M. Tändler u.a. (Hrsg.): Psychowissen und Politik

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Titel
Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Tändler, Maik; Jensen, Uffa
Reihe
Veröffentlichungen des zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 27
Erschienen
Göttingen 2012: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
253 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Brigitta Bernet, Institut für Geschichte, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich

In regelmäßigen Abständen macht das Subjekt in der Geschichtswissenschaft von sich reden. Immer wieder totgesagt, feiert es fortwährend Renaissancen. Aus den Trümmern der alten Politikgeschichte, der die Sozialgeschichte Personen und Ideen austreiben wollte, stieg es empor als „Eigensinn“. Mit dem poststrukturalistischen Angriff wurden ihm die Kernsubstanz und der universalistische Anspruch streitig gemacht. Gleichwohl ist das Subjekt unter der Last von Strukturen und Prozessen bisher weder zusammengebrochen, noch hat es sich gänzlich in Diskursen und Machtbeziehungen aufgelöst. Als Proteus der Geschichtswissenschaft hat es sich im Verlauf der Anfechtungen und Wiedereinsetzungen stetig gewandelt: Gestern noch „Individuum“, „Akteur“, „Person“ oder „Ich“ gibt es seinen Einstand heute in der Gestalt des „Selbst“. Im deutschen Sprachraum sind in den letzten Jahren einige geschichtswissenschaftliche Sammelbände erschienen, für welche das Selbst titelgebend war. Das „schöne Selbst“ kam hierbei ebenso zur Sprache wie das „präventive Selbst“ oder das „beratene Selbst“.1 Kennzeichnend für die neue Forschungsrichtung sind ihre Anleihen bei den sozialwissenschaftlichen Governmentality Studies. Die dortigen Schwerpunkte – neoliberale Regierungsrationalitäten und die Funktionsweise humanwissenschaftlichen Wissens – prägen auch die historischen Zugänge zum Selbst.

In die Reihe dieser Publikationen gehört der von Maik Tändler und Uffa Jensen herausgegebene Sammelband. Er vereint die Beiträge einer Tagung des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen (ZAKN), die 2010 in Göttingen stattfand. Folgt man dem Vorwort von Bernd Weisbrod, so ist der Band einer doppelten Grenzverschiebung verschrieben: Sein Ziel liegt einerseits darin, den eng gefassten Politikbegriff der Zeitgeschichte um die Dimensionen der Subjektkulturen und des Psychowissens zu erweitern. Andererseits soll er anschaulich machen, dass sich die psychotherapeutischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts mit einem disziplinär verengten Wissenschaftsverständnis nur ungenügend verstehen lassen. Das sehen auch Tändler und Jensen so. Ihr Plädoyer gilt einer Forschungsperspektive, die von wechselseitigen Bedingtheiten zwischen Psychowissen und Politik ausgeht. Als Scharnier- und Angelpunkt schlagen sie den konzeptionellen Rahmen der „Technologien des Selbst“ vor, verstanden als die historisch spezifischen Diskurse und Praktiken, in denen das Individuum in vermeintlich privater Weise auf sich selbst einwirkt. Dass diese Formen des Selbstbezugs nicht losgelöst von politischen Technologien und Rationalitäten verstanden und analysiert werden können – diese Einsicht bildet den Ausgangspunkt der insgesamt neun Aufsätze. Anhand von Quellenmaterialien, die mehrheitlich aus dem deutschen Sprachraum stammen, gehen sie der Durchdringung von Politik und Psychowissen im Medium von (psychologischen) Selbstkonzepten nach.

Den Anfang machen zwei Beiträge, die für die neue Selbstforschung insofern eher untypisch sind, als sie sich mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigen. In seinem Aufsatz zur Politisierung der Psychoanalyse im frühen 20. Jahrhundert zeichnet Uffa Jensen nach, in welcher Weise „Dissidenten“ der psychoanalytischen Bewegung wie Otto Gross oder Wilhelm Reich die kultursensible psychoanalytische Betrachtungsart des Selbst zur kritischen Kommentierung sozialer und politischer Verhältnisse nutzten. Gegenstand des Beitrags von Katja Patzel-Mattern ist die Psychotechnik in der Weimarer Republik, die sie an Fallbeispielen aus der deutschen Großindustrie untersucht. Patzel-Mattern stellt die Psychotechnik nicht als direkten Ausdruck von Rationalisierungsbestrebungen, sondern als eine betriebliche Legitimationsstrategie dar, die durchaus auch andere Effekte zeitigen konnte als die in Aussicht gestellte Erhöhung von Produktivität und Arbeitsplatzzufriedenheit.

Mit dem Wandel sozialer Nahbeziehungen beschäftigen sich der dritte und der vierte Aufsatz. Jens Elberfeld untersucht die Familien- und Ehemodelle in den „langen siebziger Jahren“ am Beispiel der damals boomenden Paartherapie. Dieser Rede- und Praxiszusammenhang, der antiautoritäre Credos ebenso aufgriff wie ökonomische Codes, war nicht nur Lösungsinstanz von Paarproblemen. Wie Elberfeld darlegt, trug die Popularisierung der hier kultivierten Beziehungsleitbilder mit dazu bei, dass sich die Ansprüche an die Paarbeziehung änderten – womit zugleich auch neuer Bedarf nach therapeutischen Angeboten entstand. Mit der Familie beschäftigt sich auch Miriam Gebhardts Aufsatz zur „frühkindlichen Sozialisation“ nach 1968. Gestützt auf Erziehungsratgeber zeichnet sie nach, wie die Erziehungsmaximen der Nachkriegszeit, die auf Abhärtung und Schmerzunterdrückung zielten, in den 1970er-Jahren von Diskursen überlagert wurden, in denen Liebe und Einfühlung an erster Stelle standen.

Um Gefühle – genauer: um die Mobilisierung und Politisierung von Gefühlen – geht es in den Beiträgen von Maik Tändler und Claudia Kemper. Tändler setzt bei den Bemühungen um eine Demokratisierung des Selbst in der Bundesrepublik ein. Angesichts der Nachwirkungen autoritärer Mentalitäten nach dem Ende des Nationalsozialismus wurden Anfang der 1960er-Jahre gruppendynamische Experimente durchgeführt, die auf die Einübung demokratischer Verhaltensweisen zielten. Zunächst eine Form des Social Engineering, wurde die Gruppenerfahrung (vorab in der Studentenbewegung) zu einem Medium der emotionalen Selbsterfahrung und Expressivität umdefiniert. Claudia Kempers Beitrag zur „psychologischen Abrüstung“ behandelt die Verbindung von Psychowissen und Politik in der neuen deutschen Friedensbewegung. Hier spielte die Affektlage der Angst eine zentrale Rolle: Angst vor der atomaren Bedrohung und die Anerkennung dieser Angst galten als eine Möglichkeit, dem Wettrüsten ein Ende zu setzen. Politisierung von Emotionalität und Emotionalisierung von Politik gingen hier Hand in Hand.

Auf die Konfliktlinien zwischen Psychowissen und Politik blenden Anthony Kauders und Christine Leuenberger. Während Kauders das angespannte Verhältnis der westdeutschen Studentenbewegung zum psychoanalytischen Establishment rekonstruiert, zeichnet Leuenberger den Wandel der psychologischen Klassifikationssysteme in Ostdeutschland nach 1989 nach. Mit der Wiedervereinigung wurden das westdeutsche Gesundheitssystem und der Diagnoseschlüssel der WHO auf die neuen Bundesländer übertragen, womit die bisherige Systematik ihre Gültigkeit verlor. Leuenberger veranschaulicht beides: Die Abhängigkeit psychologischer Kategorien von professionellen Interessen und institutionellen Settings wie auch die (alltagspraktischen) Grenzen der Normumsetzungen. Beschlossen wird der Band durch Pascal Eitlers Überlegungen zur Koppelung von „Physiowissen“, Politik und Heilserwartung in der westdeutschen „New Age“-Bewegung. Im Fokus steht die Körpertechnik des „Biofeedbacks“, das Mitte der 1970er-Jahre populär wurde. Mit seiner Hilfe sollten unbewusste körperliche Prozesse wie Kopfweh oder Rückenschmerzen bewusst, regulierbar und der „psychosomatischen Selbstheilung“ zugänglich gemacht werden. Aber auch symptomfreie Subjekte sollten mit seiner Hilfe zu mehr Selbstbestimmung und „Biofreiheit“ gelangen. Für Eitler stellt die „Biofeedbacktherapie“ nicht nur eine emanzipatorische Körpertechnik, sondern auch eine gouvernementale Selbsttechnik dar, in der Therapeutisierungs- und Politisierungsprozesse sich wechselseitig bedingten und beförderten.

Der vorliegende Sammelband gehört nicht zu den Publikationen, die ein abgestecktes Terrain abschreiten und inventarisieren wollen. Was das Buch auszeichnet, ist der Schwung, mit dem es zu neuen Ufern aufzubrechen verspricht. Selbst und Selbstbezug werden denn auch nicht als abgrenzbare Kategorien, sondern als Chiffren behandelt, unter denen Verschiedenes untersucht werden kann: Menschenbilder, Identitätsvorstellungen, Selbsttechniken und Subjektivierungsformen aber auch Heilserwartungen, wissenschaftliche Diskurse, politische Rationalitäten oder ökonomische Imperative. In den meisten Beiträgen kommt dem Selbst somit die Funktion einer Sonde zu. Seine Rekonstruktion ist nicht Selbstzweck. Sie dient dem „Durchblick“ auf die historischen Kontexte seiner Einsetzung, wobei der Blick sich in erster Linie auf Regierungsweisen und soziale Arrangements richtet, die einen bestimmten Selbstbezug nahe legten und anleiteten. Dieses Vorhaben ist dort produktiv, wo bislang getrennte Hinsichten (wissenschaftliche, politische, kulturelle, soziale oder alltagsweltliche Verhältnisse) neu perspektiviert und als Bestandteile von Selbstkonzepten und Subjektkulturen herausgestellt werden. Schwieriger wird es dort, wo die Ausweitung des Selbst mit dem Anspruch kokettiert, nicht nur Diskurse und Praktiken, sondern auch Erfahrungen und Selbstdeutungen rekonstruierbar zu machen. Darüber hinaus wäre es gewinnbringend, die Kulturgeschichte des Selbst würde ihre Kontur in Auseinandersetzung mit Alternativkonzepten (wie „Ich“, „Subjekt“ oder „Erfahrung“) weiter schärfen und schließlich auch die soziologischen Selbstkonzepte historisieren, die sie ihrer Analyse momentan noch zu Grunde legt.

Anmerkung:
1 Jens Elberfeld / Marcus Otto (Hrsg.), Das schöne Selbst. Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik, Bielefeld 2009; Martin Lengwiler/ Jeanette Madarász (Hrsg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010; Sabine Maasen u.a. (Hrsg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den „langen“ Siebzigern, Bielefeld 2011.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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