Titel
Kartierte Nationalgeschichte. Geschichtsatlanten im internationalen Vergleich 1860–1960


Autor(en)
Schraut, Sylvia
Erschienen
Frankfurt am Main 2011: Campus Verlag
Anzahl Seiten
568 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Tim Köhler, Institut für Erziehungswissenschaft, Technische Universität Braunschweig

Sylvia Schraut untersucht in ihrer Studie explorativ einen kaum erforschten Bereich der Lehrmittel, die Schulgeschichts-Atlanten zwischen 1860 und 1960. Sie stellt sich damit dem empirischen Defizit der Lehrmittelforschung. Auf 568 Seiten mit graphisch sehr aufwendigen Darstellungen und Abbildungen eröffnet sich eine umfassende Geschichte der wichtigsten Geschichtsatlanten in Deutschland, Österreich, England und den USA. Die Metapher eines „Geschichtsbildes“ prägt sich von Beginn an ein. Geschichtsatlanten stehen in einem Zwischenbereich von Wissenschaft und Schule und sind als Quelle per se von interdisziplinärem Interesse. Besondere Relevanz haben Schulgeschichtsatlanten, da jedes Schulkind irgendwann mit Geschichtskarten konfrontiert wird. Der international bekannte Putzger ist selbst Geschichte geworden.

Schraut dekonstruiert die in Geschichtsatlanten vermittelten Geschichtsbilder in Form einer international vergleichenden Studie (S. 15). Diese ist in Einzelanalysen jeweils klar strukturiert und beginnt mit der Beschreibung des jeweiligen Bildungssystems, der Einordnung des Faches Geschichte in den jeweiligen schulischen Kontext, der Geschichte der Atlanten, der Analyse des jeweils wichtigsten Werkes, der politischen Zäsuren und ihrem Einfluss auf den Geschichtsunterricht, um im Abschlusskapitel komparativ die Entwicklungen und die Geschichtsbilder zusammenzuführen.

Den ersten Untersuchungsteil bildet die preußisch-deutsche Geschichte. Die Kontextualisierung findet hier vor allem über die Lehrpläne, die wichtigsten Erlasse und Rezensionen statt. Die Schulgeschichtsatlanten gliederten sich in die (Teil-)Fächer Geographie und Geschichte (S. 26). Der lange Untersuchungszeitraum führt zu einem teilweise schematischen Ritt durch die Bildungsgeschichte und zeigt die erstaunlich große Kontinuität des deutschen Bildungssystems und eines nationalzentrierten Geschichtsbildes im Putzger. Dieser zeichnet sich durch eine Antizipation politischer Entwicklungen aus, auch durch die frühe Setzung auf die „völkische Karte“ (S. 70) mit unzähligen Auflagen. Er wurde so zum erfolgreichen, internationalen Muster – und zum Synonym für den Schulgeschichtsatlanten schlechthin (S. 62). Kern der Analyse sind die ausführlichen, biographisch angelegten Darstellungen über die Herausgeber, Autoren bzw. Bearbeiter und der wichtigsten Atlanten. Der Putzger ‚überlebte‘ Herausgeberwechsel, Lehrplanänderungen, neue Forschungstendenzen und politische Zäsuren. Er transportierte so ein kontinuierliches preußisch-deutsches Geschichtsbild. Schraut desavouiert hier das ‚Versagen‘ der Universität neue Vorlagen des Geschichtsstoff zu liefern (S. 46/47). Erst 1961 gab es eine „echte Neufassung“ (S. 141). Schraut vermeidet es indes, über Wirkungsannahmen bei den Schüler/innen zu spekulieren oder diese gar vorauszusetzen.

Im dritten Kapitel wird Österreich als großdeutsche, katholische Alternative zum preußisch dominierten Deutschland untersucht. Die wichtigsten Atlanten gab es hier nicht nur in deutscher Sprache; zudem war der Jausz nach seinem Verfasser zunächst ungarisch orientiert. Diese Einschätzung rekurriert auch auf den biographisch-personalisierten Ansatz der Analyse. Gegenüber Preußen zeigte sich Österreich als bildungspolitischer Spätstarter, jedoch trotz aller konfessionellen Elemente ebenso mit einem staatszentrierten Bildungssystem ausgestattet (S. 161). Ein österreichisches Geschichtsbild entwickelte sich erst nach und nach (S. 164), bis 1932 die gemeinsame deutsche Geschichte verschwunden war. Auch in Österreich herrschte zunächst der Spruner vor, um dann von den Produkten des Verlages Ed. Hölzel mit seinem Jausz, ab 1887 Schubert/Schmidt und ab 1935 Schier abgelöst zu werden (S. 179). Dazu gab es den Gegenentwurf eines österreichisierten, aber wilhelminischen Putzger. Die Österreichische Atlasgeschichte ist auch eine Suche nach dem eigenen Geschichtsbild. Schraut beschreibt die österreichische Geschichte als Abfolge von Identitätskrisen in den Jahren 1848, 1866, 1918, 1934, 1938 und 1945 (S. 221), die im Geschichtsunterricht marginalisiert wurden. Die Geschichte des Schulatlasses steht damit im Kontrast zur universitären Historiographie (S. 227). Die mangelnde Revision des Geschichtsbildes in Österreich und Preußen ist vergleichbar, zudem die Tendenz zur Pazifizierung und Demokratisierung nach 1945. Eine Revision blieb jedoch bis in die 1960er-Jahre aus.

Als Kontrast zu den beiden deutschsprachigen Untersuchungsfeldern analysiert Schraut im vierten und fünften Teil die zentralen Entwicklungen der englischen und amerikanischen Atlanten. Eine Kombination aus privatem und öffentlichem Schulsystem kennzeichnet die englische Schulentwicklung. Die staatliche ‚Einmischung‘ (S. 266) in England begann erst sehr viel später als in Preußen und ein verbindliches Curriculum gab es erst 1988. Dadurch sind Aussagen über den Geschichtsunterricht nur indirekt möglich. Dies konvergiert mit der mangelnden universitären Profilierung bis in das 20. Jahrhundert hinein. Trotzdem lässt sich über verschiedene Beispiellehrpläne ein Fokus auf die englische Politikgeschichte erkennen. Bis in die 1940er-Jahre blieb die „grundsätzliche Freiheit, den Geschichtsunterricht nach eigenem Gutdünken zu gestalten“ (S. 276). Dadurch entwickelte sich überraschenderweise ein recht einheitliches Geschichtsbild im schulischen Kontext. Die Geschichte als Unterrichtsfach, als Wissenschaft und im Atlas wird von Schraut als rückständig gekennzeichnet (S. 284). Dennoch entwickelten sich in England zwei Standardwerke desselben Autors und Verlagshauses. Philip’s A New School Atlas of Modern History und Philip’s New Historical Atlas for Students, nach dem Autor Muir genannt, sprachen ab 1911 unterschiedliche Zielgruppen durch unterschiedlichen Umfang an und standen in Konkurrenz zum maßgebenden Putzger. Jedes Untersuchungsland weist eine Entwicklung eines Atlanten zu einem Eponym auf, gerade weil diese sich, wenn bildungspolitisch notwendig, aktualisierten. Dazu gehört für England der Wandel in der Darstellung des Muir von einem zügellosen Imperialismus hin zu einer positiven Betonung des Commonwealth (S. 333).

Die USA als vierter Untersuchungsraum soll die besondere Relevanz des Schulsystems und seiner gegenüber Preußen späten Entwicklung im Kontext der Heterogenität der Bundestaaten und der Offenheit für die Einzelschulen zeigen. Auch hier fällt die ‚verspätete‘ Entwicklung des Geschichtsunterrichtes mit der universitären Entwicklung zusammen, so dass für das 19. Jahrhundert kaum valide Aussagen zu treffen sind. Erst ab 1895 finden sich eindeutige Quellen, die eine Verwendung bestimmter Atlanten mit der Tendenz zur Vereinheitlichung belegen (S. 374). Wichtigste Quellen sind die Empfehlungen und Untersuchungen der eingesetzten Kommissionen der National Education Association (NEA). Der Erste Weltkrieg gab hier einen ersten patriotischen Input. Schraut fasst die folgende Phase als Beschränkung auf eine selbstgenügsame Nationalgeschichte zusammen (S. 385). Der Shepherd aus dem Hause Hold wurde ebenfalls 1911 auf den Markt gebracht und dominierte diesen Jahrzehnte lang. Ab den 1930er-Jahren entstand das fehler- und lückenhafte Konkurrenzprodukt im „Billigpreissektor“ (S. 396) des Verlages Hammond. Letzterer nahm sich den Putzger und den Muir als Vorbild. Zwischen dem Shepherd und dem Putzger gab es zeitweise sogar eine enge Zusammenarbeit (S. 401). Noch stärker als in den anderen Ländern zeigt sich in den USA, dass sich das Geschichtsbild von 1911 bis in die 1980er-Jahre hinein hielt.

Der abschließende Vergleichsteil greift die vier Untersuchungsfelder nochmals auf und widmet sich kontrastiv den Ergebnissen unterschiedlicher Geschwindigkeiten in der Verstaatlichung und Entwicklung der Schulsysteme. Insgesamt lässt sich eine erstaunliche Kontinuität der nationalen Geschichtsbilder festhalten. Die Darstellungen der Bildungssysteme sind zwar informativ und die vielen Abbildungen sehr übersichtlich, jedoch nicht sehr tiefgehend. So bleibt die Einschätzung der deutschen-österreichischen Verstaatlichung und ihren anglo-amerikanischen Antipoden doch sehr schematisch und jeweils zu allgemein. Sie lässt Abweichungen wie den Adoption States in den USA und der komplexen und keineswegs bruchlosen Verstaatlichung der Schule in Preußen außer Acht.1 Die Atlanten werden bei Schraut zwischen der Bildungspolitik und Wissenschaft nicht genau verortet, hier hätte eine Einbeziehung der Popularisierungsforschung eine Brücke schlagen können.2 Weitere Quellen, wie die Lehrpläne, werden nicht systematisch einbezogen und auf ihre Reichweite hin überprüft. Dass der Putzger eine große Rolle spielt, erfährt der Leser in allen möglichen Facetten. Dadurch wiederholen sich zentrale Aussagen, mit dem Vorteil, jeden Untersuchungsteil auch für sich lesen zu können. Sylvia Schraut füllt mit ihrer Untersuchung eine empirische Lücke in der Lehrmittelforschung, jedoch ohne tiefergehende systematische Aussagen zur kontextuellen Einbettung.

Anmerkungen:
1 Frank-Michael Kuhlemann, Modernisierung und Disziplinierung. Sozialgeschichte des preußischen Volksschulwesens 1794–1872, Göttingen 1992.
2 Angela Schwarz, Bilden, überzeugen, unterhalten: Wissenschaftspopularisierung und Wissenskultur im 19. Jahrhundert, in: Carsten Kretschmann (Hrsg.), Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel, Berlin 2003, S. 221–234.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/