K.H. Roth u.a.: Reemtsma auf der Krim

Titel
Reemtsma auf der Krim. Tabakproduktion und Zwangsarbeit unter der deutschen Besatzungsherrschaft 1941–1944


Autor(en)
Roth, Karl Heinz; Abraham, Jan Peter
Anzahl Seiten
569 S.
Preis
39,30 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kim Christian Priemel, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

Nach zwei Monographien über die Unternehmerfamilie Reemtsma und die Entwicklung ihres Rauchwarenimperiums, die 2007 und 2008 vorgelegt wurden1, widmen sich mit Karl Heinz Roth und Jan-Peter Abraham nun zwei weitere Autoren der Unternehmensgeschichte. Auf weit über 500 Seiten über die drei Jahre währenden Aktivitäten des Zigarettenkonzerns auf der von deutschen Truppen besetzten Krim legen die beiden Autoren das Ergebnis ihrer langjährigen Recherchen vor. Der Umfang der Studie resultiert vor allem aus dem Ansatz einer „doppelten Sichtweise von ‚oben‘ und ‚unten‘“ (S. 21), in der Konzern-, Besatzungs- und Erfahrungsgeschichte kombiniert werden, wie die Autoren in ihrer – hinsichtlich Methodenwahl und Forschungsinteresse erfreulich transparent vorgehenden – Einleitung darlegen.

Die Geschichte selbst ist schnell erzählt. Die innerhalb weniger Jahre vom durchschnittlichen Tabakunternehmen zum „De-facto-Monopolist der deutschen Zigarettenindustrie“ (S. 23) avancierte Hamburger Firma geriet nach 1933 zunächst unter erheblichen Druck einerseits wegen ihrer marktbeherrschenden Position, andererseits wegen der Gefährdungen, die der Nikotinkonsum für den „Volkskörper“ bedeutete. Indes gelang es den Reemtsma-Brüdern, mittels gezielter Bestechung von NS-Granden wie Hermann Göring (Philipp F. Reemtsma) und persönlicher Integration in den SS-Apparat (Alwin Reemtsma) den Druck zu verringern und das Familienunternehmen weiter auf Wachstumskurs zu steuern. Diese ambivalente Grundkonstellation verschärfte sich mit Kriegsbeginn. Einerseits fielen die hochwertigen Tabakimporte zu großen Teilen fort, während die raucherfeindlichen Neigungen an der Regimespitze anhielten; andererseits explodierte die Nachfrage nach Rauchwaren und insbesondere nach Zigaretten, die als erschwingliches Genussmittel, das beruhigend wirkte und den Hunger unterdrückte, ohne handlungsunfähig zu machen, von Soldaten, zivilen Arbeitskräften und den deutschen Versorgungsstellen geschätzt wurden.

Aus dieser strategisch schwierigen, weil kaum verlässlich kalkulierbaren Lage zog die Konzernführung in Hamburg zwei Schlussfolgerungen: Zum einen diversifizierten die Reemtsmas ihren Beteiligungsbesitz zum „integrierten Rohstoff- und Konsumgüterkonzern“ (S. 53), zum anderen setzten sie auf gewaltsame Expansion im Osten, insbesondere im Kaukasus und auf der Krim, wo mit dem Überfall auf die Sowjetunion große Anbaugebiete sowie in den Augen der NS-Gesundheitspolitiker nicht schützenswerte Konsumenten in Reichweite gerieten. Während die deutsche Besatzung im Nordkaukasus nie dauerhaft Fuß fasste, geriet die Krim zu einem erstrangigen Betätigungsfeld für Reemtsma wie auch für andere deutsche Unternehmen. Detailliert breiten Roth und Abraham die Leitlinien und Konsequenzen der deutschen Besatzungsherrschaft aus: von den utopischen Plänen, einen deutschen Mustergau auf dem vermeintlichen Erbe der Goten aufzubauen, bis zu den gewaltsamen Eingriffen in die multiethnische Gesellschaft der Krim, insbesondere der Ermordung von Juden, Roma und Krimtschaken. All dies konnte den deutschen Managern nicht nur nicht entgehen, Hungerpolitik und Arbeitszwang wurden dezidiert dazu eingesetzt, die Ausbeutung des Tabakanbaus unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu forcieren.

Dass es Reemtsma tatsächlich gelungen sei, so Roth und Abraham, während der dreijährigen Besatzung die Tabakproduktion auf der Krim weitgehend zu beherrschen und daraus trotz widriger Umstände – schlechte Materialausstattung, Arbeitskräftemangel, anhaltende militärische Unsicherheit – erhebliche Profite zu erwirtschaften, sei vor allem einem Umstand geschuldet gewesen: dem „System Reemtsma“ (S. 65), bei dem Konzernangestellte zugleich offizielle Funktionen in deutschen Dienststellen ausübten und somit eine regelrechte „Symbiose zwischen unternehmerischen und wirtschaftspolitischen Interessen“ entstand (S. 130). In der Tat fiel das Reemtsma-Netzwerk bemerkenswert engmaschig aus, wenn etwa der Reemtsma-Manager und Tabakreferatsleiter im Wirtschaftsstab Ost zwei Reemtsma-Kollegen auf die Krim entsandte, um die Tabakproduktion anzukurbeln, wo diese wiederum mit den ebenfalls aus den Reemtsma-Reihen rekrutierten Offiziellen des Wirtschaftskommandos Krim zusammenarbeiteten.

Ob indes die gelinde verschwörungstheoretisch anmutende Formel von den „eingeschleusten Exponenten der Reemtsma-Interessen“ (S. 447) nicht zu viel Zielgerichtetheit unterstellt, mag zumindest gefragt sein, denn auch in den chemischen und Montanbranchen rekrutierten die Wehrwirtschaftsstellen einen Gutteil ihres Personals aus marktregelnden Verbänden, die wiederum von wenigen oder einzelnen Konzernen dominiert wurden. Zudem formulieren Roth und Abraham gelegentlich allzu suggestiv, etwa in der wiederkehrenden Formel der „Sonderführer des Reemtsma-Konzerns“ (S. 251, 255, 259), die unbestimmt lässt, ob sich diese Männer tatsächlich als Interessenvertreter Reemtsmas verstanden und entsprechend handelten. Ähnliches gilt, wenn die Autoren konstatieren: „Ein Jahr nach ihrer Ankunft in Simferopol’ zogen die Sonderführer des Reemtsma-Konzerns eine erste Zwischenbilanz. Ihre diesbezüglichen Berichte sind verschollen, aber wir können sie uns in ihren Grundzügen recht gut vorstellen“ (S. 262). Das mag sein, ersetzt aber keinen Nachweis.

Solche Überbrückungen sind wesentlich den Quellenlücken geschuldet, die gerade für die Auslandsaktivitäten deutscher Unternehmen oft bestehen. Das tiefer liegende Problem besteht indes darin, dass Roth und Abraham im Grunde gar keine Reemtsma-Geschichte geschrieben haben, sondern über die deutsche Besatzung der Krim mit besonderer Berücksichtigung der Tabakindustrie und ihres wichtigsten Protagonisten. So gelesen, werden die Stärken der Arbeit sichtbarer. Diese liegen in der minutiösen Darstellung der deutschen Besatzungspolitik und in der Analyse des komplexen Geflechts aus Zwangsherrschaft und Kollaboration – auch wenn hier manches schon durch die Arbeiten von Andrej Angrick, Norbert Kunz und Kiril Feferman bekannt ist2 oder an die Ergebnisse anderer Regionalstudien zur deutschen Besatzungsherrschaft im Osten erinnert.3 Vor allem aber liegt der große Wert der Studie in der dichten Beschreibung der systemüberschreitend harten Lebens- und Arbeitsbedingungen „im Tabak“ und unter deutschem Zwang, wie sie der dritte Hauptteil in der Auswertung zahlreicher lebensgeschichtlicher Interviews schildert. Das Ausmaß, in dem die Zeitgenossen und vor allem die Opfer hier zu Wort kommen, ist gar nicht genug zu würdigen und stellt die eigentliche Leistung der Autoren dar. Dafür nimmt man auch die schwere kompositorische Unwucht der Studie und einzelne terminologische Unklarheiten („Taktik“ vs. „Strategie“ in Teil I) oder die allzu sparsamen „komparativen Schlussüberlegungen“ (S. 457) in Kauf. Anders verhält es sich allerdings mit Fehlleistungen wie der „hübsche[n] Blondine“ (S. 416) oder, gravierender, der Formulierung, jüdische Frauen hätten versucht, „ihr Leben als Gespielinnen der Paramilitärs des Teilkommandos zu retten“ (S. 203) – was Wahlfreiheit in einer Situation suggeriert, die mit Zwangsprostitution und/oder Vergewaltigung wohl zutreffender beschrieben ist.

Unter dem Strich bleibt eine bemerkenswerte dichte Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft auf der Krim, die überzeugend für eine Weitung des Zwangsarbeiterbegriffs zu einem „Universum unfreier Arbeit“ (S. 456) argumentiert, mit entsprechenden Konsequenzen für Entschädigungsansprüche, und deren Untertitel den Kern der Arbeit besser beschreibt als der Haupttitel.

Anmerkungen:
1 Erik Lindner. Die Reemtsmas. Geschichte einer deutschen Unternehmerfamilie, Hamburg 2007; Tino Jacobs, Rauch und Macht. Das Unternehmen Reemtsma 1920 bis 1961, Göttingen 2008.
2 Andrej Angrick, Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941–1943, Hamburg 2003; Norbert Kunz, Die Krim unter deutscher Herrschaft 1941–1944. Germanisierungsutopie und Besatzungsrealität, Darmstadt 2005; Kiril Fefermann, The Food Factor as a Possible Catalyst for Holocaust-Related Decisions: The Crimea and the North Caucasus, in: War in History 15 (2008), S. 72–91; ders.; Looking East or Looking South? Nazi Ethnic Policies in the Crimea and the Caucasus, in: Anton Weiss-Wendt (Hrsg.), Eradicating Differences. The Treatment of Minorities in Nazi-Dominated Europe, Newcastle 2010, S. 103–118.
3 Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941–1944, Düsseldorf 1998; Alexander Brakel, Unter Rotem Stern und Hakenkreuz: Baranowicze 1939 bis 1944. Das westliche Weißrussland unter sowjetischer und deutscher Besatzung, Paderborn 2009; Tanja Penter, Kohle für Stalin und Hitler. Arbeiten und Leben im Donbass 1929 bis 1953, Essen 2010; Christoph Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, Göttingen 2011.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension