-39374-3 464 S. $34.95

: The Making of Modern Turkey. Nation and State in Eastern Anatolia, 1913-1950. Oxford 2011 : Oxford University Press, ISBN 978-0-19-960360-2 336 S. £65.00

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Stefan Ihrig, Churchill College, University of Cambridge

Über den Armeniergenozid zu forschen und zu schreiben ist noch immer sicherlich eines der schwierigsten Unterfangen für den Historiker. Und auch wenn die hier besprochenen Texte schon sehr umfassende Erzählungen und Forschungsstände präsentieren, so wird uns die Erforschung dieses Genozids noch viele Jahre beschäftigen und es wird noch einige Kontroversen zu überstehen geben. Doch mit den beiden hier besprochenen Bänden wird die Forschung auf ein neues Zwischenfundament gestellt und wir werden besser auf diese Kontroversen vorbereitet. Ähnlich geschah dies in den letzten Jahren mit anderen sorgfältig vorbereiteten Sammelbänden, mit einer Reihe von darin enthaltenen faszinierenden Detailstudien sowie mit neuen großen, aber auf ihre Art behutsamen Überblicksdarstellungen.1 Auch die beiden hier besprochenen Bücher fallen in diese Kategorien und gehen beide sehr vorsichtig und sorgfältig an das Thema heran, wobei jedoch Üngör einen sehr weiten Kontexthorizont eröffnet. Wie so oft bei dichten, gut ausgeführten Studien und gut angelegten Sammelbänden muss man auch bei den beiden hier besprochenen Bänden eigentlich vor der breite und tatsächlich der äußerst hohen Qualität der Forschung kapitulieren: die Relevanz und die potentiellen Beiträge zur Forschung, die sich aus ihnen ergeben, sprengen von vorneherein jedmöglichen Rezensionstext. Was man aber vorweg feststellen kann, und was auch im Vorwort zum Band von Suny et al. betont wird – trotz des Buchtitels –, ist, dass wir uns in den beiden Büchern weit jenseits der Frage bewegen, ob es denn nun einen Genozid gab oder nicht. Der Genozid selbst wird nicht nur nicht in Frage gestellt, sondern im Gegenteil neu erforscht, neu kontextualisiert und neu zugespitzt. Dies in einer solchen Form, dass es manchmal fast unerträglich ist, sich die Realität des Genozids, in diesen Texten, zu erlesen. Oder wie es Suny im Vorwort ausdrückt: „After reading these contributions, which represent the ‚state of the art’ in the field, no scholar could contend that there was not genocide in the Armenian case“ (S. xviii). Tatsächlich kann man unter diesem Gesichtspunkt den gewählten Titel für den Sammelband nur sehr schwer nachvollziehen; denn diese „Question of Genocide“ wird hier so gar nicht gestellt, allerdings durchweg sehr nachdrücklich beantwortet. Leider sorgt der Titel eher für Verwirrung und zu Abwehrreaktionen,2 als dass er den Inhalt des Bandes adäquat beschreibt. Tatsächlich wäre ein Titel wie zum Beispiel „The Dimensions of the Armenian Genocide“ passender gewesen.

Die fünfzehn Beiträge des Bandes nähern sich dem Thema vor allem aus drei verschiedenen Richtungen: der Historiographie, der Lokalgeschichte und der verschiedenen großen Kontexte des Genozids (seiner Genese, der spätosmanischen Politik, Radikalisierung etc.). Die Historiographie wird in drei Beiträgen untersucht, wobei es vor allem um die türkische Geschichtsschreibung geht, während die armenische ein wenig zu kurz kommt in diesem Band. Der Beitrag von Fatma Müge Göçek bietet einen größeren Überblick zu den Entwicklungslinien der türkischen Historiographie zum Genozid („Reading Genocide – Turkish Historiography on 1915“). Indem sie, fast etwas überspitzt, Mustafa Kemal Atatürks Vorgaben zum Thema ins Zentrum ihrer Diskussion stellt, zeigt sie, wie heikel das Thema noch immer ist und auch bleiben wird, so lange Atatürk derart zentral für Staat und Nation in der Türkei ist. Ihre Diskussion besticht durch die klare analytische und strukturierende Trennung dreier, chronologisch aufeinanderfolgender Narrative: des „Ottoman investigative narrative“, des „Republican defensive narrative“ sowie des „post-nationalist critical narrative“. Einen ähnlichen Fokus nehmen die Beiträge von Erik J. Zürcher und Ronald Grigor Suny ein. Ein weiterer Block beschäftigt sich mit „Genocide in Internal Context“ und hier besonders mit einigen der offenen Streitfragen zu diesem Thema, so zum Beispiel mit der deutschen Verantwortung (hier vor allem der Beitrag von Eric D. Weitz). Peter Holquist untersucht die russische Anatolien- und Armenierpolitik. Er räumt mit einem Umweg über St. Petersburg mit den Vorurteilen über die armenisch-russische Zusammenarbeit auf und spannt hierbei einen weiten Bogen. Das Zarenreich und seine Würdenträger vor Ort erscheinen in Holquists Analyse um einiges zurückhaltender, wenn nicht gar anti-armenischer, als oft angenommen.

Auf ähnliche Art und Weise räumen die Beiträge zur Vor- und Lokalgeschichte mit einer Reihe von Mythen und Vorurteilen zu den „revolutionären Armeniern“ auf. So besonders die Beiträge von Gerard J. Libaridian, Fikret Adanir und Aram Arkun. Adanirs Beitrag ist unter anderem auch deshalb von Bedeutung, weil er in seiner Untersuchung zu den Nicht-Muslimen im osmanischen Heer auch die Genese des „osmanischen Dolchstoßmythos“ und so eine wichtige Vorgeschichte zur Verquickung von Genozid und Krieg in Anatolien aufdeckt. Ferner ist Hans-Lukas Kiesers Studie zu Mehmed Reşid Bey hervorzuheben. Kieser vollzieht hier die Biographie und somit die Radikalisierung des Gouverneurs des Bezirks von Diyarbakir im Ersten Weltkrieg und somit eines besonders eifrigen Täters nach. Eifrig deshalb, weil er, mit Ian Kershaws Worten („working towards the Führer“) Talât Pasha so sehr und so motiviert entgegen arbeitete, dass dieser sich wiederholt gezwungen sah, den Distriktgouverneur bei der Ausweitung der Opfergruppen zu bremsen, was auch Üngör im hier ebenfalls besprochenen Buch im Detail herausarbeitet. In beiden Texten wird klar, dass Reşid Bey mehrere türkische Provinzbeamte, die sich weigerten den Genozid lokal mitzuvollstrecken, kurzerhand umbringen ließ. Der Band wird ferner abgerundet durch interessante Beiträge zur generellen Entwicklung (der Entscheidung) zum Genozid, die noch einmal unterstreichen, dass obwohl sie sich graduell entwickelte, die Entscheidung zur Deportation in die Wüste, im Krieg, eine bewusste Entscheidung zur Massenausrottung darstellte (insbesondere im Beitrag Fuat Dündars).

Uğur Ümit Üngör, der auch im besprochenen Sammelband mit einem Beitrag vertreten ist, verbindet in seiner Studie „The Making of Modern Turkey“ ebenfalls den lokalen mit dem, hier zeitlich, weiter gefassten Kontext, wie es auch der Untertitel beschreibt: „Nation and State in Eastern Anatolia, 1913-1950“. Es ist hier vor allem die Provinz Diyarbakir, die als Fallstudie für Bevölkerungspolitik in der, Erik J. Zürchers Periodisierung folgenden, 3 aber sehr weit gefassten „jungtürkischen Zeit“ dient. Nach einem einführenden Kapitel zu Nationalismus und Bevölkerungspolitik im späten Osmanischen Reich geht Üngör dann in zwei Kapiteln erst in erschreckendem Detail auf die „unmittelbare Bevölkerungspolitik“ ein, also den “Genocide of Christians, 1915-1916“ (Kapitel 2) und die „Deportations of Kurds, 1916-1934“ (Kapitel 3) um dann die „erinnerte und verinnerlichte Bevölkerungspolitik“ anhand der Nationalerziehung, vor allem in Bezug auf die kurdische Bevölkerung (Kapitel 4), und die offizielle Erinnerungspolitik zu diskutieren (Kapitel 5).

Gerade in Üngörs Buch wird dann auch verstärkt klar, was ebenfalls in mehreren der hier besprochenen Texte betont wird: Man kann eigentlich nicht über den Armeniergenozid sprechen ohne auch über andere Minderheiten der Region zu sprechen (so zum Beispiel bei Stephan H. Astourian und David Gaunt). Dabei nehmen die Kurden hier allerdings eine besondere und eine besonders komplizierte Rolle ein. Über ‚die Kurden’ in diesem historischen Kontext zu sprechen, das wird in diesen Texten klar, ist alles andere als einfach. Die kurdische Bevölkerung Ostanatoliens bzw. einzelne Personen und Gruppen kommen hier sowohl als Opfer von türkischer Bevölkerungspolitik, als Verbündete von Armeniern und eben als Täter und Vollstrecker im Genozid vor. Gerade wenn es darum geht, in Zukunft auch einmal etwas mehr mit einem ‚kurdischen Fokus’ über den Völkermord an den Armeniern nachzudenken, hat Üngör hier wegweisende Vorarbeiten geleistet. So gelingt es ihm, die kurdische Bevölkerung als weitere Opfergruppe jungtürkischer Bevölkerungspolitik in der Zeit vom Ersten Weltkrieg bis in die 1950er-Jahre zu diskutieren, ohne dabei das Leid der beiden Gruppen gleichzusetzen und so den Armeniergenozid in Ausmaß und Bedeutung zu schmälern. Es ist die Stärke seines sehr sorgfältigen Buches, Kontinuitäten im Projekt, Anatolien türkisch zu machen, aufzuzeigen und in größtem Detail nachzuverfolgen. Es sind aber weniger die Fakten und die Quellen, die hier neu sind als die breitere Perspektive und die longue durée, die aus dem lokalen Kontext abgeleitet wird.

Beide Bücher bringen das Forschungsfeld auf einen neuen Stand – das eine als quasi Handbuch mit einer Reihe von state-of-the-art Beiträgen und das andere einen breiteren Kontext eröffnend. Üngörs Buch sowie die meisten der Beiträge im Band von Suny et al. verbinden auf ihre, oft äußerst geschickte Weise die Makro- mit der Mikroebene. Und nicht nur diskutieren sie den Genozid in einer Art und Weise, die zum Teil neu, umfassend und, was die vielen Vorurteile zum Thema betrifft, auch sehr provokant ist, sondern gleichzeitig, auf verschiedene Weise “akzeptabler” oder konzilianter darbietet als dies in vielen anderen Beiträgen zum Thema der Fall ist. So lässt beispielsweise Üngör keineswegs das Opfertrauma der türkischen und muslimischen Bevölkerung unerwähnt, ja er inkludiert diese Perspektive ganz zentral und bewusst, um die Motivationen der Täter zu ergründen. Aber er geht dabei keineswegs einen apologetischen Weg. Die Ganzheit des Genozids und die Brutalität präsentieren sich hier in einer derart klaren Abbildung, dass man oft nicht weiterlesen kann: die geschilderte Brutalität ist für den Leser kaum zu ertragen. Auch unterfüttert Üngör die bereits weiterverbreitete Ansicht, dass man sich die Suche nach einem Generalbefehl Talats sparen könne. Er tut dies gleich auf zweifache Weise. Einerseits schildert er die Massaker und Deportationen samt ihrer Täter, die meist namentlich genannt werden, in einer Detailfülle, dass auch der letzte Zweifel über den genozidalen Charakter der Vorgänge ausgeräumt wird. Andererseits beinhaltet seine Diskussion über die Kommunikation zwischen Talat Pascha und dem lokalen jungtürkischen Machthaber Reşid Bey eine semantische Entdeckung, die ebenfalls überzeugt: So wurde Reşid von Talat explizit angehalten, nicht die nicht-armenischen Christen zu massakrieren (S. 105-106). Üngör meint, dass man im Umkehrschluss schon allein aus diesem Telegramm klar erkennen könne, dass die Vernichtung der Armenier selbst damit selbstverständlich angeordnet und gewünscht war.

Viele der Texte, gerade zum Beispiel Göçeks historiographischer Überblick, Bloxhams Beitrag zur Entwicklung des Genozids oder Arkuns Beitrag zum eigentlichen Beginn des Massenmordes aber auch Üngörs Kapitel eignen sich hervorragend für den universitären Unterricht. Gerade der Sammelband hat Handbuchcharakter. Allerdings hätten die Beiträge noch etwas zugespitzter von den Herausgebern eingerahmt werden können: Die Autoren stehen alle jeweils in direktem Dialog mit verschiedenen Vorurteilen und politischen sowie wissenschaftlichen Kontroversen, die man hätte detaillierter aufzeigen müssen, damit sich diese Kontexte erschließen. Denn beispielsweise die Beiträge zur russischen Dimension oder über das angebliche deutsche Schweigen sind eben nicht nur „interessante“ Nebenaspekte des Themas, sondern sprechen zentrale und teils kanonisierte Fehleinschätzungen an – eben dass das Zarenreich genau wie „die Armenier“ an einer weitgehenden Kollaboration im Kriege interessiert gewesen seien oder dass man in Deutschland nach dem Weltkrieg den Armeniergenozid verschwiegen habe. Zwar sind weder die Kontroversen noch die noch bestehenden Forschungsdefizite mit diesen Bänden beigelegt, doch sollten uns beide Bände den mühsamen weiteren Weg etwas erleichtern.

Sie geben uns erdrückendes und umfassendes Rüstzeug in die Hand um auf die „Frage nach dem Genozid“ in Zukunft zu antworten, zeigen eine ganze Reihe von Forschungsperspektiven auf, mit denen man sich dem Thema weiter nähern und weitere Beiträge leisten kann – und sie bieten sogar Modelle und eine Sprache an, sich mit dem Thema in einer Art und Weise auseinanderzusetzen, die auch für die sich öffnende türkische Historiographie annehmbarer und anknüpfungsfähiger sein könnten, als andere Forschungsbeiträge dies vielleicht in der Vergangenheit waren.

Anmerkungen:
1 Für wegweisende Publikationen der letzten Jahre s. Hans-Lukas Kieser / Dominik J. Schaller (Hrsg.), Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah, Zürich 2002; Hans-Lukas Kieser / Elmar Plozza (Hrsg.), Der Völkermord an den Armeniern, die Türkei und Europa, Zürich 2006; Donald Bloxham, The Great Game of Genocide – Imperialism, Nationalism and the Destruction of the Ottoman Armenians, Oxford 2005.
2 Vgl. eine Rezension zu diesem Band in der online-Zeitschrift Armenian Weekly: <http://www.armenianweekly.com/2011/05/03/a-question-of-genocide/> (05.04.2012).
3 Erik J. Zürcher, The Unionist Factor – The Role of the Committee of Union and Progress in the Turkish National Movement, 1905-1926, Leiden 1984; von ihm zuletzt weiterentwickelt in: Erik J. Zürcher, The Young Turk Legacy and Nation Building – From the Ottoman Empire to Atatürk’s Turkey, London 2010.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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