Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg: Tagebücher 1839–1858

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Titel
"Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste". Tagebücher 1839–1858, hrsg. v. Franz Adlgasser


Autor(en)
Andrian-Werburg Freiherr, Viktor Franz von
Erschienen
Anzahl Seiten
1919 S., 3 Bde.
Preis
€ 149,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franz Leander Fillafer, European University Institute Fiesole

Victor von Andrian-Werburg ist der großen Unbekannte der politischen Ideengeschichte Altösterreichs. Als Autor des Pamphlets „Österreich und dessen Zukunft“ (1843) machte er im Vormärz Furore, im oppositionellen Kreis um Anton Doblhoff und Friedrich Deym blühte Andrian auf, er sah sich als Stichwortgeber und ungekrönter König der Oppositionellen. Mit der Widmung eines Ehrengrabs auf dem Wiener Zentralfriedhof verleibte man ihn 1885 der Ahnengalerie der deutschösterreichischen Liberalismus ein. Andrians angeblicher „Liberalismus“ bleibt ebenso zu definieren, wie das Verhältnis seines Weltbilds zu anderen Varianten des politischen Denkens in den habsburgischen Ländern. Eine Fülle wertvoller Anhaltspunkte dafür bieten Andrians ausführliche Tagebücher.1

Es ist das große Verdienst Franz Adlgassers und der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, die Tagebücher Andrians nunmehr vollständig und mit mustergültigem Apparat herausgegeben zu haben. Hier kann man verfolgen, wie sich Andrians Stolz zur ranzigen Überheblichkeit eines verkannten Genies steigerte. Er wähnte sich von Einfaltspinseln, „Rindviechern” und „Schwachmatikern” umgeben: besonders Leo Thun, sein Kollege in der Hofkammer, der nach Andrian als Adjunkt eingetreten war und ihn bei der anstehenden Rangbeförderung überflügelte, zog sich Andrians Haß zu. Dazu kam Thuns katholisches, „mystisch-confuses Wesen“ (I, S. 670; 18.03.1847). Ein weiterer Intimfeind Andrians war Carl Kübeck, vor 1848 Hofkammerpräsident, im Neoabsolutismus Präsident des erweiterten Reichsrats. Nachdem publik geworden war, dass Andrian der Verfasser von „Österreich und dessen Zukunft“ war, hatte Kübeck dafür gesorgt, dass dem „eitlen, dabei ganz verschuldeten”2 Andrian die Hofkämmererwürde aberkannt wurde.

In den Tagebüchern kann man Andrian dabei zusehen, wie er die Jahre als Salonlöwe durchlebt, tändelt und schäkert, flaniert und plaudert. Andrian verkörpert den Typus des vormärzlichen Roués, Teestunde, Souper und Opernbesuch füllen die Zeit aus. Noch als graumelierter Feschak durchlebt Andrian verschiedene Affären und kokettiert immer wieder mit einer lukrativen Ehe, die seine Finanzmisere beseitigen sollte, nur um sich doch wieder für das Junggesellendasein zu entscheiden.

Vor allem für die politische Geschichte des späten Vormärz sind die Tagebücher eine Fundgrube: Andrian streckte seine Fühler nach Böhmen und Ungarn aus, er baute eine Plattform für die adeligen Kritiker des Metternichschen Regimes auf.3 Für eine typologische Schärfung der Kategorie des freisinnigen Konservatismus oder Reformkonservatismus in den habsburgischen Ländern sind Andrians Tagebücher in dreierlei Hinsicht wertvoll.

Da ist erstens seine antiklerikale Haltung, Andrian lässt keine Spitze gegen „Bigotterie“ und fromme „Salbadereien“ aus, anlässlich einer Fronleichnahmsprozession in Mailand gab er zu Protokoll: „ich erlebte meine blauen Wunder, Aposteln, ganz nackt, nur mit einem Schaffelle bedeckt, Büßerinnen mit Dornenkronen, Könige und Königinnen, Ritter, Heilige und Engel, kurz ein completer Götzendienst.“ (I, S. 398; 25.06.1843)

Der zweite Eckpfeiler von Andrians Weltsicht war die Bürokratiekritik. Andrian versuchte die adeligen Institutionen zu beleben und pflegte sehr statusbewusst einen grandseigneuralen Lebensstil, der den Rahmen für seine Vernetzungs-Soireen bot. Zugleich stand er der geburtsständischen Legitimität der adeligen Repräsentation abgeklärt gegenüber. Als Friedrich Wilhelm IV. den ersten Preußischen Vereinigten Landtag eröffnete, notierte Andrian (I, S. 677; 21.04.1847): „schließlich hänge ich nicht wie Doblhoff am ständischen Princip quand même. Fällt dieses über den Haufen, so kömmt etwas andres, jedenfalls aber Fortschritt wenn auch ein bischen stoßweise, für mich fürchte ich selbst eine Revolution nicht.“ Gereizt reagiert er auf das Duckmäusertum der Aristokratie im Jahr 1848. Nur Lamberg und Khevenhüller hätten sich in die Nationalgarde einschreiben lassen, notiert Andrian am 18. März, über den Kastengeist der anderen: „Die Hunde richten die Aristokratie zu Grunde.“ (II, S. 54) Zwar hatte für Andrian die Belebung ständischer Einrichtungen Priorität, er wünschte sich aber keine adelige Privilegiengesellschaft. Dem Liberalismus und „Bürokratismus“ setzte er die örtliche Selbstverwaltung und die Bezirksgemeinden entgegen, und plädierte in Übereinstimmung mit den Liberalen für die Öffentlichkeit der Gerichte und die Geschworenengerichtsbarkeit.

Drittens teilte Andrian mit den Josephinern und den deutschösterreichischen Liberalen ein unverblümtes Bekenntnis zur Suprematie deutscher Kultur. Andrians Weltsicht erinnert an Grillparzers Wort vom „Uebergewicht des deutschen Prinzips auf freiwilligem Wege“, als „Bürgen der Einheit“, das dieser anlässlich der Lektüre von „Österreich und dessen Zukunft“ notierte.4

Zwei Aspekte möchte ich hier noch anschneiden, Andrians Beziehung zu František Palacký und sein Verhältnis zur ungarischen Opposition. Über Palacký schreibt Andrian im März 1847, er habe bei Johann Norbert Ritter von Neuberg, dem vormaligen Kurator der Matice česká, einen „Ultra-Czechen“ kennengelernt, „der schon unter der Thüre von Nationalität zu schreyen anfing“ (I, S. 666). „Palacky“, heißt es am 2. Juni 1847, sei „bey aller Gelehrsamkeit, ja sogar Genialität unpraktisch und sieht alles Heil in der Errichtung böhmischer Schulen“ (I, S. 687). 1848 verfasst Andrian im Namen des Frankfurter Fünfzigerausschusses das Einladungsschreiben an Palacký5, es folgt der berühmte Absagebrief. „Palacky“ hielt Andrian am 2. Juni 1852 fest, sei „immer derselbe sauere Nationalitätsnarr, der seine Sympathieen nach der Grammatik und den Sprachwurzeln ausmißt und diese Tollheit keiner Politik, keinem noch so evidenten Bedürfnisse des Momentes unterordnet, in dieser Beziehung ein echter deutscher Professor“ (II, S. 559). Wie bei Grillparzer vermischt sich bei Andrian die Attitüde der Zivilisierungsmission mit der paternalistisch-altösterreichischen Kritik an den sprachnationalen Flausen deutscher „politischer Professoren“, deren Programm nun mit Verspätung von den böhmischen, ungarischen und „illyrischen“ Gelehrten nachgebetet werde.

Die Tagebücher sind voll von Andrians Lieblingsidee: einer vereinigten ständischen Opposition der habsburgischen Länder. Hier ist vor allem seine Einstellung gegenüber Ungarn interessant. Andrian unterstützte energisch die Aktivitäten der ungarischen Liberalen, über die Tätigkeit von Ferenc Deáks Pester Pressekommittee heißt es: „Alles in der Absicht, die systematische Verdächtigung Ungarns und der konstitutionellen Tendenzen zu contrecarriren, welche von den bezahlten österreichischen Skribenten ausgeht und darauf berechnet ist, die Dummheit und Unfreyheit in den Erblanden zu befördern.“ (I, S. 592; 24.06.1846) 1847 hoffte Andrian, der ungarische Landtag werde sich für eine Wiederherstellung verfassungsmäßiger Rechte in den Erbstaaten einsetzen. Das erinnert an die Pläne Palatin Josephs und Erzherzog Rainers aus dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, die eine Ausdehnung der ungarischen Verfassung auf die Gesamtmonarchie anstrebten.6

Auch die Verständigungsschwierigkeiten innerhalb der Monarchie registrierte Andrian sehr fein: Franz Schuselkas Deutschnationalismus verschreckte die ungarische liberale Opposition und ließ sie fürchten, dass einer Konstitutionalisierung der Erblande unweigerlich die Germanisierung der Monarchie folgen würde. Im Juni 1847 notiert Andrian: „Dagegen verlangen sie [Batthyány, Teleki, Kossuth], oder wenigstens Bathiany: daß von dem, am 4. dieses Monats zu Pesth zu publicirenden, Programme Anlaß genommen werde, im publicistischen Wege eine Demonstration zu Gunsten der magyarischen Nationalität und die Sache der Opposition gemacht werde, denn die Leute fürchten, daß, wenn bey uns das konstitutionelle Princip erstarken sollte, wir dieses zur Erdrückung des Magyarismus anwenden würden, die dummen Germanisirungstiraden von Schuselka & C. haben sie mißtrauisch gemacht.“ (I, S. 686)

Franz Adlgassers hervorragende Edition ist ein wichtiger Baustein für die längst überfällige Neubewertung des Vormärz und des Neoabsolutismus.

Anmerkungen:
1 Madeleine Rietra, Wirkungsgeschichte als Kulturgeschichte. Viktor von Andrian-Werburgs Rezeption im Vormärz, Amsterdam 2001; Jan Heidler, Čechy a Rakousko v politických brožurách předbřeznových, Praha, 1920, S. 189f. Zuletzt Ágnes Déak, Együttműködés vagy konkurencia. Az alsó-ausztriai, a csehországi és a magyarországi ellenzék összefogási kísérlete 1847–1848-ban, in: Aetas 14 (1999).
2 Carl von Kübeck, Bemerkungen über die Angelegenheit des B[arons] Andrian, 9. August 1847, HHStA, Staatskanzlei, Noten von der Hofkammer, 172 (alt: Fasz. 100a), fol. 766, 792.
3 Vgl. Martina Grečenková, Střet tradičního s moderním? Český sněm, vláda a společnost v letech 1740–1848, in: Marian J[ózef] Ptak (Hrsg.), Sejm czeski od czasów najdawniejszych do 1913 roku, Opole, 2000, S. 69–86.
4 Franz Grillparzer, Vorschläge zur Reform aus dem Jahr 1843, zit. n. Rietra, Wirkungsgeschichte als Kulturgeschichte, Dokument Nr. 56, S. 406.
5 Jiří Kořalka, Palacký a Frankfurt 1848–1860: husitské bádání a politická praxe, in: Husitský Tábor 6–7 (1983–1984), S. 239–360, 357.
6 Moritz Csáky, Von der Aufklärung zum Liberalismus. Studien zum Frühliberalismus in Ungarn, Wien 1981, S. 100.

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