H. Halbrainer u.a. (Hrsg.): NS-Herrschaft in der Steiermark

Cover
Titel
NS-Herrschaft in der Steiermark. Positionen und Diskurse


Herausgeber
Halbrainer, Heimo; Lamprecht, Gerald; Mindler, Ursula
Erschienen
Anzahl Seiten
541 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Grilj, Wien

Bald dreißig Jahre nach dem Einsetzen einer kritischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Geschichte versucht das vorliegende Buch historische Linien im ehemaligen NS-Gau Steiermark aufzuzeigen. Darüber hinaus weckt der Untertitel „Positionen und Diskurse“ die Erwartungshaltung auf eine diskursanalytische Betrachtung, die leider nur selten erfüllt wird.

Bei der Autorenliste ist ein primärer Bezug zur Karl-Franzens-Universität Graz mehr als offensichtlich, was aber natürlich dem Thema geschuldet ist. Die meisten von ihnen sind dem interessierten Leser bereits aus anderen Sammelbänden oder Monographien bekannt, andere weniger, wieder andere fehlen. So breit wie die personelle Aufstellung ist die disziplinäre und thematische: Von der Vorgeschichte über die NS-Zeit bis zur „Nachzeit“ wird ein breiter Bogen gespannt. Der Zeitraum von 1938–1945 wird nochmals gesondert in „Herrschaft, Gesellschaft – Kultur – Wissenschaft und Terror“ untergliedert.

Die Einleitung der Herausgeber lässt viel erwarten und beschreibt en gros die ersten Aufarbeitungen der nationalsozialistischen Geschichte und deren Entstehungsumfeld im Hinblick auf die regionalen Besonderheiten. Wolfgang Benz – eine Autorität der Antisemitismusforschung – nimmt eine Metaposition ein und analysiert die internationale Entwicklung zu diesem Thema, für die österreichischen und steirischen Spezifika bleibt kein Platz mehr.

Das erste Kapitel betrachtet die Zeit vor der Annexion Österreichs im März 1938 und versucht, diese unterschiedlich zu fassen. Der Beitrag von Helmuth Konrad hat eher einen Überblickscharakter, Kurt Bauer und Heidrun Zettelbauer analysieren Aspekte. Konrad geht bis zur Monarchie zurück und kombiniert geschickt historische Fakten und deren geschichtswissenschaftliche Betrachtung. Während er den Februarkämpfen 1934 viel Platz widmet, fehlt eine Analyse des „bürgerlichen“ und „dritten“ Lagers, was den Untertitel „die gesamtstaatlichen Rahmenbedingungen“ relativiert. Die Texte von Bauer und Zettelbauer widmen sich dezidiert Detailfragen, die schließlich in einem gesamt-österreichischen und -gesellschaftlichen Rahmen verankert werden.

Als Basis für die anschließenden Kapitel folgt eine Verortung: Während Martin Moll über die NS-Eliten und generell über einen Elitenbegriff schreibt, definieren Ursula Mindler (Burgendland) und Monika Stromberger (Untersteiermark) den Raum. Mindlers Text sticht besonders hervor, da er eine Synthese sowohl einzelner Kapitel dieses Buches als auch verschiedener Forschungszugänge darstellt und somit Text und Metatext zugleich ist.

Der Titel des dritten Kapitels „Gesellschaft – Kultur – Wissenschaft“ ist Programm, wobei Inhalte und Qualität sich wohl kaum deutlicher unterschieden könnten. Wenngleich Michaela Sohn-Kronthaler in ihrem Beitrag „Katholische Kirche und Nationalsozialismus in der Steiermark“ explizit erwähnt, dass im Verhalten der steirischen Priester keine Homogenität erkennbar sei, erweckt sie allein quantitativ den Eindruck, dass die Kirche dem Nationalsozialismus ablehnend gegenübergestanden habe. Auffallend sind die vielen Verweise auf Diplomarbeiten, was auf eine rege Forschungstätigkeit in diesem Bereich hoffen lässt. Uwe Baur und Karin Gradwohl-Schlacher analysieren in ihrem Text die NS-Kulturpolitik und verknüpfen dazu elegant biographische und institutionelle Aspekte. Sie zeichnen damit ein konkretes Bild der nationalsozialistischen Idee von Kunst, der Organisationen und aller beteiligten Personen (Befürworter, Opportunisten und Oppositionellen). Ihre weitreichenden Überlegungen schließen die Nachkriegszeit mit ein und erstrecken sich bis an die Wende des „kurzen“ 20. Jahrhunderts. Alois Kernbauer betrachtet „die Hochschulen in Graz in der NS-Zeit“. Exmatrikulationen und Entlassungen aus rassistischen oder politischen Gründen finden als Topos in Darstellung und Analyse ebenso wie neuere Forschungen zum Thema kaum Eingang.

Das anschließende Kapitel betrachtet „NS-Terror: Verfolgung und Widerstand“ und bildet den Kern des vorliegenden Bandes. Die Ausführungen von Heimo Halbrainer greifen das Thema der Einleitung wieder auf und präsentieren neben den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen nach dem „Anschluss“ im Wesentlichen die entsprechenden historischen und journalistischen Betrachtungen. Trotz des verhältnismäßig geringen Umfanges handelt es sich um eine diffizile und exakte Analyse, die alle Wirkungsbereiche des nationalsozialistischen Staates abdeckt. Peter Ruggenthaler bietet eine Zusammenschau der Arbeiten des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung und der Historiker-Kommission, wobei eine statistische Betrachtung der Zwangsarbeit der gewählte Zugang ist. Der „Widerstand in der Steiermark“ wird von Wolfgang Neugebauer beschrieben, der auf vorangegangene Forschungen verweist und diese hier auf das Bundesland eingrenzt. Gerald Lamprecht analysiert die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung und versucht, die unterschiedlichsten Formen mit sehr breitem Zugang zu fassen, was er als Gesamtbild von Täter- und Opfergeschichte versteht. Im anschließenden Beitrag von Michael Teichmann und Roman Urbaner zur Verfolgung der Roma tauchen einige Momente aus der Analyse Ursula Mindlers wieder auf und werden hier en détail an zwei steirischen „Zigeunerlagern“ exemplifiziert. Vor allem der auf biographische Quellen basierende Zugang scheint hier ein nahezu unerforschtes Gebiet in ein neues Licht gerückt zu haben. Der Text von Eleonore Lappin-Eppel zu den „Todesmärschen ungarischer Jüdinnen und Juden durch die Steiermark“ zeichnet ein sehr detailliertes Bild und weist insbesondere auf die Heterogenität der Situation und die sich daraus ergebenden Folgen für die Forschung hin.

Im abschließenden Kapitel „‚Nachzeit‘ – Bruch oder Kontinuität?“ wird die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Herrschaft – oder exakter: werden entsprechende Positionen, Konflikte und Kompromisse in diesem Zusammenhang beschrieben. Martin Polascheks Aufsatz zu Entnazifizierung und Kriegsverbrecherprozessen zeigt nicht zuletzt die Probleme bei der Frage nach Konsequenzen auf. Diese sind neben dem „Opfer-Mythos“, dem Misstrauen der Alliierten gegenüber der Übergangsregierung sowie der Alliierten untereinander aber besonders pragmatischen Gründen – jenseits von Moral und Gesetz – geschuldet. Während Polaschek nach dem Umgang mit den „Tätern“ fragt, widmet sich Andrea Strutz den Opfern anhand der Opferfürsorge. Ein mangelnder politischer Wille lässt sich auf beiden Seiten konstatieren. Wurde bei den einen vergessen und entschuldigt, so wurde bei den anderen verdrängt (zeitlich und thematisch). Strutz weist nach, dass die regionale Vollzugspraxis zwar differenziert, aber – der gesamtösterreichischen Praxis entsprechend – als unzureichend zu klassifizieren ist. Der Beitrag von Karin Leitner-Ruhe betrachtet die Kunstrückgabe nach 1945 am Beispiel des Landesmuseums Joanneum und zeigt deutlich, dass nicht nur der Raub, sondern auch die Restitution mit erheblichem Druck und Erpressung einherging. Dieter A. Binder illustriert Kontinuitäten oder, wie er es in Anlehnung an den Linzer Historiker Roman Sandgruber nennt, „Rückbrüche“. Ausgehend von den Reden des Grazer Volkskundlers und ÖVP-Nationalratsabgeordneten Hanns Koren zeichnet er Wertvorstellungen, verwendete Begrifflichkeiten und fehlende Distanz des katholisch-nationalen Milieus nach. Mittels abstrakterer Analyse betrachtet Christian Fleck die steirischen Hochschulen, wobei die Conclusio – Aberkennung des akademischen und universitären Status’ – ausgespart bleibt. Ebenfalls theoretisch hinterfragt Heidemarie Uhl die Gedächtniskultur in Graz in Zusammenhang mit der Konzeption, tatsächlichen Planung, Einweihung und medialen Betrachtung von Kriegerdenkmälern, die in drei Phasen verortet wird. Die Grenzen zwischen Gedächtnis, Erinnerung, Gedächtnisort, Mahnmal, Denkmal und religiösen Gebäuden sind in ihrer Analyse allerdings indifferent. Der Beitrag von Karin M. Schmidlechner widmet sich „Aspekten einer Geschlechtergeschichte von Krieg und NS-Zeit“ und bietet eine bibliographische Aufzählung zum Thema. Dieser abschließende Text ist wohl als Einladung gedacht, in den Diskurs zu treten, da er viele Ergebnisse der anderen Autoren zumindest in Frage stellt oder ignoriert.
Zusammenfassend kann der vorliegende Band als Momentaufnahme der Forschungen zum Nationalsozialismus verstanden werden. Er zeigt unterschiedliche methodische Ansätze, disziplinäre Zugänge und Aktualität. Einige Beiträge entsprechen dem aktuellen internationalen Diskurs und brechen diesen auf eine regional-historische Ebene herunter – andere scheinen in vergangenen Jahrzehnten zurückgeblieben zu sein. Die thematische Häufung (z.B. bei der Betrachtung der Universitäten oder der Rolle der Frauen) zeigt dies besonders deutlich. Ebenso offensichtlich ist die Qualität der vorangegangenen Arbeiten der Herausgeber: Fast kein Text kommt ohne Verweis auf (zumindest) eine Arbeit Halbrainers und/oder die Ausstellung „un/sichtbar – NS-Herrschaft: Widerstand und Verfolgung in der Steiermark“ des Herausgeber-Trios Halbrainer, Lamprecht, Mindler aus.

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