Titel
Sozialraumorientierung revisited. Geschichte, Funktion und Theorie sozialraumbezogener Sozialer Arbeit


Autor(en)
Bingel, Gabriele
Erschienen
Anzahl Seiten
283 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Sandra Landhäußer, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Tübingen

Mit der vorliegenden Publikation wird grundsätzlich die Frage aufgeworfen, welche Rolle historische Forschung für die Soziale Arbeit und ihre Theoriebildung sinnvollerweise spielen kann, und in der Perspektive auf eine sozialraumbezogene Soziale Arbeit hin bearbeitet. Ausgangspunkt der Dissertation bildet einerseits die diskursive Dominanz der aktuellen Forderung, die Soziale Arbeit habe sich am Sozialraum auszurichten sowie andererseits die damit einhergehende Fülle unterschiedlichster Zugänge zum Thema. Dabei überwiegen programmatisch-normative Schriften; seltener finden sich systematische bzw. theoretisch-kritische Betrachtungen, gerade auch in Verbindung mit historischen Aufarbeitungen. Ebenso bleibt der gemeinsame Gegenstand selbst meist hoch diffus bzw. unbestimmt. Vor diesem Hintergrund reiht sich das vorliegende Werk in den gegenwärtigen Diskurs einer Selbstvergewisserung sozialräumlich orientierter Sozialer Arbeit ein. Mittels Diskursanalyse werden für das 20. Jahrhundert zeittypische „Bezugnahmen auf Sozialräumlichkeit“ (S. 20) aus entsprechendem Textmaterial rekonstruiert, das sich auf sozialräumliche Reflexivität oder einen sozialräumlichen Handlungsbedarf in der Sozialen Arbeit bezieht. Ziel ist es dabei, nach der funktionalen Rolle des Sozialraumdiskurses zu fragen, in dem „Soziale Arbeit ‚das Sozialräumliche‘ als einen Wirkungsbereich beansprucht und sich im Wohlfahrtssystem als ein geeignetes System zur Bearbeitung sozialräumlicher Problemkonstellationen“ (S. 15) anbietet.

Das Buches ist in vier Abschnitte gegliedert: eine inhaltliche Einführung in das Thema der Geschichte und Funktion der Sozialraumdiskurse (Kapitel 1), es folgen Hinweise zur Methodologie und Methodik der empirischen Untersuchung (Kapitel 2), danach wird in einem dritten Abschnitt (Kapitel 3–8) die historische Analyse anhand sechs zentraler, zeitlich bestimmter Stationen durchgeführt: Ihr Beginn wird mit der Entstehung moderner Sozialer Arbeit am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert datiert; nach einem Fokus auf die Weimarer Republik wird eine zeitliche Periodisierung in Jahrzehnten von den 1960er- bis 1990er-Jahre vorgenommen. In dem sich anschließenden vierten Teil der Arbeit (Kapitel 9–12) erfolgt eine zusätzliche Verdichtung der Analyseergebnisse. Abschließend werden allgemeine Konsequenzen für die Theoriebildung in der Sozialen Arbeit formuliert. Dabei werden Diskurse in der Sozialen Arbeit allgemein betrachtet, spezifische Diskurse der Jugendhilfe, wie sie beispielsweise in den einzelnen Handlungsfeldern zu finden sind, finden bei Bingel keine Berücksichtigung. Dies ist angesichts der Vielfalt der Diskursdimensionen und der Unterschiede zwischen einzelnen Handlungsfeldern nachvollziehbar.

Nach der Einleitung ins Thema und einigen methodischen und methodologischen Hinweisen zur Untersuchung rekonstruiert Gabriele Bingel im dritten Teil der Arbeit „die Varianz unterschiedlicher Zugänge zum Problem sozialräumlich ungleicher Verteilung von Lebensbedingungen und die Varianz der zeithistorisch normativen Herangehensweisen“ (S. 15). Sie gestaltet die Beschreibung der jeweiligen Periode mit einem historischen Steckbrief, es folgt die inhaltliche Darstellung zeittypischer, sozialräumlicher Diskursmuster und schließt jeweils mit einer Zusammenfassung zentraler Ergebnisse. Für ein genaues Nachvollziehen der historischen Einzelheiten sowie der vielschichtigen Dimensionen und Verschiebungen in den unterschiedlichen Sozialraumdiskursen sei die Lektüre dieser anregenden und gut zu lesenden Kapitel empfohlen. Die Untersuchung bezieht sich vorrangig auf einen nationalen, deutschen Kontext. Verweise auf – teilweise ähnliche – internationale Diskurse finden nur am Rande statt. Eine explizite Begründung dieser Beschränkung bleibt die Autorin jedoch schuldig.

Mit Blick auf die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert wird der Zusammenhang zwischen der Entstehung und Etablierung Sozialer Arbeit und der Entwicklung der Städte, der Industrialisierung und daraus resultierenden sozialen Problemen aufgezeigt. Hinsichtlich der Ursache und Bearbeitung sozialer Probleme finden sich sehr unterschiedliche, teils widersprüchliche, auch sich wandelnde Begründungszusammenhänge: So etwa die Versöhnung der Klassen als bürgerliche Idee im Rahmen der Settlementarbeit, die Verknüpfung von Sozialer Arbeit und staatlicher Wohnungsbaupolitik, die vorherrschenden Ideen der Sozialplanung aus den 1960er-Jahren sowie der Gedanke einer Politisierung benachteiligter Adressat/innen, der unter anderem in den 1970er-Jahren präsent war. Gleichzeitig gibt es Ideen, die immer wiederkehren, teilweise in ähnlicher Konnotation, teilweise in sich wandelnder: so etwa das Motiv der Disziplinierung von arbeitsunwilligen Menschen oder der Gemeinschaftsbildung im Sozialraum angesichts sozialer Isolierung. In aktuellen Diskursen sind demgegenüber verstärkt Perspektiven der Moralisierung und Aktivierung von Adressat/innen zu finden, wie sie etwa der Diskurs um eine neue ‚Underclass‘ nahelegt. Bingel identifiziert es als kennzeichnend für Sozialraumdiskurse, dass zentrale Motive der Sozialen Arbeit – gerade in ihrer Entwicklung über die Zeit – so hybrid gefasst sind, dass sie unterschiedlichste, auch widersprüchliche Facetten in sich vereinigen und flexibel instrumentalisiert werden konnten.

Im vierten und letzten Teil der Arbeit wird die historische Rekonstruktion unter anderem anhand der Motive Integration, Gemeinschaft, Bürgergesellschaftlichkeit, Subjektivierung, die Rolle von Lebensstilen der Adressat/innen oder die Bezugnahme auf pädagogisch hervorgebrachte Eigenverantwortung verdichtet (Kapitel 9). Entlang dieser Ausführungen wird auf die Möglichkeit der flexiblen Instrumentalisierungen unterschiedlicher Dimensionen verwiesen. So werde einerseits der Sozialraum selbst sowohl als destruktiv konstruiert, wenn er etwa als Bezugspunkt für Ausgrenzung oder als Ort negativen, milieubezogenen Lernens gesehen wird. Andererseits gelte er als sozial produktiv, wenn ihm die Chance zugeschrieben wird, dort gemeinsam Macht zu entfalten oder als Ort, Fähigkeiten für bürgerschaftliches Engagement einzuüben. Darüber hinaus werden zwei zentrale Funktionen des Sozialraumdiskurses für die disziplinäre und professionelle Identität der Sozialen Arbeit selbst herausgearbeitet: Zum einen könne Sozialraumorientierung der Entlastung von disziplinären Konflikten dienen (vgl. Kapitel 10). Der Sozialraum werde als Ebene zwischen Individuum und Gesellschaft genutzt, da sich hier Lebensweltliches und Gesellschaftliches verbinden lasse. Das Soziale werde so als durch Soziale Arbeit gestaltbar inszeniert. Auf diese Weise bewältige Soziale Arbeit ihren „eigenen Ziel-Mittel-Konflikt[…]“ (S. 241), der zwischen ihrem eigenen Anspruch der gesellschaftlichen Wirksamkeit und ihren begrenzten Einflussmöglichkeiten entstehe. Der Sozialraum werde also zur Auflösung der „Diskrepanz zwischen sozialen Visionen und begrenztem Handlungsrepertoire“ (S. 237) genutzt. Zum anderen werde über den Sozialraumdiskurs Legitimität und soziale Produktivität Sozialer Arbeit hergestellt (vgl. Kapitel 11). Gabriele Bingel verweist auf den konstruktiven Charakter der Diskurse, da Soziale Arbeit auf diese Weise ihre eigene Notwendigkeit im Sinne legitimer Problemdefinitionen und -lösungen plausibilisieren könne. Mit diesen beiden Folgerungen aus der historischen Analyse werden zwei gute Gründe geliefert, warum sich Soziale Arbeit historisch-reflexiv mit ihren Grundlagen auseinandersetzen sollte.

Insgesamt findet in der vorliegenden Publikation eine sehr gründliche und differenzierte historische Rekonstruktion von Sozialräumlichkeit aus entsprechendem Textmaterial statt, das sich auf sozialräumliche Reflexivität oder einen sozialräumlichen Handlungsbedarf in der Sozialen Arbeit bezieht. Im Rahmen der Analyse wird weiterhin der aktuelle Diskurs kontextualisiert und es werden Brüche, Kontinuitäten und Ambivalenzen herausgearbeitet. Schlüssig und nachvollziehbar dargelegt wird die Folgerung, dass historische Rekonstruktionen sinnvollerweise zur Aufklärung und Reflexion der eigenen theoretischen Grundlagen genutzt werden können und die Identität Sozialer Arbeit vor diesem Hintergrund ein offenes Projekt bleiben muss. Darüber hinaus liefert die Arbeit wichtige Hinweise, warum Soziale Arbeit ihre eigene Rolle bei der Konstruktion spezifischer Diskurse beständig hinterfragen sollte. Somit stellt die vorliegende Publikation einen bereichernden und notwendigen Beitrag zur kritischen Reflexion der Debatten über Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit dar.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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