Titel
The Lost World of Rhodes. Greeks, Italians, Jews and Turks between Tradition and Modernity


Autor(en)
Shachar, Nathan
Erschienen
Anzahl Seiten
257 S., Fotos
Preis
£19.95
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Ioannis Zelepos, Institut für Byzantinistik, Byzantinische Kunstgeschichte und Neogräzistik, Ludwigs-Maximilians-Universität

Diese Arbeit ist inhaltlich wie formal zwischen ambitionierter Reiseliteratur und historischem Essay angesiedelt. Wie der Untertitel ankündigt, geht es dabei um die multikulturelle Gesellschaft der Insel Rhodos am Übergang von Tradition zur Moderne, womit, wie sich im weiteren Verlauf herausstellt, in etwa der Zeitraum vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges gemeint ist.

Den Auftakt der Erzählung bildet eine Einleitung (S. 1–16: „Hic Rodus [sic], hic salta!“), die genregemäß einen selbstreferentiellen Erlebnisbericht enthält, in dem unter anderem die Anreise per Schiff, die Begegnung mit einem Schafhirten, die zufällige Entdeckung eines jüdischen Grabsteinfragments sowie Lawrence Durrells Rhodos-Buch „Reflections on a Marine Venus“ thematisiert werden. Im folgenden Kapitel „France in Rhodes – Mirage or Promised Land?“ (S. 17–37) wird das Vordringen des westeuropäischen Kulturparadigmas im osmanischen Ostmittelmeerraum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts thematisiert, wobei der Verfasser die besondere Rolle betont, die dabei Frankreich als Sinnbild für den „Westen“ spielte, und darüber hinaus auf die Gegenseitigkeit dieses Rezeptionsphänomens hinweist: „But the Drang nach Osten of the Western Powers, their push towards the East, was matched by a corresponding, almost Messianic, pull towards the West, usually identified with France, in the hearts and minds of young Ottomans.“ (S. 19) Als konkreter Bezugspunkt dieser Erörterung dient die von den Frères Chrétiens de Saint Jean-Baptiste de la Salle auf Rhodos betriebene Schule, die seit 1889 säkulare Unterrichtsfächer anbot und Schüler aus allen Konfessions- und Sprachgruppen anzog, die auf der Insel vertreten waren: „[…] the most heterogenous and colourful mixture of Greeks, Turks, Jews, Armenians and francos“. (S. 25, Zitat eines Alumnus) Von diesen Gruppen erfährt jedoch allein die drittgenannte eine nähere Betrachtung, die in eine allgemeine Skizze zu den Juden im Osmanischen Reich und ihren Bildungsorientierungen zwischen religiöser Tradition und säkularem Fortschritt eingebettet ist und den weitaus größten Raum des Kapitels ausfüllt. In dieser einseitigen Gewichtung zeichnet sich bereits eine Tendenz ab, die sich durch das gesamte Buch zieht. Dieses beschäftigt sich nämlich, anders als der Titel vermuten läßt, im Grunde nicht mit der Rekonstruktion einer multikonfessionellen Lokalgesellschaft in spätosmanischer Zeit, sondern stellt vielmehr einen Beitrag zur Geschichte der sephardischen Gemeinde von Rhodos dar. Der Verfasser kann sich dabei auf eine Reihe von Vorarbeiten stützen, von denen einige im bibliographischen Anhang (S. 241f.) erwähnt werden, andere nicht.1

Die weitgehende Beschränkung auf die jüdische Gemeinde von Rhodos hat offenbar nicht zuletzt sprachliche Ursachen. So verfügt der sich selbst als „aficionado of Rhodian history“ bezeichnende Verfasser (S. ix und 10) nach eigenem Bekunden über keinerlei Griechischkenntnisse, hat also nicht die Möglichkeit, Lebenswelten der mit Abstand größten Bevölkerungsgruppe dieser Insel aus erster Hand zu recherchieren. Die Erzählung wird mit dem italienisch-osmanischen Krieg von 1911/12 und der Eroberung von Rhodos fortgesetzt. Das Kapitel „The Seeds of War – Italy in 1911“ (S. 38–58) behandelt die kolonialen Bestrebungen Italiens im weiteren Kontext des europäischen Imperialismus am Vorabend des Ersten Weltkrieges sowie die italienischen Kriegsoperationen in Libyen und der Ägäis aus dem Blickwinkel des sephardischen Boulevardblattes „El Tiempo“, das damals in Konstantinopel erschien. Das Kapitel „The Road to Psinthos“ (S. 59–67) ist als Ausflugsbericht zum gleichnamigen Schlachtfeld im Binnenland von Rhodos gestaltet, in dessen Rahmen unter anderem kurz die von den neuen Herren der Insel betriebene Italianisierung erwähnt und auf die symbolische Bedeutung der Eroberung von Rhodos für Gabriele d´Annunzio und andere Zeitgenossen eingegangen wird, in dem aber auch ein Exkurs über das Tal der Schmetterlinge, einer touristischen Hauptattraktion der Insel im 20. Jahrhundert, nicht fehlt.

Das anschließende Kapitel „Fiat Lux! – A Light unto the Nations“ (S. 68–81) ist einer Reflektion über den historischen Wendepunkt gewidmet, den der Übergang von der osmanischen zur italienischen Herrschaft für Rhodos bedeutet habe: „With Italian occupation Rhodes was moved, almost overnight, a thousand leagues westward“ (S. 68) und: „The Italians came to Rhodes intent on changing the world, and they did. The Jews were the first Rhodians to realize it.“ (S. 81) Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf der herzlichen Begrüßung der italienischen Herrschaft durch die jüdische Gemeinde von Rhodos, die den Auftakt zu einem längeren Exkurs über die tiefe historische Verbundenheit des Fürstenhauses Savoyen mit dem jüdischen Volk seit dem Spätmittelalter liefert (S. 70ff.). Darüber hinaus werden Reaktionen der türkischen und griechischen Bevölkerung skizziert, wobei im Hinblick auf die letztere deren antijüdischen Ressentiments in den Vordergrund gestellt werden (S. 74ff.). Die beiden folgenden Kapitel handeln vom Modernisierungsimpuls, der mit der Einrichtung der italienischen Herrschaft verbunden gewesen sei und das Alltagsleben auf der Insel radikal verändert habe. Diese Fortschrittserzählung bildet darstellerisch die vielleicht stärkste Passage des Buches, was unter anderem durch die Einfügung eines Zwischenkapitels „Curses and cures of old“ (S. 91–96) erzielt wird, das ein Potpourri traditioneller Bräuche zwischen Volksmedizin und Aberglauben enthält und somit als Folie für den geschilderten Einbruch der Moderne fungiert. Der Verfasser weist auf die Überwindung von Sprachbarrieren durch die Einführung säkularer Bildung hin und beleuchtet die Anfänge des Tourismus auf Rhodos in der Zwischenkriegszeit. In diesem Zusammenhang schildert er ausführlich den Besuch einer spanischen Reisegruppe im Juli 1933, zu der einige nachmals berühmte Intellektuelle gehörten, darunter auch der Dichter Guillermo Díaz-Plaja, von dem er am Ende des Kapitels auch ein Gedicht zitiert, das den Holocaust der Juden von Rhodos thematisiert. Im anschließenden Kapitel „Kulturkampf“ (S. 115–128) wird die Fortschrittserzählung wieder aufgegriffen, wobei die italienische Modernisierungspolitik unter faschistischen Vorzeichen skizziert und überaus positiv bilanziert wird: „Nowhere else but in the Dodecanese was a modernizing spirit left free to roam in an Eastern setting, without having to worry much about religious establishments, local sensibilities or political implications. It would have been fascinating to observe how Modernity, perhaps represented by a democratic Italy, would have continued to influence […].”(S. 128)

Das folgende Kapitel „A New Career – Going away Forever” (S. 129–148) thematisiert die Auswanderung rhodischer Sepharden in verschiedene Teile der Welt anhand von Personenbiographien, deren Migrationswege oftmals über den belgischen Kongo führten. Es folgt eine Darstellung der von 1936 bis 1940 dauernden Amtszeit von Cesare de Vecchi als Gouverneur von Rhodos („Twilight“, S. 149–168), die eine Personenskizze des prominenten Faschisten, eine Schilderung seiner antijüdischen Repressionspolitik auf der Insel sowie einen Ausblick auf die weiteren Entwicklungen bis zur italienischen Kapitulation 1943 enthält. Der bis dahin mehr oder weniger chronologische Aufbau der Erzählung wird im folgenden Kapitel „Greeks and Jews – A Wound Unhealed“ (S. 169–204) durchbrochen. In diesem schlägt der Verfasser einen großen historischen Bogen, der von Alexander dem Großen und den Diadochen über die Makkabäer, Rom, das Mittelalter, das Osmanische Reich bis ins 20. Jahrhundert und in die Gegenwart reicht. Die Erörterung hat den Charakter einer weltgeschichtlichen Betrachtung, die allerdings viele Ungenauigkeiten und Kurzführungen enthält, welche in weiten Teilen eine nur oberflächliche Bekanntschaft mit der behandelten Materie dokumentieren. So wird etwa Byzanz und sein Kulturerbe mit einer dürftigen Bemerkung als „[…] an intellectual backwater – the theocracy of Byzanthium (sic) […]“(S. 176) abgetan, was Klischees des 18. Jahrhunderts kopiert und die seitdem erzielten Erkenntnisfortschritte ignoriert. Griechisch-jüdische Beziehungen auf Rhodos werden in diesem Kapitel dagegen nur auf wenig Raum und in einseitiger Weise beleuchtet (S. 188–195: „Rhodian anti–Semitism“). Das folgende Schlusskapitel „Holocaust“ (S. 205–240) beginnt mit einem thematisch anknüpfenden Exkurs über europäischen Antisemitismus in historischer Perspektive anhand prominenter Rhodos-Reisender des 19. Jahrhunderts (z.B. Lamartine, Chateaubriand, Thakeray) und einer erneuten Thematisierung von griechischem Antisemitismus in der Gegenwart. Im Anschluss daran begibt sich der Verfasser zurück ins Jahr 1944 und behandelt die Vernichtung der jüdischen Gemeinde von Rhodos durch die Deutschen Besatzer anhand zweier Fluchterzählungen. Diese Rückkehr zur chronologischen Darstellung erfolgt unvermittelt, wenn auch kaum zufällig, wird auf diese Weise doch ein vermeintlich direkter Zusammenhang zwischen griechischem Antisemitismus und der Shoah suggeriert, den der Verfasser bereits im vorangegangenen Kapitel unter anderem mit der Feststellung „The Holocaust ended in Greece“ (S. 172) vorbereitet hat.

Die vorliegende Besprechung wäre nicht vollständig ohne eine Erwähnung der vielen Exkurse, in denen der Verfasser einen ausgeprägten Hang zur Spekulation offenbart. Das betrifft z.B. seine Ausführungen darüber, was der Welt alles erspart geblieben wäre, wenn es das Christentum nicht gegeben hätte (S. 177). Auf ähnlichem Niveau befindet sich der unreflektierte Umgang mit ethno-Stereotypen, der die Arbeit ebenfalls kennzeichnet. Eine Kostprobe: „To be sure, Turks are uncommonly friendly towards strangers and ‘xenophobia’ is a Greek word.“ (S. 193) Empirische Grundlage dieser und ähnlicher Feststellungen bilden persönliche Urlaubsimpressionen wie z.B. das ausgebliebene Lächeln einer Hotelrezeptionistin in Rhodos-Stadt (S. 204).

Wer sich an solchen Dingen nicht stört, findet in Nathan Schahars „The Lost World of Rhodes“ eine eingängige, stellenweise amüsante und im Schlussteil emotional ergreifende Infotainment-Lektüre. Wer mehr als das erwartet, wird sicherlich enttäuscht.

Anmerkung:
1 Z.B. Isaac Jack Lévy, Jewish Rhodes: A lost Culture, Berkeley 1989, das allerdings in einer Fußnote auf S. 183 erscheint.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/