H. Hamacher: Carl Schmitts Theorie der Diktatur

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Titel
Carl Schmitts Theorie der Diktatur und die intermediären Gewalten.


Autor(en)
Hamacher, Hendrik
Reihe
Reihe Politischen Denkens, 6
Erschienen
Neuried 2001: ars una Verlag
Anzahl Seiten
194 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Nippel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Souveränität, Diktatur und Ausnahmezustand stellen von Anfang an ein zentrales Thema der politischen Theorie von Carl Schmitt [CS im Folgenden] dar, wie schon ein 1916 (im Jahre seiner Habilitation) publizierter Aufsatz zeigt. 1 In seiner Schrift „Die Diktatur“, zuerst 1921 erschienen 2, hat CS seine berühmte Unterscheidung zwischen „kommissarischer“ und „souveräner“ Diktatur entwickelt. Erstere dient dazu, mit einer zeitlich begrenzten (partiellen) Suspension der Verfassung in einem Krisenfall die Rechtsordnung zu sichern, letztere bedeutet die Überwindung des bestehenden Systems und die Begründung einer neuen Verfassungsordnung. In der 2. Auflage von 1928 hat CS seine Stellungnahme von 1924 zur „Diktatur des Reichspräsidenten“ nach Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung [WRV im Folgenden] im Anhang abgedruckt und erklärt, seine Position zu Art. 48 beruhe „ganz auf den geschichtlichen und staatstheoretischen Untersuchungen“ des Diktatur-Buches. 3

Wie so oft bei CS, stehen theoretische und geistesgeschichtliche Überlegungen also in einem Zusammenhang mit aktuellen verfassungspolitischen Stellungnahmen, der sich jedoch angesichts der Ambivalenz vieler Aussagen und wegen der Virtuosität der retrospektiven Selbstauslegungen CSs nicht unbedingt eindeutig klären lässt. Hamacher will mit seiner Münchener Dissertation aus dem Jahre 2000 beiden Aspekten gerecht werden. Das Ergebnis ist nur bedingt überzeugend, und dies nicht nur, weil man sich eine breitere Heranziehung von Schriften CSs und eine stärkere Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur hätte wünschen können4, sondern vor allem, weil nicht recht klar wird, wie man die ideengeschichtlichen Fundierung von CSs Kategorien, ihre theoretische Fruchtbarkeit und innere Konsistenz 5 sowie ihre Funktion in verfassungspolitischer Absicht einzuschätzen hat.

CS unternimmt einen verschlungenen Gang durch die politische Theorie seit Machiavelli, um zu zeigen, dass die Unterscheidung zwischen zwei grundsätzlich unterschiedlichen Typen der Diktatur nicht oder nur unzulänglich gesehen worden sei, weil man sich auf das römische Modell des 5. bis 2. Jahrhunderts v.Chr. konzentriert und dabei den staatsrechtlichen Unterschied zwischen dieser ursprünglichen Form und den späteren Diktaturen Sullas und Caesars nicht erkannt habe. 6

Zum ersten Punkt ist festzustellen, dass der Begriff „Diktatur“ bis zur Französischen Revolution fast ausschließlich auf die ursprüngliche römische Institution bezogen wurde, für die man allenfalls Entsprechungen in anderen Ordnungen (z.B. im „Rat der Zehn“ in Venedig) gefunden hat. Für Formen der Willkürherrschaft standen „Tyrannis“ und „Despotie“ zur Verfügung; erst seit der Französischen Revolution wurden dann alle drei Begriffe promiscue verwendet. 7 Die zweite Behauptung, die frühneuzeitlichen Theoretiker hätten die Formen der römischen Diktatur nicht unterschieden, ist weitgehend unzutreffend (siehe unten). Worum es CS also zu gehen scheint, ist den Begriff der Diktatur aus der späteren Assoziation mit der Willkürherrschaft zu lösen und ihm (auch für das Konstrukt der souveränen Diktatur) seinen Rechtscharakter zurückzugeben.

Der römische Diktator wurde nicht gewählt, sondern von einem Magistraten mit Imperium ernannt, im Regelfall nach Aufforderung durch den Senat. Es ging um eine Vereinheitlichung des militärischen Kommandos bzw. eine Bevollmächtigung zur Bewältigung innerer Krisen für einen Zeitraum von maximal sechs Monaten. 8 Der Diktator unterlag nicht den üblichen Kontrollmechanismen der Verfassung - Kollegialität, tribunizischer Intercession und Provokation (dem Berufungsrecht eines Bürgers an die Volksversammlung gegenüber magistratischen Zwangsmaßnahmen). Die Übertragung eines uneingeschränkten Imperiums wurde mit der Erwartung verbunden, dass der Diktator seine Funktion niederlegte, sobald seine Aufgabe erfüllt war, also gegebenenfalls noch vor Ablauf der sechs Monate. Ein besonderes Problem liegt aber in den Veränderungen, denen diese Institution im Laufe der Zeit unterzogen wurde. Dazu gehört, dass nach der Überlieferung (seit ca. 300 v.Chr.) die Möglichkeit der Provokation gegen die Maßnahmen eines Diktators (nur in der Stadt Rom, nicht im Felde) eingeführt worden ist. CS verweist darauf, dass sich die spätrepublikanischen Diktaturen Sullas und Caesars, die auf unbestimmte Zeit bzw. auf Lebenszeit verliehen wurden und mit einer Art gesetz- oder verfassunggebenden Gewalt verbunden waren („dictator legibus scribundis“; „dictator rei publicae constituendae causa“), eine gänzlich neue Form darstellten.

In Theodor Mommsens „Römischen Staatsrecht“ findet sich im Hinblick auf diesen neuen Typus ein Abschnitt über die „ausserordentlichen constituirenden Gewalten“, zu denen neben den Diktaturen Sullas und Caesars auch die Triumvirn von 43 v.Chr. gezählt werden. Der Clou von Mommsens Interpretation des Triumvirats liegt darin, dass er die Ermächtigung zur Verfassungsgebung als so schrankenlos versteht, dass auch die - durch das Einrichtungsgesetz gegebene - Befristung rein deklaratorischer Natur gewesen sei; die Triumvirn somit berechtigt gewesen seien, sich eigenmächtig ihre Amtszeit zu verlängern, da bei „constituirenden Gewalten die Zeitgrenze ohne rechtsverbindliche Kraft“ sei. 9 In der Sache nimmt dies das Konzept der souveränen Diktatur weitgehend vorweg. CS ist dies anscheinend nicht bewusst gewesen10; dieser Punkt ist im Übrigen auch in der CS-Sekundärliteratur kaum erörtert worden. 11

Hamacher geht auf diverse Texte aus der Theoriegeschichte ein, die CS herangezogen hatte, er beschränkt sich jedoch weitgehend darauf, die einschlägigen Textpassagen in diesen Quellen und bei CS gegenüberzustellen. Das grundsätzliche methodische Problem liegt darin, dass CS sich selektiv auf klassische Texte der politischen Theorie stützt, um sie seinem Kategoriensystem einzuverleiben, diese Texte sich ihrerseits im Interesse bestimmter theoretischer Absichten auf eine Auswahl aus ihren klassischen, d.h. hier oft: antiken Quellen gestützt und sie in zugespitzter Weise ausgelegt hatten.

Niccolò Machiavelli hat die römische Diktatur als ein der Erhaltung und dem Erfolg der Republik förderliches, zeitlich begrenztes Instrument zur „Behebung der Schäden, derentwegen es eingesetzt wurde“, gepriesen. Trotz der mit der Aussetzung der Kollegialität und des Provokationsrechts gegebenen Machtfülle liege keine Gefährdung der Ordnung vor, weil der Diktator nicht in die Rechte von Senat und Volk eingreifen, somit keine Verfassungsänderung vornehmen dürfe. Ohne eine solche Einrichtung hätte man in der Krise vor dem Problem gestanden, entweder hilflos zu sein oder die Verfassung brechen zu müssen. Machiavelli verbindet dies mit der Abgrenzung zu den Regimes von Sulla und Caesar, für die er einen Missbrauch des Diktatorentitels konstatiert. 12 Da CS diese Differenzierung nicht deutlich hervorhebt13, unterbleibt dies auch bei Hamacher (S. 106-109).

CS attestiert Jean Bodin, dieser habe „den Zusammenhang des Problems der Souveränität mit dem der Diktatur erkannt und – freilich nur durch die Beschränkung auf eine kommissarische Diktatur – eine Definition gegeben, die auch heute noch als grundlegend anerkannt werden muß“. 14 Der Souverän könne nach Bodin seine Macht an ordentliche Magistrate oder an Kommissare delegieren, da er aber diesen Auftrag widerrufen bzw. in die Tätigkeit des Beauftragten eingreifen könne, behebe er sich nicht seiner Souveränität; auch die römische Diktatur sei somit nicht souverän. Hamacher verweist darauf, dass die nicht widerspruchsfreien Äußerungen Bodins wohl am besten so zu verstehen sind, dass für diesen das entscheidende Kriterium dafür, dem Diktator die Souveränität abzusprechen, in der zeitlichen Begrenzung seiner Aufgabe, nicht in seiner Abberufbarkeit liege (S. 112, 119). Das Problem ergibt sich auch daraus, dass Bodin jener Veränderung in Rom Rechnung zu tragen sucht, die später auch gegen Diktatoren die Berufung an das Volk erlaubte. 15

Hugo Grotius hat nach CS „keinen wesentlichen Unterschied zwischen Diktatur und Souveränität“ gesehen 16; das Volk könne seine Souveränitätsrechte übertragen; die zeitliche Begrenzung ändere nichts daran, dass die Übertragung nicht revozierbar und inhaltlich unbegrenzt sei. Dies trifft die Aussage bei Grotius (S. 118-120), zu betonen ist aber, dass Grotius ausdrücklich von der frühen römischen Diktatur spricht, die noch keiner Einschränkung durch die Volkstribune bzw. durch das Provokationsrecht unterlag. 17

Für Thomas Hobbes bedeutet die zeitlich begrenzte Übertragung der Herrschaftsrechte durch das Volk dann keinen Souveränitätsverzicht, wenn das Volk auch in dieser Zeit handlungsfähig bleibt und gegebenenfalls den Beauftragten wieder absetzen kann, wie dies bei der römischen Diktatur der Fall gewesen sei. CSs Deutung 18 ist hier im Prinzip zutreffend, wenngleich man Hobbes‘ Lehre von der Herrschaftsübertragung noch differenzierter wiedergeben kann (S. 121-128). Allerdings ist zu erwähnen, dass Hobbes sich für seine Behauptung der Absetzbarkeit eines römischen Diktators auf einen Ausnahmefall bezieht und diesen noch auf höchst fragwürdige Weise interpretiert. 19

Von den konkreten, wenn auch nicht ausschließlichen Bezügen auf das antike Beispiel weg führen die Erörterung des ständischen Widerstandsrechts bei den protestantischen Monarchomachen nach der Bartholomäusnacht 20 und der Rechte der „intermediären Gewalten“ (Montesquieu) gegenüber den Beauftragten des französischen Königs. Hier wäre zunächst zu klären, was diese Ausführungen bei CS eigentlich mit dem Thema Diktatur zu tun haben. CS sagt selbst, dass es sich bei der monarchomachischen Theorie des 16. Jahrhunderts um eine Lehre des Rechts auf Widerstand gegen einen Tyrannen handelt und hier von Diktatur keine Rede sei. Er kommt auf einen der französischen Monarchomachen 21 anscheinend vor allem deshalb zu sprechen, weil er hier zum ersten Mal den Konflikt zwischen „der absolutistischen Bürokratie und den ständischen Beauftragten“ feststellen kann22, der sich dann im 18. Jahrhundert zwischen den königlichen Intendanten (als „Kommissare“) und intermediären Instanzen wie den Parlamenten in verschärfter Form einstellte. 23 Dass die Machtausübung der Intendanten „gelegentlich eine Art Diktatur genannt“ worden sei (aber wohl erst später) 24, beantwortet noch nicht die Frage, ob die Intendanten – erstens nach der Theorie CSs und zweitens nach davon unabhängiger historischer Analyse – einer „kommissarischen Diktatur“ entsprechen, welche „die Verfassung in concreto auf[hebt], um dieselbe Verfassung in ihrem konkreten Bestand zu schützen [...] gegen einen Angriff, der diese Verfassung aufzuheben droht“. 25 Hamacher wird dem Problem schwerlich gerecht, wenn er „zentralistische“ mit „diktatorischer“ Regierung gleichsetzt und die Intendanten als „kommissarische Diktatoren“ bezeichnet (S. 132, 160, vgl. S. 182).

Kritischer, als Hamacher dies tut (S. 132-142), wäre auch CSs Deutung zu überprüfen, in Rousseaus „Contrat social“ liege eine Annäherung an die Konzeption der „souveränen Diktatur“ vor. CS weiß natürlich, dass Rousseaus Abschnitt zur Diktatur eine traditionelle Sicht der römischen Einrichtung wiedergibt26, muss deshalb die souveräne Diktatur aus Rousseaus Bild des Gesetzgebers herauslesen. 27 Der Rousseausche Gesetzgeber ist eine mit außergewöhnlicher, beinahe übermenschlicher Einsicht ausgestattete Person, die aber nur Vorschläge für eine Verfassung macht, die dann dem Volk vorzulegen sind. 28 Das von Rousseau nicht gelöste Problem, dass das Volk den Vorschlag ablehnen könnte, ist nach CS nur zu bewältigen, wenn die Rollen des Diktators und Legislators verbunden werden, wie dies dann in der Französischen Revolution der Fall sein sollte. 29

Auf diese Herleitung der souveränen Diktatur geht Hamacher nicht ein. CSs Lesart von Theorie (Sieyès) und Praxis der Französischen Revolution (Nationalkonvent von 1792) läuft darauf hinaus, eine verfassunggebende Versammlung als eine souveräne Diktatur zu verstehen, die ein Organ des „pouvoir constituant“ sei, wodurch aber die Möglichkeit der Nation, immer wieder und ohne rechtliche Beschränkung die Entscheidung über die Verfassung an sich zu ziehen, nicht aufgehoben sei. 30 Mit dem Bezug auf den Volkswillen lässt sich dann eine revolutionäre Regierung rechtfertigen, wie im Falle des Konvents, der im Oktober 1793 die von ihm verabschiedete und in einer Volksabstimmung angenommene Verfassung wieder suspendierte: „Der Konvent handelte [...] unter unmittelbarer Berufung auf den pouvoir constituant des Volkes, von dem er gleichzeitig behauptete, daß er in seiner Ausübung durch den Krieg und die Gegenrevolution behindert war“. 31 Eine Lehre von der souveränen Diktatur als Ergänzung zu derjenigen von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes wird anscheinend benötigt, um die Legitimität einer Selbstermächtigung durch Berufung auf den Volkswillen zu begründen. Demokratie und Diktatur sind vereinbar, wenn ein System von einer, an keine bestimmte Form gebundene Akklamation durch das Volk getragen wird, heißt es bei CS 1923. 32

CS beendet seine Schrift mit Bemerkungen dazu, dass der bürgerliche Rechtsstaat nur die kommissarische Diktatur kenne, da er von der Homogenität des Staatsvolks ausgehe, so dass auch Aufruhr keine grundsätzliche Gefährdung der Ordnung darstelle und mit rechtlich eingegrenzten Machtmitteln niederzuschlagen sei; diese Bedingung könnte aber angesichts des Aufkommens der kommunistischen Bewegung mit ihrer Forderung nach einer „Diktatur des Proletariats“ nicht mehr vorliegen. 33

Was daraus zu schließen ist, wird (absichtlich?) offen gelassen, man kann hierin aber ein Plädoyer sehen, auf die Herausforderung durch den Kommunismus mit einer souveränen Diktatur zu antworten. 34 In der Schrift „Politische Theologie“ (1922), die mit dem berühmten Satz beginnt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, hat CS sich gegen die nach seiner Meinung illusionäre Vorstellung gewandt35, in einem rechtsstaatlichen System könne die Rolle des Souveräns eliminiert werden, der ganz allein die Entscheidung nicht nur darüber zu treffen habe, ob ein extremer Notfall vorliege, sondern auch darüber, welche Maßnahmen - einschließlich der Suspension der Verfassung in toto – zu treffen seien. 36

Die Theorie der souveränen Diktatur lässt in der Schwebe, wer denn eigentlich der Träger der Souveränität ist, der Auftraggeber oder der Mandatar. 37 Auch deshalb ist das Verhältnis zwischen CSs grundsätzlichen Kategorien und ihrer konkreten Anwendung auf die WRV schwerlich auf einen einfachen Nenner zu bringen. Art. 48 wurde von Staatsrechtslehrern aller Couleur als „Diktaturgewalt“, und zwar in einem wertneutralen bzw. positiven Sinne, verstanden. 38 In den Debatten um die Anwendung des Art. 48 durch den Reichspräsidenten Ebert hat CS 1924 im Vergleich zu anderen Juristen (die sich jedenfalls von seiner Kritik an der herrschenden Lehre beeindruckt zeigten) 39 eine engere Auslegung vertreten. Deutlich lehnte er ein gesetzesvertretendes Notverordnungsrecht ab und hielt die Verabschiedung des nach Art. 48, Abs. 5 vorgesehenen Ausführungsgesetzes für angemessen – dazu ist es bekanntlich nicht gekommen. Aber er ging auch weiter, indem er ein überpositives, nicht notwendig an den Reichspräsidenten gebundenes „Staatsnotrecht“ mit der Verfassungsregelung für nicht aufgehoben hielt und die Frage aufwarf, wenn auch nicht weiter verfolgte, „ob es möglich werden könnte, unter Berufung auf das Staatsnotrecht die Verfassung selbst zu beseitigen und eine andere Verfassung einzuführen“. 40 Er sagte, die Diktatur des Reichspräsidenten könne innerhalb einer konstituierten Ordnung nur kommissarisch sein, zugleich wirke sie aber, „da sie absichtlich weit gelassen [ist], in der Sache, nicht in ihrer rechtlichen Begründung [...] wie das Residuum einer souveränen Diktatur der Nationalversammlung“. 41 Schon in der Abhandlung „Die Diktatur“ hatte er festgestellt, in der WRV liege die „Kombinierung einer souveränen mit einer kommissarischen Diktatur“ vor. 42

Hamacher polemisiert gegen Annahmen, CS habe 1932 für eine souveräne Diktatur plädiert. Die Stellungnahme von 1924 schließe dies aus, da nach CS eine souveräne Diktaturgewalt selbstverständlich nur einer verfassunggebenden Nationalversammlung, nicht jedoch dem Reichspräsidenten zukommen könne (S. 55). Dies ist, wie gezeigt, eine Verkürzung der damaligen Äußerungen von CS. Zudem könnten auch dessen Ausführungen in „Legalität und Legitimität“ vom Sommer 1932 in eine andere Richtung deuten. CS konnte sich hier auf die inzwischen mit den Notverordnungen Hindenburgs praktizierte, von der Staatslehre und der Rechtsprechung approbierte, extensive Auslegung von Art. 48, Abs. 2 WRV beziehen. 43 CS hatte sich dieser Interpretation inzwischen angeschlossen44, mokierte sich aber (durchaus nachvollziehbar) über die Feststellung des Staatsgerichtshofs vom Dezember 1931, die Notverordnungen seien „nicht endgültig für alle Dauer“, wohl aber „für eine unbestimmte Zeit von voraussichtlich längerer Dauer“ zulässig. 45 (Diese Kritik entspricht auch seiner Position, dem Staatsgerichtshof und anderen Gerichten die Funktion als „Hüter der Verfassung“ abzusprechen, diese vielmehr dem Reichspräsidenten zuzuschreiben). 46 Hier liege eine „Vernebelung“ der Tatsache vor, dass mit dieser rechtlichen Anerkennung der „gesetzgeberischen Maßnahmen“ des Reichspräsidenten „das Legalitätssystem des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates“ zerstört sei. 47

Die Frage bleibt, was die politische Botschaft dieser Schrift ist, in der der Wegfall der Legitimation der WRV wegen nicht mehr gegebener politischer Homogenität (und damit verbundener Funktionsunfähigkeit des Parlaments) 48 und das Auseinanderfallen in zwei verschiedene Verfassungen konstatiert wird. Sie kann auch so gelesen werden, dass eine souveräne Diktatur des plebiszitär legitimierten Reichspräsidenten zur Überwindung der Krise gefordert wird. Schließlich geht das Plädoyer für eine „ernsthafte Neugestaltung des deutschen Verfassungswesens“, die „den Kern des zweiten Hauptteils“ der WRV retten soll49, weit über die Forderung nach einer Verfassungsdurchbrechung hinaus.

Dies mag man – wie es auch Hamacher, allerdings auf unzureichender Quellenbasis, tut (S. 50-64) 50 – als letzten Rettungsversuch angesichts der Alternative einer Machtübernahme der NSDAP deuten, aber festzustellen bleibt, dass mit dieser Analyse des Zustands der Weimarer Republik der Differenzierung zwischen den beiden Diktaturtypen der Boden entzogen war. 51 In der NS-Zeit hat sich CS zum Thema Diktatur nicht geäußert; dies hätte Fragen aufgeworfen, die zu stellen und zu beantworten nicht opportun war. 52

Anmerkungen:
1 Schmitt, Carl, Diktatur und Belagerungszustand (1916), in: Ders., Staat, Großraum, Nomos, hg. v. G. Maschke, Berlin 1995, S. 3-20. Dieser Aufsatz sowie weitere in dieser Sammlung vorliegende, zum Thema seiner Arbeit einschlägige Texte werden bei Hamacher nicht erwähnt. – Unerfindlich ist, warum der CS der 1920er-Jahre als „Plettenberger Staatsrechtslehrer“ (8. 162) bezeichnet wird.
2 Schmitt, Carl, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, 6. Aufl., Berlin 1994; diese Ausgabe, nach der im Folgenden zitiert wird, enthält auch die Vorworte zu den früheren Auflagen. Hamacher (S. 13, Anm. 5) sieht das Problem, dass CS seinen Text im Zuge der verschiedenen Auflagen verändert haben könnte, ist der Frage aber nicht nachgegangen.
3 Vorwort von 1928; CS, Diktatur X.
4 Darin mag angesichts einer überbordenden Zahl von Schmittiana eine Art Selbstschutz liegen, aber angesichts der Vielzahl von Problemen, die mit der Deutung von CSs Thesen verbunden sind, empfiehlt es sich kaum, der Sekundärliteratur so weitgehend aus dem Wege zu gehen, wie es Hamacher tut.
5 Wie sich die Diktatur-Theorie von Donoso Cortés (1849/50), von der sich CS, beginnend mit „Politische Theologie“ (1922) fasziniert zeigt, zu den Distinktionen in „Die Diktatur“ verhält, ist mir aus Hamachers Ausführungen (S. 29f., 146-153, 181) nicht deutlich geworden.
6 CS, Diktatur, S. 2f., 7.
7 Vgl. Nolte, E., „Diktatur“, in Geschichtliche Grundbegriffe 1 (1972), S. 900-924.
8 Die Diktaturen zur Durchführung von Wahlen und für andere begrenzte Aufgaben können hier außer Betracht bleiben.
9 Mommsen, Th., Römisches Staatsrecht, 3. Aufl. 1887/88, ND Graz 1969, Bd. II/1, S. 718; vgl. Bringmann, K., Das zweite Triumvirat. Bemerkungen zu Mommsens Lehre von der außerordentlichen konstituierenden Gewalt, in: Alte Geschichte und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift Karl Christ, Darmstadt 1988, S. 22-38. Woher Mommsen diese, aus dem Quellenbefund schwerlich abzuleitende Theorie bezogen hat, ist eine bisher ungeklärte Frage.
10 CS, Diktatur, S. 2f., Anm. 2, bezieht sich auf dieses Kapitel bei Mommsen nur hinsichtlich der Unterscheidung von „republikanischer und caesarischer Diktatur“; ebenso in dem kurzen Artikel „Diktatur“ im „Staatslexikon“ von 1926 (in: Staat, Großraum, Nomos, S. 33-37). – Unklar ist, warum CS, Diktatur, ebd., das „senatus consultum ultimum“ nur en passant erwähnt, obwohl ihn doch eigentlich die von Mommsen, Staatsrecht, Bd. I, S. 687-697, entwickelte Theorie eines Notwehrrechts zum Schutz der staatlichen Ordnung, das im Extremfall von Bürgern in Selbsthilfe wahrzunehmen ist, hätte faszinieren sollen.
11 Quaritsch, H., Souveränität im Ausnahmezustand, in: Der Staat 35 (1996), S. 1-30, hier S. 6f., nennt diese Parallele zwar, spielt sie aber herunter. – Zur Bedeutung des römischen Modells vgl. schon Nolte, „Diktatur“, S. 920: CS formuliere nur „mit juristischer Strenge“ die „älteste Differenz“ des Begriffs, nämlich zwischen der altrömischen Diktatur und derjenigen Sullas als einer dictatura rei publicae constituendae causa; ähnlich Boldt, H., „Ausnahmezustand“, Geschichtliche Grundbegriffe 1 (1972), S. 343-376, hier S. 374.
12 Machiavelli, Discorsi (1531), Buch 1, Kap. 33-34. Machiavelli weist zu Beginn von Kapitel 34 die Deutung eines ungenannten Autors (gemeint ist wohl Dionysios von Halikarnaß, Antiquitates Romanae 5, 77, 4-6) zurück, wonach die Einrichtung der Diktatur, wie später bei Sulla zu erkennen, die Errichtung einer Tyrannis begünstigt habe, und geht dann auf Caesar ein, dessen Herrschaft in der Sache nicht mit der altrömischen Institution gleichzusetzen sei.
13 CS, Diktatur, S. 6f.
14 CS, Diktatur, S. 25.
15 Bodin, Les six livres de la république (1576), Buch I, Kap. 8. Bodin betont einerseits generell die Möglichkeit der Revozierbarkeit des Auftrags und scheint dies auch – was in der Sache falsch wäre – auf die römische Institution zu beziehen; er stellt ferner fest, dass nach dem Ende der ursprünglichen Diktatur „optima lege“ (der Bezug geht auf die Definition bei Festus, De significatu verborum) auch gegen Maßnahmen der Diktatoren an die Volkstribune bzw. an die Volksversammlung appelliert werden konnte; andererseits hebt er die zeitliche Begrenzung des Auftrags hervor.
16 CS, Diktatur, S. 28.
17 Grotius, De iure belli ac pacis libri tres (1625), Buch 1, Kap. 3, § 8 und 11.
18 CS, Diktatur, S. 29-31.
19 Hobbes, De cive (1642), Kap. 7, § 16. – Hobbes bezieht sich auf den ungewöhnlichen Volksbeschluss von 217 v.Chr., mit dem ein Diktator und sein magister equitum mit einem gleichberechtigten Kommando ausgestattet wurden.
20 In der Begrenzung des Widerstandsrechts auf niedere Magistrate, deren Rolle mit derjenigen der spartanischen Ephoren und römischen Volkstribunen gleichgesetzt wird, liegt allerdings auch ein Element der Antikerezeption; vgl. Nippel, W., Mischverfassung, Ephoren und Tribune, in: Münkler, H. (Hg.), Bürgerreligion und Bürgertugend, Baden-Baden 1996, S. 250-264.
21 CS bezieht sich ausschließlich auf die Schrift „Vindiciae contra tyrannos“ eines unbekannten Verfassers aus dem Jahre 1579. – Auch für die Staatsraison-Literatur hat er sich im Wesentlichen auf einen Text, von Arnold Clapmarius (1605), beschränkt; ob dieser, der sich zum Thema Diktatur auf das römische Modell bezieht, die Behauptung belegt, in der Arcana-Lehre gehe es allein um den Erfolg der Krisenbewältigung ohne Rücksicht auf rechtliche Schranken (CS, Diktatur, S. 11, 14-18; Hamacher, S. 162f.), wäre zu überprüfen.
22 CS, Diktatur, S. 20.
23 CS, Diktatur, S. 95ff.
24 CS, Diktatur, S. 97 – der angeführte Beleg (Bonald) stammt bezeichnenderweise aus dem Jahre 1794.
25 CS, Diktatur, S. 133.
26 Rousseau, Du contrat social (1762), Buch 4, Kap. 6.
27 CS, Diktatur, S. 114-126.
28 Rousseau, Contrat social, Buch 2, Kap. 7.
29 CS, Diktatur, S. 126.
30 CS, Diktatur, S. 139-143.
31 CS, Diktatur, S. 145.
32 Schmitt,Carl, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 5. Aufl., Berlin 1979, S. 22f.; vgl. Ders., Politische Theologie (1922), 6. Aufl., Berlin 1993, S. 67: „Diktatur ist der Gegensatz nicht zu Demokratie, sondern zu Diskussion“; Ders., Verfassungslehre (1928), 5. Aufl., Berlin 1970, S. 237.
33 CS, Diktatur, S. 200-202. Die Ausführungen zur Diktatur des Proletariats am Ende des Textes umfassen nur eine halbe Druckseite; dem stehen deutlich längere Bemerkungen im Vorwort sowie die Aufnahme des Schlagworts in den Untertitel der Schrift gegenüber.
34 Nolte, Diktatur, S. 921; J. P. McCormick, Carl Schmitt’s Critique of Liberalism, Cambridge 1997, S. 138f.
35 Die entsprechende Kritik CSs an der Staatslehre des 19. und 20. Jahrhunderts (R. v. Mohl, G. Jellinek, H. Kelsen, H. Krabbe u.a.), der er die Ausblendung der sozialen Realität vorwirft, behandelt Hamacher, S. 65-105. Dass CS hier zur willkürlichen Interpretation anderer Positionen neigt, zeigt sich z.B. in seinem Umgang mit Mohl (S. 67-70).
36 CS, Politische Theologie, S. 14.
37 Vgl. Ottmann, H., Carl Schmitt, in: Ballestrem, K.; Ottmann, H. (Hgg.), Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München 1990, S. 61-87, hier S. 64.
38 Vgl. nur Preuß, H., Reichsverfassungsmäßige Diktatur, in: Zeitschrift für Politik 13 (1923), S. 97-113.
39 Vgl. Thoma, R., Die Regelung der Diktaturgewalt, in: Deutsche Juristen-Zeitung 29 (1924), S. 654-660.
40 CS, Diktatur, S. 233.
41 CS, Diktatur, S. 239.
42 CS, Diktatur, S. 200.
43 Vgl. Kurz, A., Zur Interpretation des Artikels 48 Abs. 2 der WRV 1930-33, in: Grawert,R. u.a. (Hgg.), Offene Staatlichkeit. Festschrift für Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geburtstag, Berlin 1995, S. 395-413.
44 Schmitt, Carl, Die staatsrechtliche Bedeutung der Notverordnung, insbesondere ihre Rechtsgültigkeit (1931), in: Ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958, S. 235-260.
45 Schmitt, Carl, Legalität und Legitimität, in: Verfassungsrechtliche Ausätze, S. 263-345, hier S. 334.
46 Schmitt, Carl, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929), in: Ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 63-100; Ders., Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931.
47 Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 321.
48 Vgl. schon Schmitt, Carl, Der bürgerliche Rechtsstaat (1928), in: Ders., Staat, Großraum, Nomos, S. 44-50.
49 Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 344f.
50 Hamacher stützt sich hier im Wesentlichen auf die retrospektive Einschätzung von Huber, E. R., Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit, in: Quaritsch, H. (Hg.), Complexio Oppositorum, Berlin 1988, S. 33-50. Die These vom Rettungsversuch ist in verschiedenen Arbeiten von W. Pyta und G. Seiberth auf die Auswertung der Tagebücher CSs gestützt worden; vgl. zuletzt Seiberth, G., Anwalt des Reiches, Berlin 2001. Ob sie damit eindeutig belegt werden kann, ist jedoch eine offene Frage, vgl. Wilfried Nippel: Rezension zu: Seiberth, Gabriel: Anwalt des Reiches. Carl Schmitt und der Prozess „Preußen contra Reich“ vor dem Staatsgerichtshof. Berlin 2001. In: H-Soz-u-Kult, 15.04.2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/NG-2002-044>.
51 Vgl. Hofmann, H., Legitimität gegen Legalität, 3. Aufl., Berlin 1995, S. 69-72, 158f.
52 Vgl. Ottmann, S. 73.

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