J. Pleinen: Die Migrationsregime Belgiens und der Bundesrepublik

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Titel
Die Migrationsregime Belgiens und der Bundesrepublik seit dem Zweiten Weltkrieg.


Autor(en)
Pleinen, Jenny
Reihe
Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhundert 24
Erschienen
Göttingen 2012: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
420 S., 50 Abb.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Knortz, Institut für Ökonomie und ihre Didaktik, Pädagogische Hochschule Karlsruhe

Jenny Pleinen untersucht in ihrer für den Druck leicht gekürzten Dissertation die „Migrationskontrolle“ (S. 10) in Belgien und der Bundesrepublik vergleichend auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionsebenen. Sie hat dafür einen spezifisch modellierten systemtheoretischen Ansatz gewählt. Für das gleichfalls verfolgte Ziel, eine Kollektivbiografie der Zuwanderer zu erstellen, hat sie serielle Quellen qualitativ und quantitativ ausgewertet, um ein Akteurssample definieren und die Ebene individueller Akteure sichtbar machen zu können. Vor allem durch das Verwaltungsschriftgut werden 1.861 Biografien einbezogen, deren Zusammensetzung im Kapitel 3 über „Das Akteurssample“ dargestellt wird.

Dies ist zunächst einmal ein innovativer Zugriff, und es wäre unangebracht, hier an Details herumzumäkeln. Drei grundlegende problematische Aspekte seien gleich zu Beginn aber doch genannt: Erstens stellt sich die Frage nach der Relevanz des belgisch-bundesdeutschen Vergleichs. Pleinens Hinweis, dass „für den klassischen Vergleichsfall – Frankreich – […] bereits eine quellengestützte Untersuchung vorliegt“ (S. 11f.), liefert ja noch keine eigentliche Begründung gerade für die Wahl Belgiens. Zweitens stehen Belgien und die Bundesrepublik in der Tradition unterschiedlicher Rechtskreise, wie Pleinen selbst einräumt (S. 259), was administrative Ermessensspielräume mit sehr differenzierter Reichweite einschließt. Dadurch kann ein Vergleich, so man denn die Wirkung von Verwaltungshandeln (und gerade nicht von Verwaltungsnormen) betrachten will, streng genommen schnell zum Scheitern verurteilt werden, wie ein im Zusammenhang mit dem Erwerb einer Niederlassungserlaubnis stehendes Beispiel zur Wohnsituation zeigt: Die Beurteilung der Angemessenheit von Wohnraum beschränkte sich in der belgischen Praxis nämlich „meist auf die Feststellung, dass der Betreffende nicht im Wohnheim wohnte und keine Berichte über Verwahrlosung vorlagen“ – in der Bundesrepublik entschied hierüber das ‚harte‘ Kriterium der Quadratmeterzahl pro Bewohner einer Wohneinheit (S. 203, S. 189). Das dritte grundsätzliche Problem ergibt sich aus der Verwendung von Einzelfallakten der Kreisausländerbehörde Wesel – ein Zufallsprodukt, das zunächst einmal den Sperrfristen personenbezogener Akten und damit zusammenhängender Ausnahmegenehmigungen geschuldet ist. Durch die Grenznähe waren hier jedoch 10 Prozent der Migranten niederländischer Herkunft, was keinesfalls als repräsentativ für die Bundesrepublik gelten und durch ‚einfache‘ Gewichtung ausgeglichen werden kann (vgl. S. 165 oder auch S. 189). Das ist insofern von Bedeutung, als Niederländer im gewählten Untersuchungsgebiet bis Ende der 1970er-Jahre 52 Prozent der Anträge auf unbefristete Aufenthaltserlaubnis stellten, die zu 100 Prozent bewilligt wurden. Hier wird also stellvertretend für das bundesdeutsche Migrationsregime und für den darauf aufbauenden Vergleich mit Belgien eine nicht repräsentative Grundgesamtheit gewählt, über deren weitere statistische Aufbereitung zudem wenig gesagt wird. Alexis Spire war in seiner Pionierstudie von 2005, die Pleinen anscheinend Inspiration und Orientierung zugleich war (was durchaus eine Erwähnung wert gewesen wäre), mit wenigen Worten diesbezüglich sehr viel deutlicher.1

Nach dem Einstiegskapitel zu Fragen, Methoden, Quellen und Aufbau der Arbeit führt das umfangreiche Kapitel 2 in die „Entwicklung der Migrationsregime“ Belgiens und der Bundesrepublik ein. Es beginnt mit den Verwaltungsnormen der 1930er-Jahre, die die Migrationsregime des belgischen und des bundesdeutschen Staats nach 1945 zunächst weiterhin definierten. Pleinen verfolgt die Neuerungen der 1950er- und 1960er-Jahre unter besonderer Berücksichtigung internationaler Abkommen mit ihren Auswirkungen auf die Migrationsregime, betrachtet dabei spezifisch europäische Regularien auf unterschiedlicher Ebene, internationale Entwicklungen, die auf die Migrationsregime einwirkten (Kalter Krieg, Beziehungen zu blockfreien Staaten, Dekolonisationsprozesse), ebenso wie die administrative und juristische Organisation der Regime selbst. Zu den Spezifika der 1970er-Jahre zählten die Norderweiterung der Europäischen Gemeinschaft, der nunmehr augenfällige wirtschaftliche Strukturwandel, die beiden Ölpreisschocks, die Anwerbestopps einerseits und die europäische Freizügigkeit andererseits, denen eine Schließung der Migrationsregime nach außen bei „zögerlicher Inklusion nach innen“ folgte (Kapitel 2.3). Besonders relevant für die Zeit von den 1980er-Jahren bis zur Gegenwart waren und sind die Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft, die Auflösung des Ostblocks, die Jugoslawienkriege, der Kurdenkonflikt in der Türkei sowie die sich besonders auf die Entwicklung des Asylwesens auswirkende Globalisierung.

Laut Pleinen soll dieses Kapitel die Entwicklung der Migrationsregime „in ihrer Ambivalenz aus Ansprüchen und Praktiken, Ermessensspielräumen und Korrektiven“ darstellen (S. 24). Die Einbettung der Verwaltungsnormen in den skizzierten vielfältigen internationalen Kontext ist in der Tat wichtig. Ob hierfür mehr als ein Drittel der Textseiten notwendig gewesen wäre, ist jedoch fraglich, zumal Umstände und Folgen der Normenanwendung (und nicht der Normensetzung) im weiteren Verlauf regelmäßig im Vordergrund stehen. Vielleicht hätte sich der Sinn einer solchen Ausführlichkeit dem Leser eher erschlossen, wenn dieses Kapitel mit anderen Abschnitten stärker verzahnt worden wäre, zumindest mit dem Kapitel 4 über die „Zugangstickets in die Migrationsregime und ihre Aneignungen“. Dort geht es Pleinen gerade um die Frage, wie Migration im Einzelfall legitimiert und vom Regime selbst wiederum akzeptiert wurde. Unter einem „Zugangsticket“ versteht sie unterschiedlichste Institutionen, Formen und Motive, die sich wiederum unter den Kategorien Arbeitsmigration, Flucht/Asyl und Familienzusammenführung subsumieren lassen.

Die eigentlichen, direkt auf den Anspruch einer Kollektivbiografie bezogenen Hauptteile stellen schließlich die Kapitel 5 und 6 dar, in denen die Autorin in erster Linie mit Hilfe quantitativer Methoden „Inklusionschancen“ und „Exklusionsrisiken“ analysiert und diese erst in zweiter, eher untergeordneter Linie anhand qualitativer Methoden untermauert. Die beiden Kapitel bestehen aus einem Vergleich der belgischen bzw. bundesdeutschen Aufenthaltstitel, ihrer Vergabepraxis sowie von Inklusionskriterien und „Inklusionsspiralen“ (an deren Spitze schließlich die Einbürgerung steht), einem Vergleich von Exklusionsrisiken und „Exklusionsspiralen“ sowie von Strategien des Umgangs mit unterschiedlichen Risiken, die schließlich die in Kapitel 7 noch einmal separat behandelte (Groß-)Familie in den Fokus rücken: Die Familie – in manchen Fällen sogar die ganze Dorfgemeinschaft – brachte nämlich nicht nur das Realkapital für die Wanderung selbst auf, sondern war zugleich das wichtigste Kollektiv bei der Entwicklung von Strategien im Umgang mit Exklusionsrisiken und sicherlich auch den – in diesem Zusammenhang unterbelichteten – Inklusionschancen.

Insgesamt ist es Pleinen mit einer Vielzahl von Details gelungen, die sich in den Verwaltungsnormen widerspiegelnden, inter- und supranational beeinflussten Bedürfnisse der Aufnahmegesellschaften nachvollziehbar zu machen, mit denen die Migranten ihrerseits umzugehen versuchten, um den rechtlichen und gesellschaftlichen Zugang zu erhalten. Durch die Kombination von quantitativen mit qualitativen Methoden werden Einzelschicksale besonders in Kapitel 7 sichtbar. Dem erwähnten Detailreichtum fehlt allerdings eine etwas stärkere, die unterschiedlichen Methoden und Ebenen integrierende Klammer. So dürfte sich die in der Einleitung angekündigte Geschichte der belgisch-bundesdeutschen Beziehungen (S. 21) den Lesern kaum erschließen. An anderen Stellen verhindert der Detailreichtum dann wiederum die notwendige Schärfe in der Tiefe, beispielsweise wenn die „weniger gewünschte, aber bis 1972 zugelassene Beantragung eines Arbeitsvisums beim deutschen Konsulat“ als der „zweite Weg“ bezeichnet wird (S. 179). Immerhin handelte es sich bei diesem Verfahren de jure um das Normalverfahren, das im Gegensatz zu den Anwerbevereinbarungen das höhere Rechtsgut darstellte.2 All das hat dann auch zur Folge, dass die Grundlinien der beiden untersuchten Migrationsregime nicht so richtig deutlich werden: Die im Schlusskapitel zusammengetragenen zahlreichen Einzelergebnisse lassen kaum eine grobe, grundsätzliche Skizzierung zu – was angesichts der „fruchtbaren Befunde“ (S. 316) sehr schade ist.

Ob schließlich an verwaltungshistorisch sensiblen Stellen weiterhin auf Knuth Dohses Buch zurückgegriffen werden kann, das in korrigierter Form 1985 erschienen ist, im Kern aber auf seiner Dissertation von 1979 beruht3, sei ebenfalls dahingestellt. Das hat weniger etwas mit Kritik an Dohses Arbeit zu tun als mit der Tatsache, dass sich der Zugang zu archivalischen Quellen seither natürlich stark verbessert hat und es die historiographische Redlichkeit schon deshalb gebietet, entsprechende Angaben vor ihrer Übernahme zu prüfen. Dieser Einwand richtet sich aber weniger gegen Pleinen; er zielt vielmehr auf die allgemeinen Arbeitsweisen der Migrationsforschung. Das Ziel von Forschung besteht ja nicht nur in der Weiterentwicklung vermeintlich gesicherter Erkenntnisse, sondern auch darin, alte Annahmen mit neuen Methoden und Quellen zu überprüfen – ein Anspruch, dem sich Pleinen selbst mit ihrer Arbeit gerade verschrieben hat und dem sie mit akzeptablen Ergebnissen nachgekommen ist.

Anmerkungen:
1 Alexis Spire, Étrangers à la carte. L’administration de l’immigration en France (1945–1975), Paris 2005, S. 379.
2 Heike Knortz, Diplomatische Tauschgeschäfte. „Gastarbeiter“ in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953–1973, Köln 2008, S. 27.
3 Knuth Dohse, Ausländische Arbeiter und bürgerlicher Staat. Genese und Funktion von staatlicher Ausländerpolitik und Ausländerrecht. Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Deutschland, Berlin (West) 1985 (2. Aufl., korrigierter Nachdruck der 1981 in Königstein im Taunus erschienenen Ausgabe; zugleich Dissertation an der Freien Universität Berlin, 1979).