R. Rollinger (Hrsg.): Strafe und Strafrecht in den antiken Welten

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Titel
Strafe und Strafrecht in den antiken Welten. Unter Berücksichtigung von Todesstrafe, Hinrichtung und peinlicher Befragung


Herausgeber
Rollinger, Robert; Lang, Martin; Barta, Heinz
Reihe
Philippika 51
Erschienen
Wiesbaden 2012: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
XVI, 266 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Fündling, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Aus Historikersicht stellen sich Strafen derzeit vorwiegend als ein Feld sozialer Regeldurchsetzung und formalisierter Gewaltanwendung dar, an dem obrigkeitliches Handeln ebenso wie Mentalitäts- und Statusfragen deutlich werden. Der rechtshistorische Zugang ist dem gegenüber eher geneigt, bei voller Anerkennung der Unterschiede zwischen Rechtspraxis und Rechtsnorm Systematisches und gefestigte Normen hinter den Ereignissen zu vermuten. Solche ‚Sortiertheit‘ wirkt exotisch auf die meisten Historiker, die entweder mit dem ‚Unordentlichen‘ des Einzelfalls ganz zufrieden sind oder sich bevorzugt bei soziologischen oder politologischen Ordnungsverfahren bedienen.

So fremd ist man sich nicht immer gewesen. Vom kategorialen, zum exakten Begriffsgebrauch erzogenen juristischen Denken könnten gerade theoriefreudige Arbeitsfelder der Geschichtswissenschaft profitieren, und im Vorwort zu den vierzehn Beiträgen des vorliegenden Tagungsbandes zitiert Heinz Barta Theodor Mommsen persönlich als Wegbereiter für das Ziel der Herausgeber (S. X): In den Rechtskulturen des erweiterten Mittelmeerraums von Mesopotamien bis zum frühen Islam soll das Hervortreten strafbezogener Vorschriften und Praktiken aus dem Gefüge sozial-religiöser Normen aufgezeigt werden, dazu die Bandbreite der überlieferten Sanktionen, ihre Zielsetzung, die strafenden Instanzen und ihre Vorgehensweise.

Wie der vorliegende Band zur Zusammenarbeit mit den Altertumswissenschaften jenseits der Rechtsgeschichte aufruft – und den Anspruch über weite Strecken einlöst –, weckt große Sympathie. Mitunter kommt es zu Momenten produktiver Verwunderung, etwa wenn Klaus Schöpsdau seine Quellenauswahl zu „Strafen und Strafrecht bei griechischen Denkern des 5. und 4. Jahrhunderts“ fast vollständig aus dem zeitlichen Kontext löst und aus dem Redenpaar zum Abfall von Mytilene bei Thukydides (3,37–48) die dort geäußerte implizite Rechtstheorie gewinnen möchte, wo die historische Forschung nach Handlungs- und Abfassungszeit sowie der Wirkungsabsicht fragen würde.1

Akribisch und behutsam gelingt es Philipp Scheibelreiter (S. 23–47), Parallelen zu Talionsvorschriften des Zwölftafelgesetzes in frühen westgriechischen Rechtsordnungen nachzuweisen, ohne aus dieser Verwandtschaft vorschnell eine Mutter-Tochter-Beziehung zu machen. Rechtshistorischer und epigraphischer Zugang verbinden sich beispielhaft im Beitrag von Kaja Harter-Uibopuu, der neben verbliebenen Möglichkeiten griechischer Städte im Prinzipat, Strafen zu verhängen und durchzusetzen, die Rolle der römischen Obrigkeiten beleuchtet. Hochinteressant ist besonders, wie der Proconsul von Asia sich förmlich in das Regelwerk seines Amtssitzes Ephesos hineindrängt – ein Indiz, dass der gesteigerte Zugang der Ephesier zum Statthalter ein zweischneidiger Vorzug war.

Unerwartet präsentiert sich Kai Ruffings Syntheseversuch zu „Körperstrafen und Gesellschaft im Römischen Reich“ (S. 77–94). Der angekündigte sozialhistorische Aspekt fällt praktisch aus. Geboten wird eine reihende Abfolge von Strafformen, die an ein Realienhandbuch des 19. Jahrhunderts erinnert – und dies mit Zeitsprüngen und in oft unpräziser Begrifflichkeit: So wird der als individuelle ‚Vergünstigung‘ geduldete Suizid hochgestellter Römer, die der Hinrichtung entgehen wollten, unter die offiziell etablierten „Strafformen“ eingereiht (S. 86). Das Senatus consultum de Pisone patre, das dies ausgezeichnet illustriert, erscheint nicht; dafür wird die Frage der Hinrichtung von Senatoren, nicht gerade eine Forschungslücke, umständlich neuentdeckt.2

Christoph Ebners an wertvollen Hinweisen reicher Versuch über „Hinrichtungen in der Arena“ aus rechtshistorischer Perspektive leidet neben falschen Zungenschlägen – wie „der Pöbel im Oval der Arena“ (S. 117) oder „die an Freiheit und Ehre gewohnten Germanen“ (S. 119) – unter einem gewissen Systematisierungszwang: Ist der Einfall eines republikanischen Feldherrn, Gefangene den Raubtieren vorzuwerfen, schon eine „ursprünglich im Kriegsrecht“ zu situierende Rechtspraxis (S. 98)? Andererseits werden die venationes, bei denen der Tod der menschlichen Mitwirkenden eine aufregende Möglichkeit, nicht aber der Zweck ist, mit gezielten Tötungsakten durch Tiere zu eng zusammengeschlossen. Wenn venatores in der S. 115f. besprochenen Digestenstelle 48,9,8,11 den Pyrrhiche-Tänzern und anderen Darstellern wider Willen (Akrobaten?) gleichgestellt sind, kann es sich kaum um eine spätantike Modifikation der Strafbestimmung ad ludum handeln – die Sanktion liegt hier im Ehrverlust durch den öffentlichen Auftritt, Lebensgefahr fehlt bei Waffentänzern so gut wie ganz.

Einen befremdlichen Eindruck hinterlassen Schafik Allams Betrachtungen zum Ablauf ramessidenzeitlicher Strafverhandlungen, gestützt auf Prozessprotokolle aus der Arbeitersiedlung Deir el-Medina. Hier häufen sich Anachronismen und terminologische Unfälle. Die Verschleppung einer Leiche ist mit „Störung der Totenruhe“ (S. 133 u. 142) fehletikettiert. Schon die drastische Strafandrohung – hier nur als „Inhumanität“ missbilligt – weist auf den Übergang vom Grabfrevel zum Sakrileg hin. Aus der Anklage eines Arbeiters gegen einen Kollegen, der staatseigenes Werkzeug gestohlen haben soll (S. 135–137), wird ein gesamtägyptisches Prinzip der Popularklage nebst freudig erfüllter „Bürgerpflicht“ destilliert (S. 136). Vom schiefen Bürgerbegriff oder der Tragkraft eines Einzelbelegs für Großtheorien zu schweigen – Angst vor einem Generalverdacht und Ermittlungen unter Gewaltanwendung ist hier die leichtere Erklärung. Zu einer schwungvoll interpretierten Quelle heißt es am Ende ohne Vorwarnung: „Sollte ich den lückenhaften Kontext richtig rekonstruiert haben […]“ (S. 138).

Ein derart gewaltsamer Arbeitsstil irritiert neben Beiträgen wie der mit Augenmaß verfassten Studie von Renate Müller-Wollermann zur ägyptischen Folter- und Hinrichtungspraxis desto mehr. Auch die folgenden Aufsätze erzielen weitaus gültigere Resultate. Hans Neumanns tour d’horizon von altakkadischer bis in altbabylonische Zeit untersucht Spektrum und relative Häufigkeit bezeugter Strafen und Strafandrohungen. Als Spezialproblem des altbabylonischen Rechts demonstriert Alessandro Hirata eine Parallele zur Diskussion um erste Differenzierungen nach Vorsatz im Zwölftafelgesetz; allerdings ist die Aussage, das Abtrennen eines Fingers ohne Vorsatz sei „nicht vorstellbar“ (S. 187), wohl zu scharf formuliert. Zwei Arbeiter behauen einen Balken, einer von ihnen schwingt die Axt – verlorengehende Finger ließen sich so ohne weiteres auch im Zeithorizont als Unfallrisiko werten.

„Death Penalty in the Hittite Documentation“ von Stefano de Martino und Elena Devecchi ist eine transparente Darstellung todeswürdiger Vergehen, zentriert um Komplexe wie Magie und Tötungsdelikte. ‚Materielle‘ Verbrechen gegen den König wie Aufruhr von Verletzungen der rituellen Reinheit des Königshauses abzutrennen, erscheint allerdings unglücklich; letztere sind hier zusammen mit der Entweihung heiliger Stätten behandelt – wohl aus der Überlegung, dass damit der König in seiner priesterlichen Funktion kontaminiert wird. So kompakt wie transparent führt Betina Faist in den Stellenwert von Körperstrafen innerhalb neuassyrischer Erwerbsverträge und Prozessurkunden ein; eigentliche Verhandlungsprotokolle fehlen bislang im Repertoire. Hier ist Kristin Kleber dank der neubabylonischen Tempelarchive in einer etwas günstigeren Situation und kann die Erstpublikation eines relevanten gerichtlichen ‚Vorratsbeschlusses‘ einschließen.

Eckart Otto nutzt in einer Studie des ursprünglich ‚staatsfernen‘ hebräischen Familienrechts ein imposantes Methodenspektrum. Quellenkunde, Religions- und Gesellschaftsgeschichte fließen Zug um Zug ins Verfolgen der Stadien vom Gewohnheitsrecht zwischen streitenden Großfamilien bis hin zum kodifizierten, sakralisierten Gesetzeswerk des Reiches Juda ein. Abschließend beschreibt Lucian Reinfandt ein juristisch wie herrschaftspolitisch und exegetisch intrikates Problem: die – für unterworfene Christen empörende – Wiedereinführung der Kreuzigung unter arabischer Herrschaft, gestützt auf eine Koranstelle, um die sich Kontroversen der islamischen Rechtsschulen entwickelten.

Die große Mehrheit der Beiträge leistet, auch als Ganzes verstanden, weit mehr als ‚nur‘ Fortschritte in den vertretenen Disziplinen. Sie glänzt durch Anschlussfähigkeit, Verwertbarkeit und – nicht das kleinste Resultat – geweckte Neugier auf Nachbardisziplinen. Wiederholt zeigen sie körperliche Gewalt in Sozialleben und politischem Handeln, die einer Strafe von Gesetzes wegen teils ähnlich sieht, teils Differenzierungsversuchen zwischen Zwangsmitteln und Strafen unterliegt (besonders deutlich bei Müller-Wollermann, S. 154 u. 157). Auch die Verflechtungen von Religion und Recht in den antiken Kulturen springen immer wieder ins Auge; vielleicht wird diese Sicht künftig stärker als bisher auch auf das anfangs gar nicht so religionsferne Recht Roms übergreifen. Angenehm wenige Tippfehler belasten den durch Indizes zusätzlich aufgewerteten Band (schmerzlich vermisst wird – gerade zu Vergleichszwecken – lediglich ein Sachindex), der Maßstäbe in Sachen praktizierter Interdisziplinarität setzt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Wolfgang Will, Thukydides und Perikles. Der Historiker und sein Held. Bonn 2003, S. 81–88.
2 Werner Eck / Antonio Caballos / Fernando Fernández, Das senatus consultum de Cn. Pisone patre, München 1996, S. 42, Z. 71–73 mit S. 190–192; Anthony R. Birley, The Oath Not to Put Senators to Death, in: The Classical Review 12 (1962), S. 187–199.

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