Altgläubige in Russland und der Sowjetunion

: Old Faith and the Russian Land. A Historical Ethnography of Ethics in the Urals. Ithaca, NY 2009 : Cornell University Press, ISBN 978-0-801-47520-7 338 S. $ 24.95

: Altgläubige zwischen Aufbruch und Apokalypse. Religion, Verwaltung und Wirtschaft in einem ostsibirischen Dorf (1900–1930er Jahre). Zürich 2011 : Chronos Verlag, ISBN 978-3-0340-1049-8 304 S. € 35,50

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Huhn, Forschungsstelle Osteuropa / Universität Bremen

Forschungen zu Lebensweise und Überlebensstrategien der russischen Altgläubigen seit der Loslösung vom Moskauer Patriarchat in der Mitte des 17. Jahrhunderts erleben in den letzten Jahren eine neue Blüte. Was zuvor als Spezialfeld für wenige Eingeweihte galt, ist durch neue Fragen nach dem Anteil der Altgläubigen an der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands und seinem Anschluss an die Moderne für eine breitere Leserschaft interessant geworden.1 In diesen Zusammenhang betten sich auch zwei Monographien ein, die beide als Fallstudie angelegt sind und zwei Altgläubigen-Siedlungen – eine in der Region Perm auf der europäischen Seite des Ural, die andere unweit des Baikalsees an der Grenze zur Mongolei – untersuchen. Beide Autoren haben viel Zeit am Ort ihres jeweiligen Untersuchungsgegenstandes verbracht und können daher eine beeindruckende Materialfülle präsentieren. In Anspruch und Zuschnitt gehen beide Werke jedoch stark auseinander.

Douglas Rogers, Associate Professor am Department of Anthropology der Yale University, fragt in seiner Studie nach den „moralizing discourses“, die die Altgläubigen des Städtchens Sepytsch seit ihrer Ansiedlung im Ural-Gebiet zusammengehalten haben. Selbstbewusst präsentiert er seine Monographie als „a historical ethnography of ethics, an account of how the inhabitants of a particular place have sought to fashion ethical lives across three centuries of precipitous transformations“ (S. xi). Im Zentrum steht dabei die Untersuchung der „moral economy“, insbesondere der Verbindung von religiösen Praktiken, Wertvorstellungen und Wirtschaftsweise der Stadtgemeinschaft. Es mag dabei manche Leser verwundern, dass Rogers die alte Frage nach der besonderen wirtschaftlichen Potenz der Altgläubigen – nach Max Weber immerhin die „Protestanten der Orthodoxie“ – erst gar nicht mehr stellt.2 Um den angekündigten Bogen schlagen zu können, greift Rogers sowohl auf Archivquellen als auch auf eigene Feldforschungen insbesondere für die Analyse der Transformationsprozesse seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zurück, die in der Darstellung dann auch den größten Teil einnehmen.

Die ersten beiden Kapitel, die die Herausbildung des „Ethical Repertoire“ im Ural nach der Ankunft der aus den bedrohten Altgläubigen-Klostergemeinschaften des Russischen Nordens flüchtenden Altgläubigen seit den 1730er-Jahren darstellen sollen, stehen auf eher wackligen Beinen. Zwar skizziert Rogers in diesem Teil wichtige Grundzüge der religiösen Praktiken der in Sepytsch heimisch gewordenen priesterlosen Altgläubigen, die das Dilemma der Verwobenheit in der Welt einerseits und den Anspruch von Weltflucht und Askese andererseits durch eine klare Trennung zwischen den Generationen lösten: So war es jeweils die ältere Generation, die nach langen Jahren der Teilhabe an (Re)Produktionsaufgaben zu von der Welt getrennten („nemirskije“) Ältesten und Vorstehern der priesterlosen Gemeinden gewählt wurden, Gottesdienste leiteten und damit zugleich einen Beitrag zur Rettung des eigenen Seelenheils leisten konnten. Diese Trennung ermöglichte zwar einen flexiblen Umgang auch mit den staatlichen Verfolgungsorganen, erschwerte aber zugleich, die strengen Vorschriften zur Abgrenzung von allem Weltlichen, vor allem bei der Einhaltung der Speisevorschriften, einzuhalten. So klug die Überlegungen zur „Unvermeidlichkeit des Materiellen“ (S. 50) hinsichtlich Raum, Ritualen, Geld, Arbeit und der von den priesterlosen Altgläubigen praktizierten sakramentlosen Zivilehe sein mögen, so wenig verlässlich ist leider die historische Argumentation. Die mit großem Anlauf vorgestellte Idee, das am Ende des 19. Jahrhunderts in der Region aufkommende Schisma zwischen zwei rivalisierenden priesterlosen Altgläubigen-Gruppierungen könne seine Ursache in einem unterschiedlichen Umgang mit den neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten und Verlockungen nach der Aufhebung der Leibeigenschaft haben, ist zwar interessant, wird aber eher vermutet als bewiesen.

Dagegen überzeugt die Anwendung des im ersten Teil entwickelten Modells von der religiösen Arbeitsteilung zwischen den Generationen für die Darstellung der Sowjetjahre im zweiten Teil des Buches. Dabei reichen Rogers für die 70 Jahre sowjetischer Herrschaft nur zwei Kapitel, in denen er zunächst die jeweils junge bzw. mittlere Generation und anschließend die „Ältesten“ in den Blick nimmt. Generationen werden dabei nicht als eindeutig definierte Alterskohorten, sondern als Gruppen verstanden, an die bestimmte soziale und kulturelle Erwartungen gerichtet werden (S. 113). Damit kann Rogers plausibel erklären, warum Menschen, die in den 1940er-Jahren als überzeugte Kolchosbauern und vor allem -bäuerinnen agieren mochten, in den 1970er-Jahren zu asketisch lebenden und anerkannten Ältesten der priesterlosen Altgläubigen-Gemeinden werden konnten. Gerade diese eingeübten Rollenmodelle und das Fehlen geweihter Kirchenräume erleichterten den Fortbestand dieser Gemeinden trotz Phasen intensiver Verfolgungen. Denn gegenüber diesen „dezentralisierten“ Strukturen stand die „sowjetische religiöse Bürokratie“ – das heißt die verschiedenen staatlichen Kontrollorgane – in viel stärkerem Maße vor dem Problem, die Marker bzw. Orte und Träger von Religion zu „definieren, regulieren und zu eliminieren“ (S. 150), als dies gegenüber dem hierarchisch strukturierten Moskauer Patriarchat der Fall war. Gleiches ließe sich – dies sei einschränkend angemerkt – jedoch auch über die orthodoxen Praktiken jenseits der verfassten Kirchenstrukturen sagen.

Etwas sperrig in der textlichen Einbindung, gleichwohl jedoch faszinierend lesen sich die Ausführungen über eine besondere Allianz der „Ältesten“ mit Vertretern des sowjetischen Staates: Seit den späten 1960er-Jahren kamen so genannte Archäographen auf der Suche nach alten Schriften und frühen Drucken, also materiellen Zeugen „russischer Tradition“, in die Dörfer und Siedlungen der Altgläubigen. Diese oft kritisch eingestellten sowjetischen Intellektuellen verhandelten dabei in zunehmendem Maße auch ihre eigene nationale Identität jenseits des parteistaatlichen Auftrages. Nach anfänglichem Misstrauen konnten die sowjetischen Forscher mit ihren profunden Text- und religiösen Sachkenntnissen, großem Einsatz und Respekt für die „Ältesten“ persönliche Bindungen aufbauen. Da sie gegenüber den lokalen Sowjetorganen zudem als Patrone für ihre Informanten und Objektgeber auftreten konnten, profitierten auch die „Ältesten“ von dieser Verbindung.

Die Organisation der verschiedenen Handlungsstränge erweist sich jedoch als ein Grundproblem des Buches. Die Frage nach der Verbindung religiöser Vorstellungen und Praktiken mit wirtschaftlichen und ethischen Handlungsprämissen eignet sich nicht für eine durchgehend konzise Darstellung, stattdessen lesen sich die Kapitel als in sich interessante Abhandlungen, deren Zusammenhang aber oft nur lose konstruiert ist. Dies gilt auch für die ebenfalls im zweiten Teil vorgestellten Ausführungen über „materielle“ und „moralische“ Arbeitsanreize in der Kolchose und späteren Sowchose von Sepytsch. Zwar liegt auf der Hand, dass die sich abwechselnden Phasen von Monetarisierung (nach der Gründung der Sowchose 1965 und der damit verbundenen verlässlichen Auszahlung von Gehältern) und De-Monetarisierung (nach der Kollektivierung der Landwirtschaft 1930 und erneut nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion) direkte Auswirkungen auf das Gemeinwesen und die Austauschbeziehungen der Bewohner von Sepytsch hatten.

Erst die im dritten Teil geschilderten neuen Wirtschaftsstrukturen nach dem Ende der Sowjetunion, die auf Subsistenz und gegenseitiger Hilfe (oft verrechnet in selbstgebranntem Schnaps) angelegt waren, kann Rogers wieder plausibel an seine Ausgangsfrage nach der „moral economy“ und den religiösen Überzeugungen der Gemeinschaft anbinden. Als Bindeglied erweist sich – nur auf den ersten Blick verblüffend – die anhaltend dominante Rolle des privatisierten Nachfolgers der früheren Staatsfarm. Denn die seit Anfang der 1990er-Jahre nach Sepytsch strebenden priesterlichen Altgläubigen, die hier historisch nie beheimatet gewesen waren, fanden mit dem langjährigen Direktor der früheren Sowchose und nunmehrigen privatisierten Gesellschafter sowie anderen früheren Kommunisten oder Vertretern der sowjetischen Staatsmacht unerwartete Mitstreiter für ihr Projekt eines Kirchenneubaus. Entscheidend für deren Engagement war jedoch nicht persönlicher Glaube, sondern de facto sowjetische Patronage- und Mobilisierungs-Logiken sowie die Überzeugung von der Notwendigkeit eines neuen gesellschaftlichen Projekts. Die weiter bestehenden priesterlosen Altgläubigen-Gemeinden eigneten sich dazu hingegen nicht, und auch die anhaltende Unterstützung der Moskauer Archäo- bzw. Ethnographen und ihr Einsatz für Fortbestand und Würdigung der „traditionellen Kultur“ – vor allem mithilfe eines 2001 eingeweihten Museums für die Kultur der priesterlosen Altgläubigen in Sepytsch – sollten daran nichts ändern. Für Taufen, nach Rogers vorrangig ein Akt der Absicherung und Risikominimierung, wurden daher überwiegend die als professioneller wahrgenommenen Priester der neuen Kirche angesprochen. Dagegen wurde die Kompetenz der aus dem Kreis der religiösen Laien gewählten „Ältesten“ – das heißt überwiegend Frauen – für Beerdigungen nicht hinterfragt.

Überspannt Rogers mit seinem ambitionierten Vorhaben trotz vieler faszinierender Einsichten den Bogen mitunter, so stellt Eva Maeder ihre Leser vor das umgekehrte Problem. Auch sie versucht sich an einer verknüpften Darstellung von Verwaltung, Wirtschaft und Religion am Beispiel des Dorfes Bolschoi Kunalei, fragt nach „Normen und Werten“ der Dorfbewohner (S. 17). In Abgrenzung zu Rogers kündigt sie jedoch später an, sich auf „materielle Aspekte“ des Dorfes zu beschränken (S. 27). So liest sich die Darstellung als unentschlossene und vor allem sehr kleinteilige Untersuchung von Verwaltungsstrukturen, wirtschaftlichen Entwicklungen und der Binnenstruktur der Altgläubigen im Dorf, wobei sich Maeder auf die drei Jahrzehnte zwischen 1900 und den Jahren nach der gewaltsamen Kollektivierung der Landwirtschaft beschränkt. Die Gliederung des Buches orientiert sich dabei streng an den bekannten Periodisierungen, ohne Binnenbezüge zwischen den einzelnen Untersuchungssträngen deutlich zu machen. Auch ihre Schlussfolgerungen am Ende ihrer materialreichen Kapitel bleiben leider eher kurzatmig, so wenn sie in einem kurzen Kapitel über den „Aufbruch in die Moderne“ die Gründung einer Kredit- sowie einer Konsumgenossenschaft im Ort erwähnt und folgert, dass die „‚Konservativität‘ [der Altgläubigen] nicht überbewertet werden darf“ (S. 81). Ein Grund dafür dürfte auch sein, dass Maeder ihre Untersuchungsergebnisse erst gar nicht in den Kontext bereits vorhandener Arbeiten stellt. Das nur vier Seiten lange Kapitel zu „Kirchenabbruch und Weltuntergangsstimmung“ – auf den immerhin der Titel der Arbeit rekurriert – kommt ohne jeden Verweis zu der reichlich vorhandenen Sekundärliteratur zu bäuerlichen Ausdeutungen der und Mobilisierung durch manichäische Weltvorstellungen aus, die bei den Altgläubigen besonders stark verankert waren. Die Möglichkeit, die von Lynne Viola für die ländliche Sowjetunion aufgestellte These von Weltende-Gerüchten als „Ideology of Peasant Resistance“3 am Beispiel einer Altgläubigen-Gemeinschaft zu untersuchen, hat Maeder leider verschenkt. Da Maeder in ihrer Monographie zahllose Details eher nebeneinander stellt, anstatt sie – wie in vorab publizierten Aufsätzen durchaus geschehen4 – zu einem größeren Zusammenhang zu verweben, bleibt der Mehrwert der Arbeit damit leider unklar.

Wer sich also auf eine weit ausholende Untersuchung und Darstellung einer Altgläubigen-Gemeinschaft über einen Zeitraum von fast drei Jahrhunderten einlassen mag, wird bei Rogers faszinierende Beobachtungen und Schlüsse finden können. Wer hingegen wissen will, wie viele Pferde, Kühe und Ackerland der Bauer Kowaljow im Dorf Bolschoi Kunalei seinem jüngsten Sohn vererbte, mag dies bei Eva Maeder nachlesen.

Anmerkungen:
1 Irina Paert, Old Believers, Religious Dissent and Gender in Russia, 1760-1850, Manchester 2003; Peter Hauptmann, Rußlands Altgläubige, Göttingen 2005; Georg Bernhard Michels / Robert Lewis Nichols (Hrsg.), Russia’s dissident Old Believers, 1650-1950, Minneapolis 2009; Robert O. Crummey, Old Believers in a Changing World, DeKalb / London 2011, aber auch Leonid Heretz, Russia on the Eve of Modernity. Popular Religion and Traditional Culture under the Last Tsars, Cambridge 2008.
2 Manfred Hildermeier, Alter Glaube und neue Welt. Zur Sozialgeschichte des Raskol im 18. und 19. Jahrhundert, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 38:3 (1990), S. 372-398 sowie Hermann Beyer, Marx, Weber und die russischen Altgläubigen. Das altgläubige Unternehmertum des 18. und 19. Jahrhunderts in der Forschung seit 1917, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 30:4 (1982) S. 541-574.
3 Allen voran Lynne Viola, Peasant Rebels under Stalin. Collectivization and the Culture of Peasant Resistance, New York / Oxford 1996, vor allem Kapitel 2: The Mark of Antichrist: Rumors and the Ideology of Peasant Resistance.
4 Eva Maeder, Religiöse Norm und sowjetischer Alltag – Anpassung und Tradition bei den Altgläubigen Transbaikaliens, in: Bianka Pietrow-Ennker (Hrsg.), Kultur in der Geschichte Russlands. Räume, Medien, Identitäten, Lebenswelten, Göttingen 2007, S. 294-311.

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