M. Riess: Die deutsch-französische industrielle Kollaboration

Titel
Die deutsch-französische industrielle Kollaboration während des Zweiten Weltkrieges am Beispiel der Renault-Werke (1940-1944).


Autor(en)
Riess, Monika
Reihe
Europäische Hochschulschriften Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 929
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
289 S.
Preis
€ 56,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Scharnefsky, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Mit der Niederlage Frankreichs im Juni 1940 begannen nicht nur vier »schwarze Jahre« der deutschen militärischen Besatzung, sondern auch der wirtschaftlichen Ausnutzung des Landes für die Bedürfnisse der deutschen Rüstungsindustrie: Durch die Angliederung Elsaß-Lothringens an das Deutsche Reich und die Abtrennung der Departments Nord und Pas-de-Calais vom Rest des französischen Territoriums befanden sich die wichtigsten Kohlevorkommen und der größte Teil der Eisen- und Stahlwerke ohnehin von Anfang an in deutscher Hand und zählten zur deutschen Inlandsproduktion. Darüber hinaus trennte eine streng bewachte Demarkationslinie das übrige Land in ein besetztes und ein unbesetztes Gebiet, wobei die so genannte »freie Zone« im Süden industriell vom besetzten Norden abhängig war. In einer ersten Phase der »Ausräumung« hatten die Deutschen im Sommer 1940 zahlreiche Maschinen und Rohstoffe als »Kriegsbeute« beschlagnahmt und ins Reich abtransportiert. Schon ab Juli 1940 bemühten sie sich aber auch darum, die Produktion im besetzten Gebiet wieder in Gang zu bringen. Im Zuge der »Auftragsverlagerung« sollten französische Firmen Rüstungsaufträge von Betrieben in Deutschland übernehmen und diese Werke »entlasten«, ohne ihnen aber Konkurrenz zu machen. Außerdem versuchte die Besatzungsmacht, französische Facharbeiter für den Einsatz in Deutschland zu gewinnen, und je weniger »Freiwillige« sich fanden, umso schärfer wurden die Zwangsmaßnahmen.

Die französische Regierung unter Führung von Marschall Philippe Pétain und Pierre Laval in Vichy protestierte gegen die Inanspruchnahme der französischen Wirtschaft für die deutsche Kriegsproduktion und berief sich dabei auf den deutsch-französischen Waffenstillstandsvertrag vom 22. Juni 1940. Zugleich waren Pétain und Laval jedoch bereit, den deutschen Forderungen entgegenzukommen, da sie sich für den Weg der »Staatskollaboration« entschieden hatten und im Gegenzug auf politische Zugeständnisse der Besatzungsmacht hofften. Um aber direkte Verhandlungen zwischen deutschen Stellen und einzelnen französischen Unternehmern zu verhindern, schuf die Vichy-Regierung im Oktober 1940 einen zentralen »Service des commandes allemandes« im Ministerium für industrielle Produktion, der alle deutschen Rüstungsaufträge annahm, prüfte, genehmigte und an die entsprechenden französischen Firmen weiterleitete. Damit behielt die französische Regierung nicht nur den Überblick über die deutschen »Auftragsverlagerungen« nach Frankreich, sondern übernahm auch die politische Verantwortung für die immer engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht.

Welches Ausmaß hatte die industrielle Kollaboration zwischen Frankreich und Deutschland von 1940 bis 1944? Wie reagierten die französischen Unternehmen auf die Forderungen der Besatzungsmacht und die Wirtschaftspolitik der Regierung in Vichy? Welchen Handlungsspielraum besaß der einzelne Firmenchef? War es gerechtfertigt, nach der Befreiung Frankreichs 1944 einige »Grands patrons« als »Kollaborateure« auch persönlich zur Rechenschaft zu ziehen?

Diese Fragen stehen seit den 1990er-Jahren verstärkt im Zentrum der Forschung zur Geschichte der deutschen Besatzung in Frankreich und bilden auch den Ausgangspunkt des Buches von Monika Riess. Die Studie wurde im Sommer 2001 von der Universität Passau als Dissertation angenommen und verbindet auf überzeugende Weise allgemeine Überlegungen zur systematischen Einbeziehung Frankreichs in die deutsche Kriegswirtschaft mit den konkreten Auswirkungen dieser Politik auf eines der größten französischen Industrieunternehmen der damaligen Zeit und mit dem persönlichen Schicksal seines Gründers Louis Renault. Riess hat dafür auf breiter Basis Akten der deutschen Militärverwaltung und der Regierung in Vichy sowie Unterlagen aus den Unternehmensarchiven von RENAULT und der deutschen »Patenfirma« Daimler-Benz ausgewertet. Mit dieser doppelten Perspektive schließt sie eine Forschungslücke, denn die Rolle der Firma RENAULT in den Jahren 1940 bis 1944 wurde bisher allein aus französischer Sicht und auf der Grundlage hauptsächlich französischer Quellen beurteilt.

Die Arbeit von Riess umfasst vier große Abschnitte. Das erste Kapitel ist den »Rahmenbedingungen« der deutsch-französischen industriellen Kollaboration gewidmet. Riess stellt darin »Die Stellung Frankreichs im ›programmatischen Konzept‹ Adolf Hitlers« (S. 35) dar, gibt einen Überblick über »Pläne und Maßnahmen zur kriegswirtschaftlichen Inanspruchnahme und zur langfristigen Integration der französischen Wirtschaft in die ›europäische Großraumwirtschaft‹ der Nachkriegszeit« (S. 62) und beschreibt schließlich »Die organisatorische Umsetzung der deutschen Wirtschaftspläne im besetzten Frankreich und die Entstehung der Kollaboration« (S. 89). Im Vordergrund steht dabei nicht nur die Tätigkeit deutscher Instanzen, sondern auch die korporatistische und dirigistische Wirtschaftspolitik Vichys, die »der deutschen ›Aufsichtsverwaltung‹ über den französischen Behördenapparat zwangsläufig den Zugriff auf die französische Industrie« erleichterte (S. 91).

Im zweiten Kapitel schildert Riess den Aufstieg der Firma RENAULT von einer kleinen Werkstatt in einer Scheune in Boulogne-Billancourt im Jahre 1899 bis hin zu einem der größten Automobilwerke Europas im Jahre 1940. Louis Renault (1877-1944) hatte das Unternehmen im Alter von 22 Jahren gemeinsam mit seinen Brüdern Marcel und Fernand gegründet, um einen von ihm entwickelten Kleinwagen mit leichter und leiser Gangschaltung (»prise directe«) zu bauen, für den er schon nach der ersten Rundfahrt durch Paris zwölf Aufträge mit nach Hause brachte. Neben Personenwagen stellte RENAULT bald auch Taxis, Lastkraftwagen und Flugzeugmotoren her. Nach dem Tod seiner Brüder (1903 und 1909) stand Louis Renault mit 31 Jahren allein an der Spitze des Unternehmens, das er ständig erweiterte. Im Ersten Weltkrieg wurde RENAULT zur »›usine de guerre‹« (S. 127) und produzierte Flugzeugmotoren, Granaten und Leichtpanzer für die französische Armee. Diese Aufgabe übernahmen die RENAULT-Werke auch 1939/40. Am 12. Juni 1940 wurden die Werke evakuiert und unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch in Paris am 14. Juni 1940 von der Besatzungsmacht »sichergestellt«. Louis Renault befand sich zu diesem Zeitpunkt in den USA, wo er im Auftrag der französischen Regierung über Rüstungshilfen verhandelt hatte. Er kehrte am 3. Juli 1940 nach Frankreich zurück, durfte aber zunächst nicht in das besetzte Gebiet einreisen und nahm deshalb erst am 23. Juli 1940 wieder seinen Platz in Boulogne-Billancourt ein. Dort waren inzwischen auch seine engsten Mitarbeiter wieder eingetroffen. Sie kamen damit der Forderung der Vichy-Regierung nach einer »›politique de présence‹« (S. 176) französischer Unternehmer in der besetzten Zone nach, mit der die Betriebe und Rohstoffe dem Zugriff der Besatzungsmacht möglichst entzogen werden sollten.

Das dritte Kapitel (»Die RENAULT-Werke während der deutschen Okkupation von Juni 1940 bis August 1944«) bildet den Hauptteil des Buches. Am Anfang steht die Frage, unter welchen Umständen die Wiederaufnahme der Produktion bei RENAULT erfolgte. Der Militärbefehlshaber in Frankreich hatte die Werke in Boulogne-Billancourt zunächst unter die »kommissarische Verwaltung« von zwei Vertretern der Firma Daimler-Benz gestellt. Sie gaben die Geschäftsleitung zwar umgehend wieder an Louis Renault und seine Direktoren zurück, blieben aber bis August 1944 weiter vor Ort: Carl Schippert wurde zum »Wehrmachtbevollmächtigten« und Wilhelm Fürst von Urach zum »Industriebeauftragten« bei RENAULT ernannt. Beide überwachten die kriegsbedingte »Auftragsverlagerung«, die vor allem Daimler-Benz »entlasten« sollte und entwickelten auch Pläne für eine künftige gemeinsame »Friedensproduktion«. Im Vordergrund stand aber zunächst das »Motorisierungsprogramm« der Wehrmacht. Die erste Forderung der Besatzungsmacht an RENAULT war in diesem Zusammenhang die Reparatur von »erbeuteten« RENAULT-Panzerwagen für den Bedarf der deutschen Truppen. Diesen Auftrag lehnte Louis Renault jedoch kategorisch ab, so dass die Firma Daimler-Benz im August 1940 die Sache selbst in die Hand nahm, zwei Werkhallen auf dem Firmengelände beschlagnahmte, Arbeiter anwarb und die Panzerreparaturen in eigener Regie durchführte.

Mit Zustimmung der Regierung in Vichy leisteten die RENAULT-Werke in den Jahren 1940-1944 dennoch einen erheblichen Beitrag zur deutschen Rüstungsindustrie und produzierten ab September 1940 vor allem Lastkraftwagen, Motoren und Ersatzteile für die Wehrmacht. Nur dank der deutschen Aufträge war es Louis Renault möglich, den Bestand seiner Firma zu sichern und die für die Produktion notwendigen Rohstoffkontingente zu erhalten, die von der Besatzungsmacht auftragsabhängig zugeteilt wurden. Darüber hinaus konnte Louis Renault den größten Teil seiner Arbeiter vor der »Dienstverpflichtung« nach Deutschland nur bewahren, weil sein Unternehmen als wichtiger Rüstungsbetrieb galt und damit von den verschiedenen Aktionen zur »Aushebung« von Arbeitskräften weitgehend verschont blieb.

Wegen ihrer großen Bedeutung für die deutsche Kriegswirtschaft wurden die RENAULT-Werke am 3. März 1942 und am 15. September 1943 aber auch Ziel von alliierten Luftangriffen, die schwere Schäden anrichteten und auch zahlreiche zivile Opfer in der dichtbesiedelten Umgebung von Boulogne-Billancourt forderten. Gleichwohl entschieden sich die Besatzungsmacht, die Vichy-Regierung und Louis Renault nicht für eine Dezentralisierung, sondern für eine Wiederaufnahme der Produktion am gleichen Ort. Der behelfsmäßige Wiederaufbau der RENAULT-Werke vollzog sich dann in einer von der Besatzungsmacht nicht erwarteten Geschwindigkeit, und die Militärverwaltung betonte in einem Bericht, »›welchen Werte eine freiwillige französische Mitarbeit hat, die nicht über die unbedingte Notwendigkeit hinaus durch Zwangsmaßnahmen gefährdet werden darf.‹« (S. 330) Louis Renault seinerseits sah im beschleunigten Wiederaufbau die einzige Möglichkeit, die Firma weiter am Leben zu erhalten, denn nur wenn die Produktion schnell wieder anlief, konnte eine Aufteilung von Maschinen, Rohstoffen und Arbeitskräften auf andere Unternehmen verhindert werden. Die Arbeit für die Besatzungsmacht endete in den RENAULT-Werken erst am 23. Juli 1944, als der deutsche Rückzug aus Frankreich begonnen hatte.

Hier zeigt sich die zwiespältige Lage, in der sich viele Industrielle im besetzten Frankreich befanden, wenn sie – wie Louis Renault – weder glühende Anhänger noch entschiedene Gegner der »Staatskollaboration« waren. Riess behandelt in diesem Zusammenhang auch die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Widerstandes in den RENAULT-Werken. Dabei unterscheidet sie zwischen dem »aktiven« Widerstand der Arbeiterschaft, der unter dem Einfluss der »Organisation civile et militaire« (OCM) von der Verteilung von Flugblättern bis hin zur Sabotage reichte, und dem »passiven« Widerstand der RENAULT-Direktion. Dieser passive Widerstand soll vor allem in der bürokratischen Verzögerung des offiziellen Eingangs und der vollständigen Erfüllung von Aufträgen bestanden haben. Allerdings gibt es dazu kaum Quellen, und so bleibt auch Riess bei der Einschätzung dieser Art des Widerstandes skeptisch. Gleichwohl hält sie den Vorwurf der »mutwilligen Kollaboration« (S. 348), dem sich Louis Renault als Einzelperson nach der Befreiung Frankreichs ausgesetzt sah, für nicht gerechtfertigt.

Die frühere Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht führte im September 1944 nicht nur zur Verhaftung Louis Renaults, sondern lieferte auch eine wesentliche Begründung für die Verstaatlichung der RENAULT-Werke durch die Provisorische Regierung unter General de Gaulle im Januar 1945. Einzelheiten dazu schildert Riess in ihrem als »Epilog« angelegten vierten und letzten Kapitel.

Abschließend betont sie noch einmal die Rolle der Vichy-Regierung, die mit der Schaffung des »Service des commandes allemandes« bereits im Oktober 1940 die politische Verantwortung für die Erfüllung deutscher Rüstungsaufträge übernommen hatte und durch ihre dirigistische Wirtschaftspolitik die Handlungsfreiheit der einzelnen Unternehmer einschränkte. Dennoch gab es auch während der Besatzungszeit einen Spielraum für eigenverantwortliche Entscheidungen. Dieser Spielraum hätte in einem Gerichtsverfahren gegen Louis Renault genauer ausgelotet werden müssen. Zu einem Prozess kam es allerdings nicht mehr, weil Louis Renault am 24. Oktober 1944 im Alter von 67 Jahren in der Untersuchungshaft verstarb. Die RENAULT-Werke wären zwar vermutlich auch unabhängig vom Urteilsspruch verstaatlicht worden, ob aber die gleichzeitige entschädigungslose Enteignung des Privatvermögens der Familie Renault gerechtfertigt war, ist zweifelhaft.

Monika Riess hat eine sehr abgewogene Studie über die Geschichte der RENAULT-Werke von 1940 bis 1944 vorgelegt und vermittelt über den Einzelfall hinaus wertvolle Einsichten in Planungen, Entscheidungsstrukturen und konkrete Abläufe auf dem Gebiet der industriellen Kollaboration zwischen Frankreich und Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Das Buch ist gut strukturiert, auf der Höhe des Forschungsstandes und trotz der Komplexität des Gegenstandes flüssig geschrieben und auf das Wesentliche konzentriert. Damit eignet sich das Buch auch als Einführung in die Wirtschaftsgeschichte der deutschen Besatzung in Frankreich, die eine ebenso große Aufmerksamkeit verdient wie die politik- oder mentalitätsgeschichtlichen Forschungen zur Okkupation.

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