L. Raphael (Hrsg.): Theorien und Experimente der Moderne

Cover
Titel
Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Raphael, Lutz
Reihe
Industrielle Welt 82
Erschienen
Köln 2012: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
311 S.
Preis
€ 38,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Geulen, Institut für Geschichte, Universität Koblenz-Landau

Den „guten Europäer“ beschrieb Friedrich Nietzsche einmal als den wahrhaft „Heimatlosen“, der es vorziehe auf Bergen zu wohnen, gleich weit entfernt von den Nationen und der Menschheit. Auf die heutige Situation scheint dieses Bild kaum zu passen. Das vereinte Europa versteht sich als Vorzeigemodell der Menschheitsverbrüderung und als Erfolgsgeschichte einer friedlichen Vergemeinschaftung vormals verfeindeter Nationalstaaten. Spätestens aber seit dieser Vereinigungsprozess in den 1990er-Jahren von staatlicher Kooperation auf transstaatliche Integration umschaltete, wird drängender nach dem immer schon Gemeinsamen, nach einer übergreifenden Identität, nach dem ‚Europäischen‘ als politischer und kultureller Heimat gesucht, zumal die Europäer vor einer europäischen Verfassung nach wie vor zurückschrecken. Beides, die mit viel Geld geförderte Suche nach einer europäischen Kulturtradition und der Zwang, die europäische Integration vorerst weiterhin eher wirtschafts- als verfassungspolitisch voranzutreiben, lässt den Verdacht aufkommen, dass sich auf eine gewachsene europäische Identität nicht einfach zurückgreifen lässt.

Dieser Verdacht bestätigt sich beim Blick auf solche historischen Studien, die einen nüchternen Blick zurück auf das 20. Jahrhundert werfen und nach der europäischen Dimension in dieser ereignisreichen Epoche fragen. Der Arbeitskreis für Moderne Sozialgeschichte hat sich in einer vierbändigen Buchreihe diesem Problem gewidmet, deren letzter Band, herausgegeben von Lutz Raphael, kürzlich erschienen ist. Er beschäftigt sich mit den Ordnungsentwürfen und Selbstbeschreibungen europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert. Sein Titel „Theorien und Experimente der Moderne“ markiert bereits den höchst prekären Status, den das Europäische in diesem Band annimmt. So überträgt Lutz Raphael in seiner Einleitung den Ausdruck „Laboratorien der Moderne“ von außereuropäischen Kolonien Europas zurück auf die europäischen Gesellschaften selber, um damit zwei Aspekte zu betonen: erstens den überwiegend experimentellen Charakter gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen und gesellschaftspolitischer Ordnungsentwürfe im 20. Jahrhundert sowie damit deren Unsicherheit in der Frage, wie Gesellschaft funktioniere oder was Europa sei; zweitens die fast völlige Abwesenheit eines übergreifenden Konsenses in diesen Diskursen und damit die lange Kontinuität des innereuropäischen Pluralismus der Selbstdeutungen. Das verwundert zunächst. Wenn schon nicht in messbaren sozialen Verflechtungen, so könnte man meinen, dann müsste doch zumindest auf der Ebene der Ordnungsentwürfe und Selbstbeschreibungen Europa als Idee, als Konzept und Entwurf existent sein und eine längere Geschichte haben, so wie es die vielen europapolitischen Reden auch immer wieder behaupten. Die ernüchternde und zugleich aufklärende Antwort des Bandes lautet: Nein, Europa gibt es, auch als Idee, nur in der Vielfalt seiner Entwürfe.

In einer Reihe beeindruckender Einzelstudien wird dieser Gesamtbefund entfaltet. Den Anfang macht Hartmut Kaelble mit einer Bilanz der jüngeren Forschung zur europäischen Sozialgeschichte seit 1945. Wir sind gewohnt, die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als diejenige Epoche zu sehen, in der Europa nach extrem gewalttätigen Konflikten endlich zusammenfand. Das bestreitet Kaelble nicht, aber er macht überzeugend deutlich, dass der politische Integrationsprozess und die gesellschaftliche Verflechtung der europäischen Länder zwei weitgehend unabhängig voneinander ablaufende Entwicklungen waren und sind. Eine Sozialgeschichte Europas, die nicht eine Sozialgeschichte der regionalen und nationalen Besonderheiten wäre, wird es laut Kaelble auch in absehbarer Zukunft nicht geben.

Dass dies auf ideengeschichtlicher Ebene ebenfalls gilt, erhellt der Beitrag von Morten Reitmayer, der Konzepte der Gesellschaftsbeschreibung und der gesellschaftlichen Ordnung in Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Italien während der „Hochmoderne“ von 1900 bis 1970 untersucht. Dabei geht es um die je favorisierten ordnungspolitischen Begriffe zur Beschreibung von Großgruppen, denen gesellschaftliche Dominanz und politische Macht zugesprochen wurde: Klasse, Masse, Stand, Führer/Gefolgschaft und Elite. Gerade indem Reitmayer diese Begriffe nicht unmittelbar im Horizont der jeweils herrschenden Ideologie deutet, sondern sie herauslöst und vergleichend betrachtet, werden die Deutungskämpfe sichtbar, die um diese Konzepte innerhalb und zwischen den europäischen Gesellschaften geführt wurden, sowie die Evolution der dahinter stehenden, das Jahrhundert prägenden Frage: Welches soziale Kollektiv ist unter den Bedingungen hochmoderner Gesellschaftsentwicklung zur Herrschaft berufen?

Dietrich Beyrau betrachtet mit der Sowjetunion einen Fall, in dem ein bestimmtes Set von Ordnungsbegriffen nicht nur für längere Zeit vorgegeben, sondern als „Meinungswissen“ veralltäglicht und tief in der Gesellschaft verankert war. Hier stand nicht die Konkurrenz zu Alternativen im Zentrum, sondern die Diskrepanz zwischen Zukunftsvision und Wirklichkeit. Sie hielt den Deutungskampf um die Auslegung der marxistischen Theorie in Gang, bei dem es immer auch um deren Status als Wissenschaft ging. Mit wissenschaftlichen Konzepten der Gesellschaftsgestaltung befassen sich dann gleich drei weitere Beiträge. Thomas Etzemüller geht den Vorstellungen des Social Engineering im 20. Jahrhundert nach und arbeitet heraus, auf welche Weise dieses Konzept einer impliziten Logik der Menschheitsverbesserung folgte und grundlegend an Sicherheitsdispositive im Sinne Foucaults geknüpft war. Auch Adelheid von Salderns Beitrag zum Fordismus verdeutlicht, auf welchen Wegen eine zunächst simple Rationalisierungsidee zur Effizienzsteigerung industrieller Produktion im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem visionären Ordnungsmodell werden konnte, dem man gesamtgesellschaftliche Relevanz zusprach.

Einen Schritt weiter geht Dirk van Laak, indem er vorschlägt, Technokratie als eine generelle „Hintergrundideologie“ des 20. Jahrhunderts zu betrachten. Das greift eine These auf, die Jürgen Habermas bereits 1968 formulierte, und unterstreicht zu Recht deren Relevanz für die heutigen Überlegungen zu Verwissenschaftlichungsprozessen im 20. Jahrhundert. Van Laaks Ausführungen überzeugen vor allem dort, wo auch sie die Evolution der Technokratie-Idee – als Hoffnung wie als Vorwurf – durch verschiedene gesellschaftliche und politische Kontexte hindurch nachzeichnen. Der Versuch allerdings, dem Begriff eine besondere, „Technokraten“ genannte Trägergruppe zuzuordnen, nimmt den eigenen Anspruch wieder ein wenig zurück, eine „Hintergrundideologie“ freizulegen. Als Handlungs- wie Gesinnungsrationalität ist Technokratie wohl nicht nur bei Ingenieuren anzutreffen, sondern ebenso bei nicht-technisch ausgebildeten Entscheidungsträgern oder auch Kommentatoren des gesellschaftlichen Geschehens.

Ein weiterer Teil des Bandes, mit Beiträgen von Benjamin Ziemann, Joachim von Puttkamer und Wolfgang Knöbl, widmet sich der Soziologie als der im 20. Jahrhundert privilegierten Form gesellschaftlicher Selbstbeschreibung. Vor allem sie ist dafür verantwortlich, dass wir Europäer im Laufe des 20. Jahrhunderts gelernt haben, uns primär als Gesellschaft (oder Gesellschaften) zu begreifen und erst sekundär als Kulturen, Völker oder etwas anderes. Hier, in der historischen Rückschau auf das Gesellschaftsparadigma, begegnet sich der Band gewissermaßen selbst und fragt nach der Herkunft des eigenen Denkens. Einen wichtigen Ausgangspunkt hatte dieses soziologische Denken in der Rezeption von Talcott Parsons’ Strukturfunktionalismus. Zugleich wird deutlich, wie sehr das Modell der ‚modernen Gesellschaft‘ im Laufe des 20. Jahrhunderts mit der Idee des ‚Westens‘ assoziiert wurde, was sich im außereuropäischen Blick auf Europa, den Jürgen Osterhammel nachzeichnet, noch einmal verstärkte.

Was die Beiträge zur Soziologie als Selbstbeschreibungsmaschine des 20. Jahrhunderts besonders auszeichnet, ist ein nicht immer expliziertes Spannungsverhältnis zwischen ihrer eigenen Sprache und derjenigen, die sie historisierend untersuchen wollen. So geht Ziemann von Luhmanns Begriff der Selbstbeschreibung aus, um einen Abriss der europäischen, hauptsächlich aber deutschen Soziologie vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart zu liefern. Die im Titel („Die Metaphorik des Sozialen“) sich ankündigende Analyse der immanenten Bildlichkeit verschiedener Gesellschaftsbegriffe bleibt aber leider aus. Dabei weist Ziemann der Soziologie zu Recht eine Schlüsselfunktion in der Geschichte europäischer Selbstbeschreibungen zu, deren Historisierung aber nur dann sinnvoll sei, wenn man nicht gleichzeitig versuche, an ihren Forschungsergebnissen festzuhalten.

Hier wird ein Problem kenntlich, das den Band insgesamt betrifft: Historisierung des 20. Jahrhunderts und Untersuchung seiner Selbstbeschreibungen, in europäischer Perspektive oder nicht, bedeutet immer auch, sich von den Begriffen loszulösen, die noch gestern ‚unsere‘ Selbstbeschreibung ausmachten. So stellt sich dem Leser des Bandes am Ende ernsthaft die Frage, wie die Untersuchung von Selbstbeschreibungen einer Gesellschaft eigentlich noch Teil einer sozialhistorischen Beschreibung von Gesellschaft sein kann. Luhmann mag diese Ebene ‚dritter Ordnung‘ theoretisch erreicht haben. Insofern damit aber die logisch letztmögliche Abstraktionsstufe von Theoriebildung erreicht ist, fragt sich, ob auch Historiker an dieser Abstraktionshöhe interessiert sein können und wollen.

Der Band macht sehr deutlich, dass er, bei aller Selbsthistorisierung, im Grunde auf der Suche nach einem neuen Master-Narrativ ist: zum einen natürlich ‚Europa‘, auch wenn sich dieses, in den Worten Raphaels, nur als ein „hervorragender Beobachtungsraum“ herausstellt, in dem man etwas über die „Entwicklungsdynamiken moderner Gesellschaften“ lernen kann (S. 20). Dann aber werden auch ‚Wissenschaft und Technik‘ und schließlich der soziologische Diskurs als mögliche Grund-Signaturen des Jahrhunderts der ‚High Modernity‘ beleuchtet. Diese Suche nach übergreifenden Interpretamenten entspringt nicht zuletzt dem von Raphael in deutlich pessimistischer Metaphorik gezeichneten Bild, das die europäische Geschichtswissenschaft heute biete: „babylonische Sprachenverwirrung“ und „kopfhörerbewehrte Städter auf der gemeinsamen U-Bahnfahrt“ an Stelle „freundlich einander zugewandter Kongressteilnehmer“ (S. 11). Schnell fällt dem Leser die Parallelität dieser methodischen Heterogenität und derjenigen ins Auge, die der Band beim sachlichen Blick auf die jüngste Geschichte Europas feststellt. Und auf beiden Ebenen schwingt unüberhörbar Enttäuschung darüber mit, dass keine Meistererzählung Europas im 20. Jahrhundert in Sicht ist – eine Enttäuschung, die dem aufmerksamen Leser allerdings selber wie ein Nachhall oder Echo des 20. Jahrhunderts erscheint.