I. Holzschuh: Wiener Stadtplanung im Nationalsozialismus

Cover
Titel
Wiener Stadtplanung im Nationalsozialismus von 1938 bis 1942. Das Neugestaltungsprojekt von Architekt Hanns Dustmann


Autor(en)
Holzschuh, Ingrid
Erschienen
Anzahl Seiten
122 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Richard Kurdiovsky, Kommission für Kunstgeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften / Institut für Kunstgeschichte, Universität Wien

Seitdem Jan Tabor 1994 unter dem Titel „Kunst und Diktatur“1 die erste thematisch breit gefächerte Publikation zur Kunstproduktion europäischer Diktaturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit einem Fokus auf der Situation in Österreich herausgab, ist das Interesse an diesem Thema ungebrochen. Basierend auf den Forschungen von Klaus Steiner haben gerade in den letzten Jahren Fragen zur Architektur der NS-Zeit auf dem Boden Österreichs verstärkte Aufmerksamkeit erhalten.2 Die von Jan Tabor in der Ausstellung „Das ungebaute Wien“ erstmals vorgestellten urbanistischen Großprojekte des NS-Regimes für Wien3 thematisiert nun eine Arbeit von Ingrid Holzschuh.

Die Lektüre dieses Buches ist aus vielen Gründen sehr anregend und gewinnbringend. Die bisher nur summarisch bekannten Projekte werden in extenso (in Wort wie in Bild) präsentiert und zur Vergrößerung der Anschaulichkeit in umgezeichneten Situationsplänen illustriert (Abb. 48). Erstmals präsentiert die Autorin die historische Situation unter Berücksichtigung einer Vielzahl von schriftlichen Quellen (neben einzelnen Beständen des Österreichischen Staatsarchivs vor allem die Aktenbestände „Stadtbaudirektion“ und „Planungsamt“ im Wiener Stadt- und Landesarchiv). Es werden nicht nur klassische Fragen der Kunstgeschichte nach Zuschreibung und Datierung beantwortet (beispielsweise kann die Autorin unterschiedliche Zuschreibungen einzelner Projektbestandteile an Hanns Dustmann bzw. an das Stadtbauamt vornehmen), sondern es werden parallel dazu auch die politisch-sozialen Umstände, die hinter diesen Planungen standen, berücksichtigt. Der schon im Titel angekündigte explizite Schwerpunkt liegt zwar auf den Dustmann-Planungen, allerdings präsentiert die Autorin auch deren Vorgeschichte und planerische Vorläufer und die damit befassten Behördeninstanzen. So spricht sie die von der Forschung bereits thematisierte4, durchaus schwierige und, was die Entscheidungshierarchien anbelangte, komplexe Beziehung der neuen Machthaber und ihrer Gremien zu den eingesessenen Verwaltungsstrukturen an. Um einen reibungslosen Planungsablauf zwischen kommunaler Ebene und den entscheidenden Instanzen auf Reichsebene zu gewährleisten, mussten die örtlichen Stadtplaner eingebunden werden. Das wiederum war, wie die Autorin vermutet (S. 74–75), die Ursache für die Berücksichtigung lokal entwickelter Planungsideen. Dieses konfliktträchtige Verhältnis war keineswegs auf Wien beschränkt – wie die vergleichende Darstellung der Situation in Dresden (S. 105–112) überzeugend veranschaulicht.

Die Lektüre des vorliegenden Buches lässt erkennen, wie die ersten urbanistischen Projekte, die in einer Planungseuphorie unmittelbar nach dem „Anschluss“ im Wiener Stadtbauamt entstanden, den traditionell jüdisch dominierten 2. Stadtbezirk (Leopoldstadt) viel rigoroser assanieren und seine Bausubstanz zugunsten von großräumigen Neubauten vernichten wollten als die von „Reichsdeutschen“ unterbreiteten Vorschläge. Scheinbar respektvoller, aber letztlich wohl aus pragmatischen Gründen konzentrierten sich die Planer aus dem „Altreich“ auf großflächig unverbautes Parkgebiet wie den Augarten – wohl aus wirtschaftlichen Notwendigkeiten und wegen des erzielbaren Bautempos. Denn durch die Enteignung und Deportation der jüdischen Bewohner dieses Stadtbezirks konnte man die erforderliche Zahl an neuen Wohnungen für die „arische“ Bevölkerung wesentlich schneller, kostengünstiger und müheloser erzielen als durch kosten-, arbeits- und zeitintensive Neubauten.

Daneben wird die Tendenz der Wiener Planer vorgestellt, eine Anbindung der Neustadtplanungen an die historische Innere Stadt zu schaffen bzw. die Idee der gründerzeitlichen Ringstraße weiterzuführen und fortzusetzen (S. 40–42). Im Unterschied dazu orientierten sich Architekten aus dem „Altreich“ weniger an den lokalen städtebaulichen Gepflogenheiten mit ihrer historischen Bedeutung, als sie den Vorgaben nationalsozialistischer Stadtplanungsmuster mit ihrem formalen Repertoire folgten. Dazu gehörten parallel geführte Radialstraßen und eben keine Straßenzüge, die wie die Wiener Ringstraße tangential orientiert waren. Dieses bewusste Distanzhalten von Lokalem manifestierte sich nicht zuletzt darin, dass Dustmann ganz absichtlich keine formale Anbindung seiner neuen Stadtteile an die historischen Straßensysteme vorsah, sondern vielmehr zwischen dem Endpunkt der Ringstraße am Donaukanal und dem Auftakt seiner Aufmarschstraße durch den 2. Bezirk bewusst eine auch optisch stark wirksame räumliche Zäsur in Form eines aus der Achse verschobenen Platzes einschaltete. Der neue Stadtteil sollte, wie die Autorin feststellt (S. 79), vom historischen Stadtraum abgeschlossen sein. (Dass dagegen der Praterstern in allen Projekten einen gewichtigen Platz zugestanden bekam, dürfte von seiner Eigenschaft als Sternplatz und damit als allgemeines Standardrepertoire monumentaler Stadtplanungen abhängen.)

Auffallend ist auch die (historisch gewachsene) „Scheu“ der Wiener Planer, die Donau zentral in den Stadtkörper einzubinden. Sowohl in Bezug auf den Inhalt der Planung als auch hinsichtlich der graphischen Darstellung fungiert die Donau nur als Abschluss der Architekturzeichnung gegen den oberen Bildrand oder die obere Bildecke (Abb. 18–22). Im Gegensatz dazu kann man abermals ein viel pragmatischeres, historisch unbelastetes und folglich neutraleres Vorgehen der Planer aus dem „Altreich“ erkennen, in deren Projekten die Fortsetzung der Stadtplanung über das linke Donauufer hinaus stets mitberücksichtigt wurde.

Streicht man alle diese Unterschiede in der Herangehensweise zwischen den Planern aus Wien und denen aus dem „Altreich“ heraus, verliert eine Feststellung der Autorin an Gewicht: dass Dustmann in seinem Projekt eines neuen Stadtviertels im 2. Bezirk formal Anschlüsse an Lokaltypisches gesucht und sich dem Wiener genius loci angenähert habe (S. 94–95). Der Verweis der Autorin auf Entwürfe der Otto Wagner-Schule (S. 95–98) ist wegen der großen Dimensionen dieser Projekte sicherlich von entsprechender Bedeutung für großformatige Bauprojekte der NS-Zeit, aber deren Rezeption vielleicht weniger intendiert als die Übereinstimmung mit Projekten wie dem Kaiserforum, das zumindest teilweise realisiert und somit jedem noch so flüchtigen Besucher Wiens bekannt war. Hanns Dustmann arbeitete nur relativ kurz als Generalarchitekt des Gauleiters Baldur von Schirach in Wien (von September 1940 bis mindestens Frühling 1942, also möglicherweise nicht einmal zwei ganze Jahre). So scheint ein Nicht-Bezug auf lokale Gegebenheiten und architektonische Formtraditionen in seinen Entwürfen zur Neugestaltung Wiens doch überlegenswert. Vielleicht ließe sich der Blick gewinnbringender direkt ins Zentrum des NS-Staates auf Bauwerke richten, die formale Analogien aufweisen. Was Form und Anordnung der Baukörper, Proportion und Detailformen (Thermenfenstervariationen, turmartige Verstärkungen und Überhöhungen der Gebäudekanten etc.) anbelangt, besteht ein auffälliger Bezug zwischen Dustmanns Gauhalle und Bauten wie der Potsdamer Nikolaikirche von Friedrich Schinkel – und gerade mit Schinkel und dem preußischen Klassizismus verfügte der nationalsozialistische Propagandaapparat über eine hochgradig instrumentalisierbare Assoziationsfigur.5 Zusammenhänge dieser Art sprach schon Jan Tabor an6, als er auf Hanns Dustmanns Vollendungsvorschlag für das Kaiserforum hinwies, bei dem der Theseustempel wie bei Friedrich Gillys Friedrichsdenkmal auf einen gigantischen Unterbau gesetzt werden sollte.

Über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinausgehend wäre eine Kontextualisierung mit anderen groß angelegten städtebaulichen Projekten, wie sie für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts von Wolfgang Sonne für Hauptstadtplanungen weltweit angestellt wurden7, sicherlich ebenso gewinnbringend wie der Vergleich mit ähnlich dimensionierten Projekten für Wien (etwa Rudolf Percos gigantomanischem Projekt „Die Zelte Davids“). Der Blick könnte auch auf andere mögliche Vorbilder aus dem Wiener Architektenumkreis gelenkt werden – so ließe sich zum Beispiel nach den Beziehungen von Leopold Bauers Kaisermühlener Hochhausprojekten von 1918 zu den Wiener Großplanungen der NS-Zeit fragen.

Der Inhalt des Buches ist sehr übersichtlich gegliedert und betitelt, was die schnelle Orientierung im Text erleichtert. Mit rund 100 Seiten Text handelt es sich um ein im besten Sinn des Wortes schlankes Buch, das in klaren Grenzen abgesteckt einen abgerundeten Einblick in das spezifische Thema bietet. Wie generell bei Publikationen zu städtebaulichen Themen leidet der Informationswert der Bebilderung allerdings sehr unter dem – wohl aus Kostengründen gewählten – kleinen Format. Nichts desto trotz stellt das Buch eine profunde Präsentation zur Wiener Architektur der NS-Zeit dar, und es bleibt zu hoffen, daß sich thematisch verwandte Publikation anschließen werden.

Anmerkungen:
1 Jan Tabor (Hrsg.), Kunst und Diktatur. Architektur, Bildhauerei und Malerei in Österreich, Deutschland, Italien und der Sowjetunion 1922–1956, 2 Bände, Baden 1994.
2 Z.B.: Helmut Weihsmann, Bauen unterm Hakenkreuz. Architektur des Untergangs, Wien 1998; Themenheft Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 61 (2007), Heft 1: Erbe verweigert. Österreich und NS-Architektur, Tagungsband des gleichnamigen Symposions im Architekturzentrum Wien in Kooperation mit dem Bundesdenkmalamt vom 15.–16. September 2006.
3 Beiträge von Jan Tabor in: Das ungebaute Wien. Projekte für die Metropole 1800 bis 2000, Ausstellungskatalog Historisches Museum der Stadt Wien 1999/2000, Wien 2000, S. 338–367, besonders S. 338–343 und 360–361.
4 Werner Durth, Architekten im „Dritten Reich“, in: ÖZKD 61 (2007), Heft 1, S. 82–87, besonders S. 86–87; Jan Tabor wie (3), besonders S. 338–339.
5 Kurt Winkler, Schinkel-Mythen. Die Rezeption des preußischen Klassizismus in der Kunstpublizistik des Nationalsozialismus, in: Inszenierung der Macht. Ästhetische Faszination im Faschismus (hrsg. von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst NGBK), Berlin 1987, S. 225–242.
6 Jan Tabor wie Anmerkung 3, S. 362.
7 Wolfgang Sonne, Representing the State. Capital City Planning in the Early Twentieth Century, München 2003.

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