Cover
Titel
In War’s Wake. Europe’s Displaced Persons in the Postwar Order


Autor(en)
Cohen, Gerard Daniel
Reihe
Oxford Studies in International History
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 237 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael G. Esch, Centre Marc Bloch, Berlin

Die Klage, dass Migrationsphänomene in ihrer Bedeutung für die allgemeine Geschichte – interessiere sie sich nun für soziale, soziokulturelle, ökonomische, rechtliche oder politische Entwicklungen – meist nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt werden, ist zwar nicht neu, aber auch heute noch selten unbegründet. Gerard Daniel Cohens Studie über die International Refugee Organisation (IRO), eine UNO-Einrichtung, die von 1946 bis 1951 für die Betreuung und Verteilung europäischer Displaced Persons (DPs) zuständig war, verspricht hier in mehrerlei Hinsicht Abhilfe. Cohens Zugang erinnert insofern an das Konzept einer „Sozialgeschichte der Macht“ des von ihm allerdings nicht herangezogenen Gérard Noiriel1, als er bestimmte Migrationsphänomene (und die Versuche, sie verwaltbar zu machen) beschreibt und sie gleichzeitig in den Kontext darüber hinausgehender politischer Diskurse und Entscheidungswege stellt.

Cohen konzentriert sich auf die „last million“, das heißt jene Gruppe von Holocaust-Überlebenden, ehemaligen ZwangsarbeiterInnen, Deportierten sowie Nachkriegsflüchtlingen aus dem Osten, die nach dem Abschluss der Massenrückführungen durch die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) in DP-Lagern vor allem in Deutschland und Österreich verblieben. Cohen interessiert sich allerdings weniger für die DPs selbst. Sein Hauptinteresse liegt auf der Frage, wie die politische und organisatorische Beschäftigung mit den europäischen DPs zu Definitionen, Konkretisierungen und Weichenstellungen geführt oder beigetragen hat, deren Bedeutung weit über den konkreten Anlass – 1,2 Millionen Menschen, die sich weigerten, in ihre Heimatländer zurückzukehren – hinausging.

Das Buch verfolgt eine Reihe von Themenkomplexen, die jeweils im Rahmen der Tätigkeit der IRO und ihres Umfelds – Politiker, Nichtregierungsorganisationen – beleuchtet werden: den Stellenwert der DPs für die Selbstverortung des westlichen Lagers im beginnenden Kalten Krieg sowie die damit zusammenhängende Verschiebung der Definition von „Flüchtling“ im Sinne der UNO vom Opfer des Faschismus und Nationalsozialismus hin zum politischen Flüchtling aus dem östlichen Europa; die Institutionalisierung eines internationalen Humanismus und die Etablierung eines neuen Begriffs von Menschenrechten; die (partielle) Integration der DPs in ein globales Regime der Arbeitskräfteverteilung; sowie schließlich die Kulmination der genannten Aspekte – bzw. ihrer Auswirkungen – in der Legitimation einer eigenständigen jüdischen Staatlichkeit. Bereits in dieser Anlage wird deutlich, dass es Cohen weniger um einen Beitrag zur Geschichte von Migrationen und ihrer Kanalisierung geht als um eine „Fallstudie zur internationalen Geschichte nach 1945“ (S. 8).

Das erste Kapitel zeigt, wie die große Zahl an DPs, die ab 1946 durch eine erste Welle jüdischer und nichtjüdischer Flüchtlinge insbesondere aus Polen noch anstieg, zu einem sowohl sozioökonomischen wie auch politischen Problem wurde: Die Anwesenheit mehrerer hunderttausend Hilfsbedürftiger belastete nicht nur die ab Frühjahr 1946 von amerikanischer Seite initiierten Wiederaufbauanstrengungen – zumal ja gleichzeitig die Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Ostmitteleuropa einsetzte. Die Auseinandersetzung über das Schicksal der DPs markierte zugleich den Anfang des Kalten Kriegs: Der von der Sowjetunion und Polen geforderten – zur Not zwangsweisen – Rücksiedlung der DPs setzte das sich formierende westliche Lager eine Definition von „Flüchtling“ entgegen, in die DPs, die nicht in kommunistisch regierte Länder zurückkehren wollten, eingeschlossen wurden. Zwar erscheint es als nicht hinreichend belegt, dass „Menschenrechtspolitik nicht nur das Ende des Kalten Kriegs beschleunigte, […] sondern auch zu seinem Ausbruch führte“ (S. 19). Cohen übersieht hier die Bedeutung strategischer Paradigmenwechsel im Frühjahr 1946: Der sich im Besuch des US-Außenministers Byrnes ankündigende Wechsel hin zu einer Integration Deutschlands in ein gegen den Osten gerichtetes westliches Lager zeichnete sich nicht bei der Frage der Rückkehr der DPs ab, sondern beim Problem der polnischen Verfügungsgewalt über die ehemaligen deutschen Ostgebiete und der Aufteilung Europas bzw. der Welt in einen amerikanischen und einen sowjetischen Einflussbereich. Mit anderen Worten: Das Zerwürfnis der ehemaligen Alliierten entzündete sich nicht an Menschenrechtsfragen, sondern wurde allenfalls über den Menschenrechtsdiskurs vermittelt. Dort, wo Cohen sich auf die detaillierte Beschreibung des westlichen Vorgehens beschränkt, wird deutlich, dass ihm dies auch selbst klar ist. Richtig ist aber, dass der Disput über die DPs insofern zur Frontstellung zwischen Ost und West beitrug, als ein Diskurs über individualisierte Menschenrechte (im Gegensatz zu kollektiven Schutzrechten, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg in Form der Minderheitenschutzrechte eingeführt worden waren) maßgeblich für die Positionierung und Legitimierung des westlichen Lagers wurde und schließlich in der Genfer Konvention von 1951 festgeschrieben wurde.

Die ersten drei Kapitel bieten eine anregende, wenn auch an manchen Stellen nicht unproblematische Analyse der Art, wie der internationale Umgang mit den europäischen DPs zur Entwicklung eines internationalen Menschenrechtskatalogs führte, der von internationalen Organisationen im Rahmen der UNO sowie von NGOs – hier in erster Linie kirchlichen Akteuren – konkretisiert und garantiert wurde. Sehr überzeugend, wenn auch nicht unbedingt neu, zeigt Cohen, wie dieser Katalog – insbesondere was spezifische Asyl- und Fluchtrechte angeht – auf die Flüchtlinge aus dem östlichen Europa zugeschnitten wurde und sich ausdrücklich auch nur auf sie bezog, obwohl der einen Million Flüchtlinge und Deportierte in Europa weitere Millionen weltweit gegenüberstanden.

Cohen belegt differenziert, wie der humanistische Idealismus seitens der IRO-Akteure zusammentraf mit einer Mischung aus ideologisch-kultureller Verengung des Blicks auf den idealen, erwünschten Flüchtling, strategischem Kalkül im beginnenden Machtkampf mit dem Osten sowie wirtschafts- und bevölkerungspolitischem Ordnungswillen seitens der USA und Großbritanniens. Ein Missverhältnis in der Beschreibung östlicher und westlicher Kalküle und gewisse Mängel in der historischen Kontextualisierung werden allerdings beispielsweise im fünften Kapitel deutlich, das den Umgang mit der durch die Flüchtlingswellen erzeugten „Überbevölkerung“ („surplus population“) beschreibt. Zum einen fehlt der Hinweis, dass die IRO damit einen Diskurs aufgriff, der die europäische bevölkerungspolitische Diskussion mindestens seit dem Ende des Ersten Weltkriegs nachhaltig geprägt hatte. Zum anderen wird dem aufmerksamen Leser nicht entgehen, dass die utilitaristische Einwanderungspolitik der westlichen Länder, die sich die körperlich und von den kulturellen und beruflichen Kompetenzen her attraktivsten DPs aussuchten, und die Überlegungen der IRO zu einer planvollen globalen Distribution von Arbeitskräften sich nur graduell vom Wunsch der östlichen Staaten unterschieden, Arbeitskräfte zurückzubekommen, die ihre Staatsangehörigkeit besaßen. Dies widerspricht der von Cohen postulierten prinzipiellen Andersartigkeit der sowjetischen Politik. Das letzte Kapitel wiederum zeichnet nach, wie die Diskussion um die jüdischen DPs – für die die IRO faktisch nicht zuständig war – wesentlich zur Legitimierung der 1948 deklarierten israelischen Staatlichkeit beitrug.

Die Darstellung speist sich quellenmäßig aus den (offensichtlich nicht sehr ergiebigen2) IRO-Records, vor allem jedoch aus Äußerungen von Akteuren innerhalb und im Umfeld der IRO. Deren Tätigkeit wiederum wird über eine recht einseitige Heranziehung der Literatur kontextualisiert: Während die englische, französische und deutsche Literatur insbesondere zur internationalen Politik der ersten Nachkriegsjahre sehr intensiv genutzt wird, stützen sich Cohens Darlegungen sowjetischer und polnischer Argumentationen und Vorstöße auf eine unzureichende Basis; sie sind dementsprechend undifferenziert. So fehlt der Hinweis, dass das Insistieren des östlichen Lagers, nur antifaschistische Kämpfer dürften als DPs anerkannt werden, sich aus einem Heldendiskurs speiste, dem der ab Ende der 1940er-Jahre – in der Tat nicht zuletzt am Fall der DPs – entwickelte und durchgesetzte Opferdiskurs entgegenstand.3

Die Qualität der Arbeit, nämlich die Einbettung einer speziellen migrationspolitischen Organisation in zeitgenössische politische Diskurse sowie die Rekonstruktion ihrer Wirkung auf politische Weichenstellungen, insbesondere die Entwicklung des westlichen Menschenrechtsdiskurses und die darauf aufbauende Gründung des Staats Israel, wird durch den eher vagen totalitarismustheoretischen Blick auf das östliche Europa geschmälert. Ein ähnlich differenzierter und scharfer Blick, wie Cohen ihn über weite Strecken auf die Westalliierten richtet, wäre wünschenswert gewesen. Hinzu kommt als quasi epistemologisches Problem, dass Cohen die Installation des Menschenrechtsdiskurses an sich durchweg positiv konnotiert, was ihm die Analyse der strategisch-ideologischen Dimension der „human rights revolution“ mitunter verstellt. Dieser Vorbehalt gilt nicht allein angesichts problematischer Verwendungen von Menschenrechtsmotiven für militärische Interventionen, sondern bereits für Cohens Auffassung, die 1946–1951 installierten individualisierten Menschenrechte seien „einklagbar“ bzw. durchsetzbar („enforceable“): Individuen haben nicht unbedingt Zugang zu internationalen Gerichtshöfen, Asylrechte hängen von den Gesetzgebungen der Nationalstaaten ab, und die Durchsetzung proklamierter Menschenrechte verläuft häufig eben über die militärische Intervention staatlicher Großkollektive. Gerard Daniel Cohens Arbeit ist dennoch eine insgesamt lesenswerte Mischung aus einer politischen Diskurs-, Ideen- und Organisationsgeschichte und einem antitotalitaristischen Plädoyer für aktive Menschenrechtspolitik.

Anmerkungen:
1 Gérard Noiriel, Etat, nation et immigration. Vers une histoire du pouvoir, Paris 2001.
2 Siehe die Beschreibung des Bestands unter <http://www.unhcr.org/440315582.pdf> (04.07.2012).
3 Siehe dazu u.a. die Beiträge von Tanja Penter und Julia Landau in den demnächst erscheinenden Ergebnissen eines Forschungsprojekts zur Geschichte der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und ihrer Partnerorganisationen (<http://www.ruhr-uni-bochum.de/lehrstuhl-ng2/forschung/evz.html>, 04.07.2012). Die Publikation ist für August angekündigt: Constantin Goschler (Hrsg., in Zusammenarbeit mit José Brunner, Krzysztof Ruchniewicz und Philipp Ther), Die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit am Anfang des 21. Jahrhunderts. Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und ihre Partnerorganisationen, 4 Bde., Göttingen 2012.

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