Titel
Märchenstraßen – Lebenswelten. Zur kulturellen Konstruktion einer touristischen Themenstraße


Autor(en)
Hemme, Dorothee
Reihe
Studien zur Kulturanthropologie, Europäischen Ethnologie 2
Erschienen
Münster 2009: LIT Verlag
Anzahl Seiten
521 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Felix Girke, Zentrum für Interdisziplinäre Regionalstudien (ZIRS), Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Die Deutsche Märchenstraße, sicher eine der bekannteren der zahlreichen Themenstraßen des Landes, hat bis zu ihrem 30-jährigen Jubiläum 2005 schon einiges erlebt, wie Dorothee Hemmes Viagraphie deutlich macht. Es änderten sich Träger und Geschäftsführungen, die Einrichtung oszillierte zwischen öffentlicher Finanzierung und privatwirtschaftlicher Investition und wurde in der grundsätzlichen Ausrichtung wirtschaftliches Potential vom Verlangen nach Identitätsstiftung überlagert – oder anders herum. Die ikonischen Märchenfiguren, die für die Themenstraße Werbung machen, wurden in den drei Jahrzehnten ihres Bestehens auf Tourismusmessen von China bis Amerika zu vertrauten Gestalten, und die Problematik der Themenstraße wirbelte die Politiklandschaften von zunächst drei west- und schließlich vier gesamtdeutschen Bundesländern durcheinander.

Der Band ist in drei Teile segmentiert: (1) eine Einleitung, (2) einen linearen Überblick über 30 Jahre Deutsche Märchenstraße, und (3) eine Aneinanderreihung fokussierter Portraits einzelner Ortschaften an der Märchenstraße, welche den Titelzusatz „Lebenswelten“ substantiell ausfüllen. Jeder einzelne Teil ist sehr sorgfältig geschrieben, gemeinsam stellen sie ein überwältigendes Vademecum für die behandelte Themenstraße dar. Der umfangreiche Quellenteil kompensiert nahezu das Fehlen eines Index.

Die Einleitung besteht aus sehr lohnenden 30 Seiten. Hemme verbindet hier die Entstehungswelle von Themenstraßen mit einem dichtgeknüpften Netz von generellen Fragen und Herausforderungen im Bereich des Tourismus und des Erbes. Themenstraßen werden als symbolische Konstruktionen behandelt, die sich stets an den verknüpften Orten und deren Attraktionen beweisen müssen; hier spielen kulturelle Praxen, Objekte, Events bei dem Versuch einer distinguierenden Profilbildung zusammen. Ein zentraler Begriff ist die „Inwertsetzung“, bezogen sowohl auf ökonomische Gewinngenerierung wie auf Identitätsstiftungen. Konkrete Projekte wie die Märchenstraße, die ja zugleich als symbolischer Diskurs und als praktische Anordnung besteht, müssen, so Hemme, als „multivokale Räume“ verstanden werden: Wir sind im Laufe der hier erzählten Geschichte mit mehreren Versionen von „Märchenstraße“ konfrontiert, da an dieser Konstruktion „eine Vielzahl von Menschen […] direkt und indirekt, kreierend, konzipierend, konsumierend und rezipierend“ beteiligt sind (S. 28). Unter den weiteren in der Einleitung angeschnittenen Themen finden sich das Verhältnis von Literatur zu Landschaft und Reisen, sowie die idealistische Grundausrichtung des in dieser Geschichte so bedeutsamen Vereinswesens.

Der zweite Teil protokolliert Entstehung und Werdegang der Themenstraße „zwischen Vereinswesen und Marktwirtschaft“ auf nahezu 250 Seiten und analysiert die Entwicklung oft sehr erhellend im Rahmen aktueller Debatten. Der schiere Umfang dieses Teils wird durch die hintangestellte „Zusammenfassung“ gemildert, welche die entscheidenden Entwicklungen 1975–2005 auf wenigen Seiten hilfreich zusammenfasst.

Der dritte Teil besteht aus vier ethnographischen Einzelstudien, „Mitgliedsorte und Märchenstraßenaktivisten“ unterschiedlicher Tragweite und Dramatik, an deren Beispiel die größeren Dynamiken des zweiten Teils eine anders geerdete Veranschaulichung finden: das wichtige und lange widerwillige Hameln mit seinem weltberühmten Rattenfänger und die kleineren Destinationen Bodenwerder mit seinem Münchhausen-Bezug, das „Rotkäppchenland“ Neukirchen und der märchenhafte Reinhardswald. Hier stehen Versuche im Vordergrund, lokale Identitäten an das stets nötige Märchenthema anzubinden.

Der andauernde „Boom“ von Themenstraßen ist vielleicht nicht jedem bewusst: Themenstraßen zielen ja prinzipiell auf Kraftfahrzeugtourismus, eine nur manchen ansprechende Form des Reisens. Hemmes Darstellung weckt allerdings Verständnis für die Welt von Ortsverwaltungen, ministerialen Planern und Fremdverkehrsvereinen, denen eine Themenstraße ein derartiges Versprechen und Chance darstellt, dass sich Institutionen wie Individuen über Jahrzehnte an solche Projekte binden. Existierende Themenstraßen werden von diesen Akteuren miteinander verglichen, und anscheinend erfolgreiche Modelle werden auch in Teilen kopiert. Praktisch gesprochen stellt sich dieses Versprechen folgendermaßen dar: Themenstraßen verbinden Orte, eröffnen Zugänge zu Landschaft und geben Landschaften ein markantes, werbewirksames Profil. Sie sollen zur regionalen wie lokalen Identitätsstiftung beitragen oder sogar in (wie im vorliegenden Fall) strukturschwachen Gegenden zu einer generellen Aufbruchsstimmung verhelfen. Themenstraßen führen damit nicht nur von A nach B, sondern sie sollen vor allem auch in die Zukunft führen – eine schwere Hypothek, wie Hemme ausführt, angesichts notorisch kurzer Zeithorizonte bei vielen der beteiligten Akteure (wie Parteien und regionalen Mandatsträgern). Zugleich ist die Geschichte der Märchenstraße durchdrungen von den rivalisierenden Grundgedanken des Ehrenamts und der Vereinsarbeit einerseits (oft amateurhaft und durch Basisdemokratie in der Entscheidungsfindung gehemmt), und den Zielsetzungen und Vorgehensweisen professioneller Marketingexpertise und (privaten) Gewinnbestrebungen andererseits. Die „Arbeitsgemeinschaft Märchenstraße“ verbleibt so in Hemmes Narrativ der Hauptakteur, wird aber unaufhörlich vom Widerstreit dieser Haltungen gebeutelt; diese Dynamik liefert das eigentliche Drama der Geschichte.

2005 ist für die Deutsche Märchenstraße ihr Jubiläums- und Jubeljahr, und die Studie stoppt bei diesem happy end. Hemme fasst zusammen: „Erfolge im Ausland“ und die „Strahlkraft der UNESCO-Auszeichnung“ für die Grimmschen Märchen als „Weltdokumentenerbe“, welche ja die Grundlage für das Thema der Straße lieferten (schön: den „Lockstoff“), ließen „lokale Politiker den zwischen der Befestigung lokaler Identität und Möglichkeiten ökonomischer Inwertsetzung angesiedelten Wert der Märchenstraße“ (S. 295) anerkennen. Hemmes erleichtert anmutender Ausblick, dass die „daraus resultierende Unterstützung […] die Arbeitsgemeinschaft dem Privatisierungsdruck [enthob]“ (ebd.), beschwört im Leser die Grimmschen Werke selber herauf: nach vielen Reisen auf Tourismusbörsen in China und nach Kämpfen mit Riesen-Politikern ist nun die böse Hexe „Übernahme durch die Privatwirtschaft“ besiegt, und wenn sie nicht gestorben sind, dann werkelt die Arbeitsgemeinschaft noch heute basisdemokratisch weiter. Dieser märchenhafte Abschluss wirkt genrekonform.

Abschließend ist die klare, von Umständlichkeit freie Sprache der Autorin hervorzuheben: Eine offensichtlich hervorragende Doktorarbeit ist hier zu einem überraschend spannenden, wenn auch recht langen Buch geworden. Hemmes Darstellung der „kulturellen“ Konstruktion der Deutschen Märchenstraße transportiert genauso deren soziale, politische und materielle Konstruktion – eine beeindruckende Studie, in der eine 30-jährige Entwicklung nicht nur in Fleißarbeit minutiös nachvollzogen wird, sondern die genauso durch gekonnte Rückbindung der Schilderungen an die aktuellen theoretischen Fragestellungen im weiten Feld von Kulturerbe und Tourismus überzeugt. Auch wem Themenstraßen bisher nicht als relevante Elemente von Tourismuslandschaften vertraut waren, verspricht der Band „Märchenstraßen – Lebenswelten“ faszinierende inhaltliche wie methodische Einblicke in the life and times eines solchen Projekts, und wie man ihm wissenschaftlich begegnen kann – Hemme geht auch präzise auf ihren augenscheinlich sehr guten Feldzugang ein. Ein caveat sei hinzugefügt: Touristen selber kommen hier weder zu Wort, noch wird ihr Wirken betrachtet. Wer sich mit der Setzung, dass wir nach Orvar Löfgren alle Touristen sind, und damit das „Tourist-Sein und das Tourismus-Machen einander reflexiv bedingen“ (S. 29) nicht zufriedengeben möchte, der suche woanders.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/