N. Stefanov: Wissenschaft als nationaler Beruf

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Titel
Wissenschaft als nationaler Beruf. Die Serbische Akademie der Wissenschaften 1944–1992: Tradierung und Modifizierung nationaler Ideologie


Autor(en)
Stefanov, Nenad
Reihe
Balkanologische Veröffentlichungen 52
Erschienen
Wiesbaden 2011: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
388 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arno Trültzsch, Universität Leipzig

Um den Aufstieg des Ethnonationalismus in Serbien und dem ehemaligen Jugoslawien insgesamt zu erklären, kommt man an der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste (serbisch Srpska Akademija Nauka i Umetnosti – im Folgenden SANU) nicht vorbei. Gerade weil Akademiemitglieder wie der Dissident und Intellektuelle Dobrica Ćosić mit ihren Werken, Schriften und öffentlichem Auftreten den Ethnonationalismus und Panserbismus geschickt im Arrangement mit der herrschenden kommunistischen Elite in Serbien (und unter den jugoslawischen Serben allgemein) wieder salonfähig machten, muss aus Sicht der Geschichtsforschung die Entwicklung und Rolle der Akademie näher beleuchtet werden.

Mit diesem Anliegen hat Nenad Stefanov seine Dissertation verfasst und 2011 in Buchform vorgelegt. Für die 1990er-Jahre hat zum Beispiel Jasna Dragović-Soso1 eine entsprechende Untersuchung zur Rolle und Funktion der Intellektuellen und akademischen Institutionen in der postkommunistischen nationalen Sinnstiftung vorgelegt, so allgemein zur Rolle der serbischen Intellektuellen in Jugoslawien bei der „Tradierung und Modifizierung nationaler Ideologie“ haben bereits Olivera Milosavljević2, sowie Wolfgang Höpken und Holm Sundhaussen3 gearbeitet. Auch Stefanov, der sich oft auf diese AutorInnen bezieht (zum Beispiel S. 26f.), stellt fest, dass diese erneuerte Sinnstiftung den Mythos des „ewigen serbischen Opfers“ perpetuierte, womit auch Gewalt gegen ethnisch Andere legitimiert werden konnte (vgl. S. 320ff.).

Das Besondere an Stefanovs breit angelegter Untersuchung ist der eindeutige Bezug auf die SANU, sowie der zeitliche Rahmen (1944–1992), der genau die Lebensdauer des zweiten Jugoslawiens umfasst. Dabei endet er bewusst 1992, da in jenem Jahr Ćosić Präsident von (Rest-)Jugoslawien wurde, und der politische Einfluss der national-konservativ geprägten SANU damit ihren vorläufigen Zenit erreicht hatte. Er geht auch kurz auf die Vorgeschichte und Entstehung der SANU ein (S. 31–47), die 1887 als Königlich-Serbische Akademie aus zwei Vorläufern, der Serbischen gelehrten Gesellschaft und der Gesellschaft Serbischer Gelehrsamkeit, hervorgegangen war.

Die 1944 als Serbische Akademie der Wissenschaften (wieder)gegründete Institution – der Zusatz „und Künste“ kam erst 1961 hinzu – ist der breiteren Öffentlichkeit meist nur in Form des berüchtigten „SANU-Memorandums“ von 1986 bekannt, dessen zweiter Teil oft zum Schlüsseldokument des neuen serbischen Ethnonationalismus erklärt wurde. Eben diese verkürzte Darstellung bricht Stefanov mit seinem differenzierten Zugang zur Arbeit und Rolle der Akademie bewusst auf, und weist auf die vielen anderen Strömungen und Arbeitsbereiche hin, die unter dem Dach der SANU in den 48 Jahren Tito-Jugoslawien existierten, konkurrierten und schließlich durch Repressalien, Auflösung oder schlicht den Tod einzelner wichtiger Akteure endeten. Somit wird auch ersichtlich, dass Stefanov hier keine Institutionengeschichte geschrieben hat, sondern nach „Reflexionsformen von Wissenschaft[…] anhand der wissenschaftlichen [und gesellschaftlichen, A.T.] Praxis der Akademie und der Akademici […]“ (S. 16) sucht. Als Historiker, der an der gesellschaftlichen Relevanz einer solchen nationalen Akademie im Vielvölkerstaat interessiert ist, fokussiert Stefanov natürlich besonders die gesellschaftswissenschaftlichen und historischen Abteilungen der SANU. Dabei orientiert er sich einleitend an den Arbeiten Max Horkheimers zur Verschränktheit von Vernunft und Mythologie, wie sie in der Kritischen Theorie zum Tragen kommt. Vor dieser Folie untersucht der Autor, wie nationale Ideologie unter dem Postulat eines „streng wissenschaftlichen Verfahren[s]“ besonders die Arbeit der SANU-Historiker ab den späten 1970er-Jahren geprägt hat (S. 21), nach einer Phase (selbstverordneten) pseudo-marxistischen Herangehens im Sinne der kommunistischen Partei.

Stefanov hat für dieses Werk eine Unmenge an Archivmaterial aus der SANU selbst, der serbischen Nationalbibliothek, sowie entsprechende Artikel über die SANU und ihre Mitglieder aus diversen jugoslawischen Printmedien durchgearbeitet. Aus dieser Fülle kann er eindrucksvoll das Wirken und Schaffen sowie die Entwicklung der SANU und einzelner prominenter Mitglieder nachzeichnen, wobei er geschickt zeitgeschichtliche Ereignisse, Akademie-interne Diskurse und Konflikte mit den biographischen Hintergründen wichtiger Protagonisten verbindet.

Dabei geht Stefanov nicht strikt chronologisch vor, sondern betrachtet einzelne Zeiträume mit verschiedenen Akzentsetzungen: die Phase von der Befreiung Belgrads 1944 bis in die frühen 1960er-Jahre kennzeichnet er als Aufbau- und Neufindungsphase der „nationalen Institution in einer neuen [sozialistischen und multiethnischen, A.T.] Gesellschaft“, wobei ein Großteil der national-serbisch gesinnten bürgerlichen Professoren ihre Funktionen in der SANU unter Einhaltung eines gewissen „appeasement“ an Partei und Staatsmacht schlicht wieder einnahm, so zum Beispiel der Akademiepräsident Aleksandar Belić von 1937 bis zu seinem Tod 1960. In diesem intellektuellen Klima zeichnete sich gerade in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften eine personelle wie methodische Kontinuität ab, die an die Vorkriegszeit, also den serbischen Nationalstaat bzw. das erste (serbisch dominierte) Jugoslawien anschloss, wenn auch nicht nahtlos. Denn im Zuge des Tito-Stalin-Bruchs machte die Akademie eine schwere Krise durch – die Partei und ihre ideologischen Abteilungen misstrauten den „bürgerlichen Spezialisten“ mehr und mehr. Sollte die Akademie davor nach sowjetischem Vorbild neu gegliedert werden, wobei die bürgerlichen Akademiemitglieder mit parteitreuen „Volksintellektuellen“ gemeinsam agieren sollten (S. 58), hatte sie danach unter herben Mittelkürzungen und einem enormen Bedeutungsverlust zu leiden. Abteilungen wurden ausgegliedert, unliebsame Akademici entfernt oder marginalisiert; neue Institute wurden zur Erforschung des „Volksbefreiungskrieges“ und der Arbeiterbewegung in Serbien gegründet (S. 130–34).

Im zweiten Teil beschreibt Stefanov, wie die SANU dennoch eine Nische für Wissenschaftstraditionen jenseits der offiziellen Parteidoktrin und des „dialektischen Materialismus“ blieb. Gerade in den Geschichtswissenschaften wurde mit der „kritischen Methode“ und deren starken Fokus auf „Säulenheilige“ wie den Ethnographen Jovan Cvijić und einem dezidiert ethnozentrischen Zugang lange weiter gearbeitet. Kritik daran kam meist von außerhalb, aus Parteigremien und -Zeitungen sowie externen Wissenschaftlern. In den 1960er-Jahren gewannen die Sozialwissenschaften mehr und mehr Aufmerksamkeit – hier jedoch bot die Akademie einen Rückzugsraum für fortschrittliche, an der westeuropäischen „Neuen Linken“ orientierte Intellektuelle, die an der Universität Belgrad als „grupa profesora“ schnell ins Kreuzfeuer der streng marxistisch-leninistischen Parteiideologen gerieten. Ihre Zeitschriften „Praxis“ und „Filosofija“ wurden 1972 schließlich verboten (S. 209f.). Die Akademie bot diesen kritischen Intellektuellen ein geschütztes Forum. Stefanov beschreibt dabei eingehend ihren undogmatischen Zugang zu gesellschaftlichen Krisen.

Im dritten Teil (im Buch Kapitel 5) schließlich widmet sich der Autor ganz der Rolle von „Geschichte“ im Wissenschaftsbetrieb der SANU. Die Föderalisierung Jugoslawiens mit der neuen Verfassung von 1974 wertete die SANU als nationale Institution der Teilrepublik Serbien finanziell wie öffentlich wieder auf. Die Tradierung einer quasi-völkischen und nationalen Methodik aus der Vorkriegszeit verband sich in den späten 1970er-Jahren, prominent in den 1980er-Jahren immer mehr mit Gesellschaftskritik. Dissidentische Intellektuelle, aber auch renommierte Historiker fanden in den Unruhen in der südserbischen Provinz Kosovo ein gefundenes Fressen, metahistorische Debatten über die Rolle des serbischen Volkes als ewig Unterdrückte und aufgeopferte Schicksalsgemeinschaft öffentlich zu führen. Eine neue Opfermythologie, anknüpfend an den serbischen Nationalmythos der Kosovo-Schlacht, wurde unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit in mehreren Debatten, Publikationen und Essays nach und nach etabliert. Stefanov charakterisiert dieses Phänomen, an Detlef Claussens „Alltagsreligion“ angelehnt, als postideologische Geschichtsreligion.4 Trotz scharfer Kritik aus den anderen Teilrepubliken und ihren Akademien, griff der serbische Parteiapparat nur vereinzelt ein; im Kern gab es Übereinstimmung, da „das Wissen um den nationalen Rahmen“ nach 1974 auch parteinahe Theoretiker prominent wiederbelebten (S. 225ff.). Der herrschende kommunistisch gefärbte Duktus verkam zur Formel; der Höhe- und Wendepunkt der Auseinandersetzung um eine Neubewertung der „serbischen Frage“ war schließlich jenes skandalumwitterte „Memorandum zu gesellschaftlichen Fragen“, in welchem eine Reihe national gesinnter Akademiemitglieder die gesamte Legitimation Tito-Jugoslawiens hinterfragten. Stefanov gelingt es eindrucksvoll, diese Entwicklung in die staatliche und gesellschaftliche Krise Jugoslawiens einzuordnen, und zeigt auf, dass die SANU dabei keineswegs einen Hort nationalistischer Oppositioneller darstellte. Vielmehr schwebte den Verfassern des (anfänglich unautorisiert erschienenen) Memorandums eine ethnonationale „Korrektur“ der sozialistischen Herrschaftsverhältnisse vor, nicht ihre Ablösung (S. 272). Ende der 1980er-Jahre schließlich konnte der unbekannte Parteifunktionär Slobodan Milošević mit der populistischen Inszenierung ganz ähnlicher Thesen seine Herrschaft in Serbien etablieren, wobei ihn die Leitung der SANU treu unterstützte.

Insgesamt hat Nenad Stefanov aus der breiten Quellenlage ein differenziertes Bild von „Wissenschaft als nationalem Beruf“ am Beispiel der SANU gezeichnet. Allerdings lenken der zum Teil etwas eigentümliche Stil, der manchmal in unvollständigen Teilsätzen und Wortwiederholungen mündet, vom flüssigen Lesen ab. Das trifft ebenso auf die vielen Rechtschreibfehler und die teilweise fehlenden oder falsch gesetzten Diakritika bei serbischen Namen bzw. Zitaten zu. Daher hätte die Arbeit ein gutes Lektorat verdient. Die große Anzahl von Abkürzungen und der Personennamen verlangt darüber hinaus entsprechende Verzeichnisse am Buchende.

Anmerkungen:
1 Jasna Dragović-Soso, „Spasioci nacije“. Intelektualna opozicija Srbije i oživljavanje nacionalizma, Belgrad 2004.
2 Olivera Milosavljević, U tradiciji nacionalizma. Ili stereotipi srpskih intelektualaca XX veka o „nama“ i „drugima“, Belgrad 2002.
3 Wolfgang Höpken / Holm Sundhaussen (Hrsg.), Eliten in Südosteuropa. Rolle, Kontinuität, Brüche in Geschichte und Gegenwart, München 1998.
4 Vgl. Ivan Čolović, Die Erneuerung des Vergangenen. Zeit und Raum in der zeitgenössischen politischen Mythologie, in: Nenad Stefanov / Michael Werz (Hrsg.), Bosnien und Europa. Die Ethnisierung der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1994.

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