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Titel
Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug


Autor(en)
Figes, Orlando
Erschienen
Berlin 2011: Berlin Verlag
Anzahl Seiten
747 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Kusber, Historisches Seminar Abteilung VI: Osteuropäische Geschichte, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

Nur wenige Historikerinnen und Historiker erreichen ein ähnlich großes Lesepublikum wie Orlando Figes. Nun liegt seine Gesamtdarstellung zur Geschichte des Krimkrieges (1853-1856) in deutscher Übersetzung vor. Dieser Krieg galt Russlandhistorikern lange Zeit als jene Auseinandersetzung, die das Zarenreich als einen „Koloss auf tönernen Füßen“ zeigte und die Großen Reformen Alexanders II. auslöste. Dietrich Geyer diente der Krieg vor mehr als dreißig Jahren als Ausgangspunkt, um das Wechselverhältnis zwischen äußerer und innerer Politik im Zarenreich kundig zu erläutern. Während das Interesse am Krimkrieg in England aufgrund des hohen Ansehens der Militärgeschichte nie erlosch, legte Winfried Baumgart in Deutschland nicht nur einen gewaltigen, mehrbändigen Quellenkorpus zur Diplomatiegeschichte des Krimkriegs, sondern gleich zwei Monografien vor. Man konnte also gespannt sein, was dem Thema Neues abzugewinnen ist. Es hat in Orlando Figes einen Historiker gefunden, der es versteht zu erzählen. Hierin liegt die Stärke des Buches. Interessant ist auch der weite Horizont eines gesamten Säkulums, in den er den Krieg am Ende der Herrschaft Nikolaus I. einordnet. Figes strebt eine multiperspektivische Darstellung nicht nur aus russischer, sondern auch aus französischer, englischer und osmanischer Sicht an. Dies gelingt ihm, auch wenn die Schwerpunkte eindeutig auf der englischen und der russischen Perspektive liegen. Dies mag mit der Literatur zusammenhängen, die er sprachlich zu verarbeiten in der Lage ist. Deutsche Historiker können hier wieder einmal beklagen, dass sie bei Publikationen in ihrer Muttersprache nur ephemer zur Kenntnis genommen werden. Gewichtiger scheint mir dies für die türkische Geschichtsschreibung. Freilich leiden darunter nahezu alle Synthesen eines solchen Zuschnitts.

Figes vermag es, Schlachten wie die bei Balaklawa oder die Belagerung Sewastopols von den teils hagiographischen Darstellungen der Nationalhistoriographien weitgehend zu lösen, um auch die Paradoxien dieses Krieges begreiflich zu machen – die Brutalität und die Entfesselung der Gewalt im Gefecht auf relativ kleinem Raum einerseits und die fast freundschaftliche Verständigung zwischen den Soldaten andererseits gehören ebenso dazu wie die Modernität mancher Techniken und die nicht mehr dazu passenden Traditionen in den Offizierskorps der Kombattanten oder die Kritik an Kriegsführung, Ausstattung und Politik ihrer jeweiligen Länder hier und die Hingabe für das, was sie jeweils für eine gerechte Sache hielten dort. In der Erzählung werden die russische wie die britische Armee auf je eigene Weise als rückständig dargestellt. Sind es auf russischer Seite technische Mängel und ein überkommenes System der Rekrutierung der Armee sowie die bereits vielfach beschriebenen infrastrukturellen Probleme, mit denen Figes ins Gericht geht, bekommt vor allem das britische Offizierskorps „sein Fett weg“, sei dies doch an dem Lebensentwurf eines Gentlemans im Feld ausgerichtet und nicht an den Erfordernissen eines modernen Krieges orientiert gewesen. Positiv hingegen bewertet er operationales Verhalten und Logistik der Franzosen, die die Erfahrungen des Algerienkrieges inklusive ihrer Kolonialtruppen gekonnt zu nutzen gewusst hätten.

In manchem folgt Figes dann freilich auch wieder tradierten Wegen der Geschichtsschreibung: Lew Tolstoi ist für Figes ein bewährter Gewährsmann wie schon für Generationen von Historikern vor ihm, um jenseits aller Literarisierungen seine Aufzeichnungen direkt als Berichte aus dem Innenleben der russischen Armee zu nehmen. Generäle wie der Ingenieur Todtleben, der die Befestigungen zur Verteidigung Sewastopols organisierte, bleiben in seinem Narrativ die Helden, die sie nach dem Krieg und auch in der Sowjetunion seit Stalin waren.

Doch der Leser bleibt auch mit Fragen zurück. Worauf genau ist eigentlich der Untertitel „Der letzte Kreuzzug“ bezogen? Man hat doch den Eindruck, dass alle Parteien die gerechte Sache und den Glauben vordergründig für sich kaperten, um sich machtpolitisch zu behaupten. Dies gilt schon für den Konflikt um die Heiligen Stätten als Auslöser, die Figes schildert, um sein monumentales Panorama zu entfalten, und auch für die Rechtfertigung der Opfer im Krieg selbst. Ist die Aktualisierung auf heutige Konflikte gerechtfertigt? Und tragen die Grundannahmen über einen russischen Expansionsdrang, über die anhaltende britisch-russische Antipathie wirklich? Allzu flott wird der Bogen vom „Griechischen Projekt“ zur Gewinnung Konstantinopels als russischem Kriegsziel im Krimkrieg geschlagen und dabei die russische Intervention auf Seiten des Sultans gegen Mehmet Ali Pascha 1833 als Griff nach den Dardanellen und nicht als legalistischer Ansatz im Sinne der Wiener Kongressakte interpretiert. Wird die zwar eingeräumte, aber situative Macht der öffentlichen Meinung in allen Ländern von Figes bei der Verfolgung von Zielen nicht unterschätzt? Dies gilt meiner Meinung nach auch bei den Mehrfachbeanspruchungen eines Schutzrechtes für die Christen unterschiedlicher Konfessionen im Heiligen Land im Speziellen und im Osmanischen Reich im Ganzen. Teils fehlen schlichtweg die Nachweise, wenn Figes psychische Erbkrankheiten im Zarenhaus behauptet und diese nicht nur auf Nikolaus I. anwendet (S. 77). Was meint er mit diesen Andeutungen? Auch ist die Übersetzung nicht immer gelungen, so „schleichen“ sich an manchen Stellen „Großherzöge“ anstelle von Großfürsten in die russische Politik.

Ein insgesamt ambivalenter Eindruck bleibt zurück: Eindrucksvolle Erzählkunst, die unterhält, die aber meines Erachtens einen unpassenden Gegenwartsbezug herstellt und die auch über manch gewagte Interpretation gleichsam „hinweg erzählt“.

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