M. Gebhardt: Wie die deutsche Frauenbewegung die Frauen verlor

Cover
Titel
Alice im Niemandsland. Wie die deutsche Frauenbewegung die Frauen verlor


Autor(en)
Gebhardt, Miriam
Erschienen
Anzahl Seiten
348 S.
Preis
€ 19,99
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Rita Casale, Allgemeine Erziehungswissenschaft / Theorie der Bildung, Bergische Universität Wuppertal

Miriam Gebhardt befasst sich in ihrem neuen Buch mit einer wichtigen Frage, der Zeitgemäßheit des Feminismus. Die Autorin, Historikerin und Journalistin, hat die Frage in dem richtigen Moment gestellt. Seit einigen Jahren und in den letzten Monaten sind in den medial bedeutenden Presseorganen der BRD immer häufiger Artikel, sogar Dossiers zur Aktualität des Feminismus zu lesen. Popfeministische Zeitschriften werden gegründet. Und nicht zuletzt diskutiert die ganze Bundesrepublik seit einigen Wochen in elektronischer und in Papierform über das Fortleben sexistischer Kommunikationsmuster im öffentlichen Kontext. Schade, dass Miriam Gebhardt ihrem Zeitgespür nicht getraut hat und einen Aufhänger – Alice Schwarzer – für ihre sonst gelehrte und informierte historische Analyse des Problems gebraucht hat. Es kann sein, dass sich dadurch das Buch besser verkaufen lässt. Allerdings, ohne das Leitmotiv ‚Alice Schwarzer’, das im Text immer wieder als ein redundanter Refrain auftaucht, hätte die Analyse an argumentativer Konsistenz und an Stil gewonnen.

Die Auseinandersetzung mit der Ikone des deutschen Feminismus wird auf verschiedenen Ebenen geführt. Die Leserin bekommt alle möglichen Informationen über das Leben von Alice Schwarzer. Zugleich werden ihre politischen und theoretischen Positionen (Kritik des Patriarchats, Gleichheitsfeminismus) diskutiert, sowie ihre historische Rolle als mediale Ikone dargelegt. Schwarzer wird in der Rekonstruktion der Geschichte des deutschen Feminismus mindestens eine doppelte Funktion implizit zugedacht: Als Ikone wird sie zugleich als Ursache und als Symptom des Untergangs des Feminismus behandelt. Auch hier hätte eine konsequente und nüchternere Betrachtung der Leitfigur Alice Schwarzer ausschließlich als Symptom bzw. als Indiz gesellschaftlicher und historischer Prozesse erlaubt, die Frage genauer zu fokussieren (Statt ‚Wie’‚ ‚Warum verlor die deutsche Frauenbewegung die Frauen’?) und einige Antworten deutlicher und expliziter zu formulieren. So kann die Geschichte des Feminismus in Deutschland von der Geschichte der politischen Intellektualität und ihrer medialen Präsenz bzw. Absenz nicht getrennt werden.

Das Buch beginnt mit einem Bild – „Das Geisterschiff“ –, das den Notzustand des Feminismus zeigen will: Die Frauenbewegung sei auf „eine Symbolfigur zusammengeschrumpft“ (S. 9) und eine neue Frauenbewegung notwendiger denn je: „In Deutschland machen Frauen […] weder Karriere noch kriegen sie Kinder.“ (S. 13) Das Geisterschiff erweist sich im Folgenden (Kapitel 1) als „die große Flaute“, wofür Gebhardt in Anlehnung unter anderem an Angela MacRobbie und Nina Power mindestens zwei überzeugende Gründe liefert: die Neoliberalisierung der Errungenschaften der zweiten Frauenbewegung und die fehlende Präsenz eines intellektuellen Feminismus im deutschsprachigen Raum als öffentliche Stimme. Es geht um die fatale Trennung zwischen Marktplatz und Hörsaal bzw. um den Platz des Intellektuellen in Deutschland: „Das sieht in anderen Ländern anders aus: Judith Butler, Nancy Fraser, Nina Power, Elisabeth Badinter, um nur ein paar Beispiele zu nennen, machen es den Klassikerinnen des Feminismus nach und treten im Hörsaal und auf dem Marktplatz auf.“ (S. 41)

Die Flaute des aktuellen Feminismus wirkt noch größer, wenn sie im zweiten Kapitel – einem der besten des ganzen Buches – mit der Größe des Anfangs der organisierten Frauenbewegung in der wilhelminischen Gesellschaft (1865) kontrastiert wird. Im Jahr 1918 zählte die Dachorganisation BDF 320.000 Mitglieder. Die Anfänge waren außerdem theoretisch prägend. Sie enthielten in nuce jene zwei Varianten des Feminismus, die sich für dessen Geschichte und Zukunft als maßgebend erweisen sollten: der Gleichheit- und der Differenzfeminismus. Die Geschichte des Feminismus ist für Gebhardt von den unterschiedlichen Konjunkturen dieser beiden Positionen charakterisiert gewesen. Seine historische und aktuelle Schwäche habe darin bestanden, diese Varianten als zwei gegensätzliche Positionen zu betrachten und nicht als Pole eines unauflösbaren Spannungsverhältnisses.

Die Anfänge waren auch hinsichtlich der symbolischen Geschlechterordnung entscheidend. Die Autorin betont – auf die Gefahr einer zu starken Parallelisierung – interessante Ähnlichkeiten zwischen dem zu Beginn des 20. und des 21. Jahrhunderts geführten Krieg der Geschlechter. Die „Angst vor dem Verlust des Wesenunterschieds“ (S. 86f.) wurde und werde durch eine Polarisierung der Geschlechterordnung bewältigt, welche die Grundlage der bürgerlichen Geschlechterordnung bildet. Unter Verweis auf Ute Planert stellt Gebhardt fest, dass noch heute die Aufgaben in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Verwaltung auf der Grundlage dieser Ordnung vergeben werden. Mit Recht sieht Gebhard in der aktuellen Rebiologisierung der Geschlechterunterschiede eine neue Form von Neodarwinismus.

Die internationale Relevanz, die theoretische Vielfalt und die politische Sichtbarkeit der ersten organisierten Frauenbewegung scheinen keine Immunitätsgarantie gegenüber der verheerenden Wirkung des Nationalismus gewesen zu sein. Der Nationalsozialismus bzw. der Zweite Weltkrieg veränderten für Gebhardt das Gesicht des deutschen Feminismus im internationalen Kontext und warfen einen langen Schatten auf die Modalitäten intellektueller Artikulation. „Nach 1945, nach der NS-Zeit, sollte es in Deutschland keine international profilierte Feministin mehr geben. Der Zusammenhang mit der Vertreibung und Ermordung der Jüdinnen und der Internationalistinnen, mit der Anpassung an ein gesellschaftliches Klima, das die Geschlechtercharaktere mit den eigenen Fehlleistungen dramatisierte, ist offenkundig. Von nun an spielte die Musik woanders. Die wichtigsten feministischen Texte des 20. Jahrhunderts sind denn auch englisch, amerikanisch und französisch.“ (S. 116) Provinzialität, Geschichtsvergessenheit und ein gewisser antiintellektueller Affekt bilden Elemente eines Erbes, das auch die zweite Frauenbewegung der Siebziger Jahre nicht ganz von sich abschütteln konnte. Die neue Frauenbewegung nach 1968 erbte die meisten ihrer Themen aus dem bürgerlichen Zeitalter – Verhütung, Abtreibung, Homosexualität beziehungsweise Zwangsheterosexualität, freie Liebe –, ohne es zu wissen.

Auch die Privatisierung der politischen Sphäre, die Verbindung von Kinderladen- und Frauenbewegung, das feministische Interesse an der „Umerziehung des Menschen“ (S. 144) werden im Buch ins Licht einer gewissen Kontinuität mit der ersten Frauenbewegung gesetzt. Den Achtundsechzigern gelang es nicht, die Kluft zwischen Hörsaal und Marktplatz zu überbrücken. In Deutschland gebe es eine rote Linie zwischen ernsthaftem Denken und der Vermittlung der gewonnen Einsichten an eine große Öffentlichkeit. Das Phänomen erklärt sich für Gebhardt durch ein gewisses selbstgenügsames Elitenbewusstsein der Akademikerinnen: „Ich glaube, das ist ein Hauptgrund, warum sich der Feminismus in diesem Land aufteilt in eine feine akademische Enklave ohne gesellschaftliche Relevanz auf der einen Seite und eine laute, aber intellektuell unerhebliche Medienveranstaltung auf der anderen Seite.“ (S. 169)

Würde man die interessante These als Diagnose lesen wollen, könnte man den Grund für den Verlust der Frauen seitens der Frauenbewegung in der fehlenden intellektuellen Ausstrahlung des öffentlichen Feminismus suchen. Damit trifft die Historikerin einen wichtigen Punkt des Phänomens, der meines Erachtens durch die Betrachtung eines dazugehörigen Aspekts ergänzt werden sollte. Für das Fehlen eines intellektuellen Feminismus in der Öffentlichkeit ist nicht nur das angebliche Elitebewusstsein der Akademikerinnen verantwortlich, sondern auch ein öffentlicher Verdacht gegenüber (politischer) Intellektualität, der in der BRD in einer gewissen Tradition steht und der sich zur Zeit unter anderem in der Transformation der Universität zu einer praktisch orientierten Ausbildungsstätte äußert.

Miriam Gebhardt schließt ihr Buch mit einigen Vorschlägen („Neues vom Ausguck“), die von einer an Judith Butler orientierten feministischen Positionierung ausgehen und die nichts Neues zumindest für Akademikerinnen darstellen. Ihre Vorschläge können als eine Art Appell gelesen werden: Was man in Deutschland brauche sei ein breiter gefasster Feminismus, der nicht mehr an den Mythos des Patriarchats glaubt und „mehr Theorie“ wagt (S. 309). Worauf sich diese Theorie stützen sollte, wird nicht erwähnt. Abschließend könnte man sagen, für einen neuen intellektuellen Aufbruch des Feminismus bleibt die Analyse letztendlich zu pragmatisch.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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