D. Hilpert: Wohlfahrtsstaat der Mittelschichten?

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Titel
Wohlfahrtsstaat der Mittelschichten?. Sozialpolitik und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland (1949–1975)


Autor(en)
Hilpert, Dagmar
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 208
Erschienen
Göttingen 2012: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicole Kramer, Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Wer gestaltete Sozialpolitik? Wer profitierte vom Ausbau des Wohlfahrtsstaats? Solche Fragen erinnern uns daran, dass die Geschichte des Sozialstaats nicht von menschenleeren Strukturen handelt, sondern von Akteuren, Interessen und Lebenschancen. Dagmar Hilpert widmet sich in ihrer Dissertation den Mittelschichten in Westdeutschland und deren Verhältnis zum Wohlfahrtsstaat in den Jahrzehnten der so genannten Blütezeit von den 1950er-Jahren bis in die frühen 1970er-Jahre. Sie legt damit die erste Studie des von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Projektes „Wohlfahrtsstaat und Mittelschichten“ vor; eine Arbeit zu den USA wird noch folgen.

Den Begriff der Mittelschicht fasst Hilpert weit und deutet mit der Verwendung des Plurals auf die Diversität hin: Nicht nur, dass man von einer oberen und unteren Mittelschicht spricht, vielmehr kommt man abhängig von dem jeweiligen Definitionskriterium (Bildung, Einkommen, Beruf, Selbstbild) zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen, wer nun dazu gehört und wer nicht. Klar wird, dass wir es nicht mit einer festumrissenen Gruppe zu tun haben, sondern eher mit einem Prozess, in dem die Schichtgrenzen schwächer wurden und ein immer größerer Teil der Bevölkerung sich zur Mitte rechnete (oder gerechnet wurde). Parallel weitete sich der Handlungsrahmen des Wohlfahrtsstaats, der nicht mehr nur Arbeiter und Arme umfasste. Seit der Einführung der Bismarckschen Sozialgesetzgebung bedeutete Expansion vor allem auch die zunehmende Integration der Bevölkerung in wohlfahrtsstaatliche Strukturen, nach 1945 wurde eine nahezu vollständige Inklusion erreicht.

Das Buch gliedert sich in vier Kapitel, wobei sich die ersten drei zentralen Feldern wohlfahrtsstaatsstaatlichen Handelns (Rentenversicherung, Familienlastenausgleich sowie Wohnungs- und Eigentumsförderung) widmen, während im letzten gefragt wird, welche Arbeitsfelder der Ausbau sozialer Sicherung schuf. Eine solche Untersuchungsanordnung ist prinzipiell überzeugend, ermöglicht sie es doch, der Leitfrage nach den Nutznießern wohlfahrtsstaatlicher Expansion systematisch über Ressortgrenzen hinweg – und das hebt die Studie von vielen anderen ab – nachzugehen. Zudem ist begrüßenswert, dass Wirkungen nicht nur anhand von Leistungen erörtert werden sollen, sondern auch mit Blick auf Beschäftigungseffekte und berufliche Aufstiegschancen. Ihr Potential kann diese Konzeption jedoch nicht ganz ausschöpfen, denn nur die ersten beiden Abschnitte sind wirklich ausgeführt, während der Rest stark verkürzt erscheint oder, wie die Autorin selbst für das vierte Kapitel einschränkend einräumt, lediglich eine Problemskizze darstellt.

Welche Befunde liefert die Frage nach den Mittelschichten als Profiteuren wohlfahrtsstaatlicher Expansion? Für die Rentenversicherung zeigt sich, dass es darauf keine einfache Antwort gibt. Das Rentengesetz von 1957 und die späteren Reformen verbesserten die materielle Situation der Rentner im Durchschnitt erheblich. Vor allem das Prinzip der Lebensstandardsicherung wirkte in Richtung einer „Vermittelschichtung“, denn ein sozialer Abstieg, der mit dem Austritt aus dem Erwerbsleben drohte, war in den meisten Fällen damit gebannt. Reformen begünstigten vor allem die mittleren Einkommensklassen, während Niedrigverdiener oder diejenigen, die keine durchgehenden Erwerbsbiografien hatten, mit dem Wegfall von Grundrentenelementen im Alter dürftig gesichert waren. Zum großen Teil handelte es sich dabei um Frauen, wobei Hilpert zu bedenken gibt, dass diese Verlierer der Rentengesetzgebung häufig mit den Gewinnern, den Männern, die auf ein durchgehendes Erwerbsleben als Hauptverdiener zurückblicken konnten, zusammenlebten. Deutlich wird, dass das Rentensystem im Vergleich zu Ländern wie Schweden Lohndifferenzen weniger nivellierte als diese vielmehr in die Phase des Ruhestandes übertrug, auch die Ungleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten lebte fort. Eines galt jedoch für alle: Die staatliche Alterssicherung wurde zur Haupteinnahmequelle der Rentner, auch der Selbständigen, die sich gerne in das Rentensystem integrieren ließen.

Der Familienlastenausgleich folgte ähnlichen Begünstigungsprinzipien wie die Rentenversicherung. Beide Programme – das wird sehr gut herausgearbeitet – müssen als einander komplementär betrachtet werden, was auch daran lag, dass dieselben Experten Gehör fanden. Demnach schlugen für die mittleren Einkommensschichten Kinderfreibeträge und Kindergeld, bei Angestellten des Öffentlichen Dienstes zudem Kinderzulagen prozentual am stärksten im Monatsbudget zu Buche. Auch die Berücksichtigung von verlängerten Ausbildungszeiten für das Kindergeld liest Hilpert als auf die Mittelschichten gerichtet. Diese Leistungen glichen die finanziellen Belastungen, die die Entscheidung für Kinder mit sich brachte, jedoch nicht aus. In Frankreich waren die Unterschiede zwischen Familien mit Kindern und Kinderlosen aufgrund großzügiger Kindergeldregelungen weit weniger ausgeprägt. Hilpert bezieht immer wieder die Situation in anderen Ländern mit ein, bisweilen kann sie dadurch den deutschen Fall schärfer konturieren.

In einem etwas kurzen Ausflug in die Wohnungs- und Eigentumsförderpolitik deutet sich an, dass Sozialpolitik nicht nur auf die Sozialstruktur zielte, sondern auch Lebensstile formen sollte. Wohnen im Eigenheim war die Leitvorstellung, die sich sowohl im sozialen Wohnungsbau als auch in Darlehensvergabe und Vermögensbildung niederschlug. Hier könnte man noch tiefer graben. Für Schweden wurde kürzlich gezeigt, dass sich mit Blick auf den Wohnungsbau die Bedeutung des Wohlfahrtsstaats für gesellschaftliche Entwicklungen, unter anderem Architektur und Konsumverhalten, gut untersuchen lässt.1

Im letzten Kapitel lernt man den Wohlfahrtsstaat schließlich als Arbeitgeber kennen. Zahlenbeispiele belegen den enormen Anstieg der im Wohlfahrtssektor beschäftigten Personen. Insbesondere der Bedarf an sozialpädagogisch, psychologisch und, so könnte man hinzufügen, in der Pflege geschulten Kräften stieg in einem Wohlfahrtsstaat, der nicht nur finanzielle Transfers organisierte, sondern personenbezogene soziale Dienste bereitstellte. Hilpert skizziert die Akademisierung und die tarifmäßige Aufwertung sozialer Arbeit, wobei sie konstatiert, dass es sich um einen Arbeitsmarkt für die (weiblichen) Mittelschichten handelte. Inwieweit diese als „‚Erbringer‘ sozialer (Dienst-)Leistungen“ (S. 331) die wohlfahrtsstaatliche Praxis prägten, kann in einem solch knappen Problemaufriss nur als zukünftige Forschungsperspektive angesprochen, nicht aber untersucht werden.

Am Ende der Lektüre bleibt ein gemischter Eindruck zurück. Dagmar Hilpert hat sich eines Desiderats der Wohlfahrtsstaatsforschung angenommen und versteht es, sich diesem mit klugen Fragestellungen zu nähern. Sie holt aus der Parlamentsdokumentation und empirischen sozialwissenschaftlichen Studien einiges über die gesellschaftspolitische Zielsetzung von Wohlfahrtsstaatsprogrammen und deren Auswirkungen auf die Sozialstruktur heraus. Das von ihr als Forschungsgegenstand benannte Wechselverhältnis von Wohlfahrtsstaat und Mittelschichten kann sie indes nur teilweise beleuchten. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass die Arbeit, konkret die letzten beiden Kapitel, unvollständig wirkt. Vielmehr stellt sich im Verlauf der Darstellung heraus, dass eine Untersuchung, wie die Mittelschichten den Wohlfahrtsstaat gestalteten, weniger auf die Debatten in Parteien und im Parlament blicken sollte als auf die Ebene der Umsetzung von Sozialpolitik (eine stärkere Berücksichtigung von Archivquellen wird hier notwendig sein), die in den Büros der Sozialarbeiter und den Ämtern der Sozialverwaltung erfolgte.

Anmerkung:
1 Helena Mattsson / Sven-Olov Wallenstein (Hrsg.), Swedish Modernism. Architecture, Consumption and the Welfare State, London 2010.

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