Titel
Was machst du für Geschichten?. Didaktik eines narrativen Konstruktivismus


Autor(en)
van Norden, Jörg
Reihe
Reihe Geschichtsdidaktik 13
Erschienen
Freiburg im Breisgau 2011: Centaurus Verlag
Anzahl Seiten
I, 290 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Schmidtmann, Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung Hamm

Eine systematisierende, im objektivierenden Gestus verfasste Rezension wird dem vorliegenden Buch und wohl auch dem Interesse des Autors meines Erachtens nur teilweise gerecht. Bemüht Jörg van Norden sich doch, die Lesererwartungen an eine wissenschaftliche Abhandlung stellenweise zu durchkreuzen. So beginnt er zum Beispiel statt mit einer Einleitung mit dem Erzählen einer Geschichte, strukturiert einzelne Kapitel analog zur biblischen Schöpfungsgeschichte des Buches Genesis, illustriert eigene Aussagen mit Karikaturen und flicht Zitate aus Kirchenliedern und Rocksongs in die Darstellung ein. Als Autor mit spezifischer Prägung ist er so jederzeit erkennbar. Inhaltlich herrscht eine bunte Vielfalt, die für mich im Rahmen einer Rezension kaum zu „bändigen“ ist: zum Beispiel werden Werbeanzeigen analysiert, eigene Unterrichtsvorhaben vorgestellt, eine spezifische Hermeneutik sowie ein darauf basierendes Kompetenzmodell entwickelt, ein Freilichtmuseum beschrieben, Gedanken zur Motivation und zum Fremdverstehen entfaltet und Curricula diskutiert. Kern des Buches ist in meinen Augen jedoch ein engagiertes Plädoyer dafür, die Gestaltung des Geschichtsunterrichts an den Basiskategorien „Narrativität“ und „Konstruktion“ auszurichten. Im Anschluss an Überlegungen Jörn Rüsens profiliert van Norden „Erzählen“ als den Modus des Erinnerns, in dem historische Sinnbildung erfolgt und identifiziert verschiedene Typen historischer Narrativität. Wahre Geschichten und schon gar nicht „die Geschichte“ kann es für ihn allerdings nicht geben, geht er doch im Anschluss an Berger/Luckmann von der „sozialen Konstruktion der Wirklichkeit“ aus. Ohne die Wahrheit finden zu können, lebe der Mensch in seiner eigenen Wirklichkeit, die er mit Anderen konstruiere und die eine Vergangenheit habe, die eine Geschichte werden könne. So die These, die van Norden in vier Unterkapiteln entfaltet, deren Überschriften im Wesentlichen den Satzteilen entsprechen (S. 34–63). Es entstehen Narrationen, die sich eben nicht in ihrem Wahrheitsgehalt, sondern im Grad ihrer Triftigkeit unterscheiden. Hier treffen sich natürlich historische Narrativitätstheorie und konstruktivistischer Ansatz.

Van Norden versucht im Folgenden, die Konsequenzen seiner Vorannahmen zu zeigen und entwickelt zunächst eine Hermeneutik, die zeigt, wie historische Wirklichkeit (traditionell könnte man wohl auch von Erkenntnis sprechen) gewonnen werden kann. Natürlich kann es sich dabei auch nur um eine Konstruktion „durch Individuen, die sozial verfasst und in gesellschaftliche Kontexte eingebunden sind,“, handeln (S. 65). Es geht ihm um die Dekonstruktion (historischer) Erzählungen, wie sie zum Beispiel Quellen darstellen, und um die darauf folgende Konstruktion eigener Narrationen. Dafür stellt er ein Modell der Quellenanalyse vor, die von der traditionellen Quellenkunde und der Frage „wie es eigentlich gewesen war“ abgegrenzt wird. Van Norden betont dagegen die (legitime) Situationsgebundenheit des Interpreten, legt Wert auf die Berücksichtigung des Kontextes der Quelle und plädiert für eine intensive Analyse der Argumentationsstruktur des Textes. Gekrönt wird das Ganze dann durch die Bildung einer eigenen Narration, die vergangene Wirklichkeit und Gegenwart verbindet.

Nach dem vorher Gesagten ist es wenig überraschend, dass van Norden in seinen Überlegungen zur Gestaltung des Geschichtsunterrichts die Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt rückt. Sie sollen nicht instruiert, von einem Lehrer mit feststehendem Ergebnis „belehrt“ werden, sondern im Geschichtsunterricht ihre eigenen Fragen stellen dürfen und historische Narrationen konstruieren können. „Alles, was den Unterricht im Blick auf die Autonomie des Lernens hin öffnet, ist wünschenswert“ (S. 159), so van Norden. Im Hinblick auf Fragen, Materialien, Produkte und Vorgehensweisen fordert er statt enger Führung der Schülerinnen und Schüler im Geschichtsunterricht „room to move“ (S. 150). Dies exemplifiziert er am Beispiel von zwei Unterrichtsreihen, die er selbst geplant und durchgeführt hat.

Die Darstellung widmet sich anschließend der Diskussion verschiedener Kompetenzmodelle, wobei die Nähe des Autors zu Überlegungen Hans-Jürgen Pandels und Peter Gautschis unübersehbar ist. Beide haben, zusammen mit Michele Barricelli, ja überhaupt erst dafür gesorgt, dass die „Narrativität“ mittlerweile zu einer wesentlichen Zentralkategorie geschichtsdidaktischen Nachdenkens avanciert ist. Abschließend legt van Norden ein eigenes Kompetenzmodell vor, das in seiner Zweiteilung in hermeneutische und narrative Kompetenz die andernorts vielfach beschriebenen historischen Kompetenzen der (Re)konstruktion und Dekonstruktion spiegelt.1

Van Nordens Buch hinterlässt bei mir einen zwiespältigen Eindruck. Hier schreibt trotz wissenschaftlichem Anspruch und erheblichem Theorieaufwand kein distanzierter Wissenschaftler, sondern jemand, der Geschichte(n) selbst mit Begeisterung „versteht“ und „erzählt“, eine Botschaft hat sowie erkennbar an der Veränderung der Praxis des Geschichtsunterrichts interessiert ist – in der Hoffnung vielleicht, so möchte ich vor dem Hintergrund meiner eigenen Befindlichkeit vermuten, dass sich dann auch die Schülerinnen und Schüler ähnlich begeistert mit Geschichte(n) auseinandersetzen und sie zu (reflektierten) Elementen ihrer je eigenen Identitätskonstruktionen machen.

Doch Praktiker werden das Buch schnell aus der Hand legen: zu breitflächig und wenig konzise auf den Unterricht hingeleitet ist die theoretische Hinführung; statt Brücken zu bauen, grenzt sich van Norden mit zu großem Furor vom status quo ab, zu wenig konkret sind die Hinweise für die Planung von Unterricht nach narrativen und konstruktiven Gesichtspunkten, zu wenige Unterrichtsreihen werden beschrieben. Viele Leser werden sich wohl auch daran stören, dass die Gestaltung des Textes an einigen Stellen mit den üblichen wissenschaftlichen Schreibroutinen bricht und auf die bewusste Irritation des Rezipienten setzt. Für Fachdidaktiker, die sich bereits intensiver mit Konstruktivismus und Narrativität beschäftigt haben, bietet die Darstellung zudem wenig, was über die Gedanken von Rüsen, Pandel und Gautschi hinausginge. Die an sich wichtige und im fachlichen Diskurs bisher unterbelichtete Verbindung von Narrativität und Konstruktivismus bleibt für mich in der Untersuchung mehr behauptet als wirklich durchdacht. Ich muss gestehen, nicht verstanden zu haben, was van Norden nun genau unter einem „narrativen Konstruktivismus“ versteht, von dem im Titel die Rede ist. Das liegt vielleicht daran, dass es hier allein bei einem graphischen Darstellungsversuch (S. 77) bleibt. Es fehlt ein Kapitel, das die beiden Ansatzpunkte wirklich systematisch aufeinander bezieht und zusammen führt.

Jörg van Norden hat etwas zu sagen: als geschichtsdidaktisch interessierter Ausbilder von künftigen Geschichtslehrerinnen und -lehrern würde ich mir von ihm daher zwei weitere Texte dringend wünschen: Eine kurzgefasste praxisnahe Einführung in Didaktik und Methodik des Geschichtsunterrichts, die konsequent an narrativen und konstruktivistischen Prämissen ausgerichtet ist. Und einen Fachaufsatz, der versucht, den „narrativen Konstruktivismus“ pointiert darzustellen.

Anmerkung:
1 Diese Basisoperationen finden sich z.B. im 2007 erschienenen Kernlehrplan Sekundarstufe I Geschichte (G 8) NRW, S. 16.

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