W. Pyta u.a. (Hrsg.): Burgfrieden und Union sacrée

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Titel
Burgfrieden und Union sacrée. Literarische Deutungen und politische Ordnungsvorstellungen in Deutschland und Frankreich 1914-1933


Herausgeber
Pyta, Wolfram; Kretschmann, Carsten
Reihe
Beihefte der Historischen Zeitschrift 54
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
331 S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Louisa Reichstetter, Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Wer heute über den Ersten Weltkrieg forscht, der fragt nicht mehr nur nach Ursachen und Ereignissen im Zeitraum der Kampfhandlungen. Bereits seit Jahrzehnten betrachten Historiker den Konflikt besonders im Kontext seiner politischen, kulturellen und sozialen Folgen, und so lässt sich gerade für Deutschland und Frankreich eine umfassende Forschungsgeschichte nachzeichnen, die wirklich zu überblicken jedoch besonders in quantitativer Hinsicht eine Herausforderung darstellt. Wolfram Pyta und Carsten Kretschmann versuchen trotz der Masse der bisherigen Weltkriegshistoriographie eine Leerstelle zu formulieren und sie mit einem jüngst in der Reihe „Beihefte der Historischen Zeitschrift“ erschienenen Band zu schließen: „Burgfrieden und Union Sacrée“ will mit vergleichendem Blick auf Deutschland und Frankreich fragen, warum ausgerechnet der Krieg es schaffte, unmittelbar nach Ausbruch der Kämpfe im Spätsommer 1914 die politischen Lager in den jeweiligen Parlamenten zu einen. Oder anders gefragt: Wie vermochten es Burgfrieden und Union Sacrée „ein Bekenntnis zur nationalen Einigkeit“ zu schaffen, das „in beiden Staaten selbst von den systemoppositionellen Sozialisten mitgetragen wurde“ (S. 6)? Von der Beobachtung ausgehend, dass es bereits die Zeitgenossen verwundert haben musste, mit welch atemberaubender Geschwindigkeit sich parlamentarische Vielfalt freiwillig selbst lähmte, will der Band strukturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Konzepten aufzeigen und im Rahmen einer „politischen Kulturgeschichte“ fragen, als wie dauerhaft sich diese erwiesen. Zugleich soll eine Verknüpfung mit dem Thema ‚Kriegsliteratur‘ und mit Forschungspositionen der Narratologie erfolgen, denn es sei die Literatur gewesen, die, so Pyta im Einleitungstext, in den jeweiligen Ländern Prozesse der Sinnstiftung und „politikmächtigen Vergemeinschaftung“ (S. 7) katalysiert habe.

Unter diesem Fragenkatalog vereint der 328 Seiten umfassende Band insgesamt 14 Aufsätze. Die Überlegungen basieren auf zwei Tagungen, die vor drei beziehungsweise vier Jahren in Stuttgart stattfanden und Historiker mit Literaturwissenschaftlern ins Gespräch brachten. Das Spektrum der Beiträge reicht dabei von klassischen literaturgeschichtlichen, biographischen Zugriffen (Helmuth Kiesel: Ernst Jüngers Reflexionen des Ersten Weltkriegs. Tendenzen und Probleme.) über Methodikfragen (Nicolas Beaupré: Der Erste Weltkrieg im Roman. Zum Umgang des Historikers mit literarischen Zeugnissen) bis hin zur Geschichte der Weltkriegserinnerung (Nicolas Offenstadt: Die „derniers poilus“. Zur identitätsstiftenden Kraft von Kriegsveteranen im zeitgenössischen Frankreich).

Nur zwei Aufsätze wagen es indes tatsächlich, nationalstaatliche Untersuchungsfelder zu verlassen und Burgfrieden und Union Sacrée im Ländervergleich anzugehen: Georges-Henri Soutous Beitrag „Die Kriegsziele des deutschen Reiches und der französischen Republik“ arbeitet vor allem die Unterschiede in beiden Konzepten heraus: Ihm zufolge zielte der Burgfrieden in Deutschland vor allem auf das äußere Handeln, also auf die Kriegsführung, und nicht etwa auf innere Reformen. Die Heilige Union hingegen habe besonders innenpolitische Wirkungen entfaltet, indem sie selbst bei rechten Parteien die Akzeptanz der Staatsform Republik erhöht und die Demokratie fortan größeres Integrationspotential entfaltet habe. Diese Argumentation stützt sich bei Soutou besonders auf die Zeit des Krieges selbst und ist daher keinesfalls falsch, aber doch zugleich etwas kurzsichtig: Gerade wenn man auch Intellektuellengeschichte betreiben und Erkenntnisse der Literaturgeschichte mit bedenken will, wäre es wünschenswert gewesen, die schon während des Krieges geäußerte, stichhaltige Kritik pazifistischer und zugleich pro-republikanischer Stimmen mit zu diskutieren, wie sie sich beispielsweise in der 1917 gegründeten, berühmten Satirezeitschrift ‚Le Canard Enchaîné‘ nachvollziehen ließen. Denn für viele Franzosen kam die Union Sacrée einer Abkehr von der Demokratie gleich, was eher dazu führte, dass die Dritte Republik auf lange Sicht an Glaubwürdigkeit und Rückhalt verlor – schließlich trat 1919 mit dem „Nationalen Block“ in Frankreich ein Wahlbündnis an, das sich als legitimer Nachfolger der Union Sacrée verstand und alle politischen Kräfte – auch dezidiert republikfeindliche – bündelte, aber just die Sozialisten wieder ausklammerte. Der Mehrwert eines solchen, nur auf die Kriegszeit zentrierten Vergleiches, bleibt zudem etwas fragwürdig, wenn man für Deutschland eine fehlende innenpolitische Wirkung des Burgfriedens konstatiert, dies aber nicht ausdrücklich mit dem Systemumbruch verknüpft, der zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik 1918 nun einmal stattfand, während einem Bruch in Frankreich durch personelle Kontinuitäten an der Spitze der Republik bewusst und inszeniert entgegengesteuert wurde.

Ein zweiter, die beiden Nationen miteinander vergleichender Beitrag von Manfred Kittel „Republikanischer oder völkischer Nationalismus? Die Folgen siegreicher Union Sacrée und unvollendeter Volksgemeinschaft für die politische Kultur Frankreichs und Deutschlands 1918 – 1933/36“ betrachtet schließlich die Zwischenkriegszeit und untersucht, weshalb die „Vergemeinschaftung“ für die politische Kultur der Weimarer Republik und der späteren Dritten Republik solch divergente Folgen zeitigte. Dieser verglichen mit den anderen Aufsätzen im Buch unverhältnismäßig lange Beitrag lässt allerdings durch bestimmte Parallelisierungen einen relativierenden beziehungsweise latent revisionistischen Zugriff erkennen. Für Kittel nämlich stehen die Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Wahlsieg der französischen Volksfront 1936 in puncto Demokratieverlust auf ein und derselben Stufe – und doch in praktisch keinem Kausalzusammenhang, wie sich bereits im ersten Satz des Artikels erkennen lässt: „Burgfrieden, Union Sacrée und Erster Weltkrieg waren bereits Geschichte geworden, als Mitte der 1930er Jahre in den europäischen Staats- und Wirtschaftskrisen zunächst die Deutschen 1932/33 massenhaft für die extreme Rechte in Gestalt der NSDAP votierten und damit die Zerstörung der Weimarer Republik ermöglichten, während bald darauf, 1936, die Franzosen ihren Protest systemimmanent artikulierten und mehrheitlich für eine linksorientierte Volksfront aus Kommunisten, Sozialisten und linksliberalen radicaux stimmten“ (S. 109). Auch der in diesem Aufsatz wiederkehrenden Annahme, die Republik sei in Frankreich gestärkt aus dem Krieg hervorgegangen und habe eine gemäßigte, katholische Rechte hervorgebracht, die die Republik dann in den 1920er-Jahren stabilisiert habe, ließe sich gut widersprechen – nicht zuletzt mit Blick auf die Frage, ob eine Demokratie wirklich als vollwertig gelten kann, wenn sie der Hälfte der Bevölkerung, den Frauen nämlich, das Stimmrecht verweigert.

Insgesamt sind die Beiträge hinsichtlich Thema, Methodik, Umfang und Qualität ausgesprochen heterogen und vermögen es daher nur punktuell, neue Akzente zu setzen. Das gilt beispielsweise in Bezug auf die erstmals ins Deutsche übersetzten Beiträge von Olivier Forcade zu „Zensur und öffentliche Meinung in Frankreich zwischen 1914 und 1918“ oder für den Beitrag des Literaturwissenschaftlers Landry Charrier. Er schreibt über den von Michel Winock als ‚Leitintellektuellem‘ der frühen Dritten Republik beschriebenen Schriftsteller Maurice Barrès und dessen politische Überlegungen nach Ende des Krieges. Charrier befindet, dass Barrès in seinen letzten Jahren bislang von der Forschung zu einseitig als revisionistischer Nationalist abgestempelt worden sei.

Doch gerade um den Thesen der beiden am klarsten argumentierenden Aufsätze zu folgen, hätte es nicht unbedingt dieses Bandes bedurft. Zu nennen wären hier Steffen Bruendels Antwort auf die Frage: „Solidaritätsformel oder politisches Ordnungsmodell? Vom Burgfrieden zur Volksgemeinschaft in Deutschland 1914-1918“ und Michael Hoffmanns differenzierter Blick auf „Die französischen Katholiken und der Erste Weltkrieg. Die Rückkehr aus der Sondergesellschaft“. Da sie in ihren Ergebnissen schon vorhandenen Publikationen folgen, kann es nicht verwundern, dass die Autoren ihre ersten Fußnoten regelmäßig sich selbst widmen.

Somit lässt sich festhalten, dass trotz spannender Leitfragen mit „Burgfrieden und Union Sacrée“ kein systematischer Ländervergleich entstanden ist, zumal im Buch kein synthetisierender Beitrag oder wenigstens eine Art Protokoll der Abschlussdiskussionen der Tagungen zu finden ist. Während interdisziplinäre oder historisch vergleichende Befunde also maximal im Kopf des Lesers aufflackern, darf das Buch insgesamt als ein typischer und erstaunlich „altmodischer“ Sammelband gelten.

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