C. Hikel u. a. (Hrsg.): Terrorismus und Geschlecht

Titel
Terrorismus und Geschlecht. Politische Gewalt in Europa seit dem 19. Jahrhundert


Herausgeber
Hikel, Christine; Schraut, Sylvia
Reihe
Geschichte und Geschlechter 61
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Campus Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Weinhauer, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Bundesdeutsche Printmedien vermitteln bisweilen den Eindruck, die Analyse des Terrorismus befinde sich noch in einem „vorkritischen Stadium“, so etwa Gustav Seibt in der SZ vom 14. März 2013. Er konstatierte zudem, die Erforschung des bundesdeutschen Linksterrorismus der 1960er-/70er-Jahre „vollzieht sich bis heute als Gespräch unter Generationsgenossen (...). Es ist immer noch ihr Kampf“. Diese Aussage fußt jedoch auf einer Fehleinschätzung; denn die methodisch reflektierte sozial- und kulturgeschichtliche Terrorismusforschung ist seit den frühen 2000er-Jahren zu einem wichtigen geschichtswissenschaftlichen Thema geworden.

Der hier vorzustellende Band ist Teil dieses Aufschwungs innovativer geschichtswissenschaftlich orientierter Terrorismusforschung. Die dreizehn interdisziplinären Beiträge sind geografisch breit ausgerichtet und zeitlich weit ausholend. Der erste Teil mit dem Titel „Wissensproduktion“ fragt danach, wie welches Wissen über Terrorismus von wem generiert wird, welche Zuschreibungen und Gewissheiten entstehen. Hier finden sich Artikel u.a. zur Bedeutung der Assassinen-Legende in der Darstellung von Selbstmordattentaten (Claudia Brunner), über die Theorie des deutsch-amerikanischen Anarchisten Karl Heinzen (Daniel Bessner), über die geschlechterpolitische Rezeption des Nihilismus bei Cesare Lombroso (Vojin Sasa Vukadinovic). Zudem wird speziell an Schweizer Beispielen dargestellt, wie staatliche Akteure das „Private als Sicherheitslücke“ (S. 118) thematisierten und wie das Geheime als Objekt von Geschlechterzuschreibungen diente (Dominique Grisard). Schließlich verdeutlicht der Beitrag über das Bayrische Hauptstaatsarchiv (Gerhard Fürmetz), welche Quellen des Wissens über Terrorismus genutzt und welche Probleme durch schwammige Begrifflichkeiten und durch den männlichen Bias der staatlichen Akten entstehen können.

In der Rubrik „Deutung und Tradierung“ wird diskutiert, wie das Wissen über Terrorismus in unterschiedlichen historischen Phasen genutzt wurde. Sylvia Schraut analysiert den „medialen Meinungskampf(s)“ (S. 165) um die Ermordung des Staatsrats August von Kotzebue durch den Studenten Ludwig Sand (1819) in geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Sie betont mit Blick auf Sand das bis heute nachweisbare Changieren der Zuschreibungen zwischen abwertender Feminisierung und Heldenkonstruktion. Christine Hikel diskutiert die Weimarer Deutungskämpfe über legitime politische Partizipation am Beispiel der Morde an Matthias Erzberger (1921) und Walter Rathenau (1922). Sie betont die vergeblichen Versuche der Weimarer Demokraten, ein republikanisches, zivilisiertes und beherrschtes Männlichkeitsbild zu etablieren und zeigt, wie Angst zu einem zentralen Bewegrund für politisches Handeln wurde, allerdings versteckt hinter Affektkontrolle, Tatkraft und Entschlossenheit. Anhand der „Organisation der Ukrainische Nationalisten“ (OUN) zeigt Olena Petrenko mit Blick auf die Erinnerung an die Anschläge der 1930er- bis 1950er-Jahre, wie eng die Darstellung der Aktivitäten der beteiligten Frauen an Nationalismus und an bürgerliche Geschlechterideale gekoppelt waren. Deutungen des Linksterrorismus in Österreich um 1977 stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Irene Bandhauer-Schöffmann. Ihre Kernthese betont die diskursive Feminisierung (feminine „Terrorlehrlinge“, S. 223) der militanten Akteure. Diese staatlich-medialen Zuschreibungen verhinderten eine Heroisierung der Aktivisten durch andere Terroristen. Vor allem aber setzte Österreich anders als die Bundesrepublik auf deeskalierende Kommunikation, die ohnehin kaum Platz für Kriegsdeutungen ließ.

Die dritte Sektion widmet sich Repräsentationen der Erinnerung an den Terrorismus, u.a. in Filmen, Museen, in der Kunst und der Literatur. Lynn Patzyk arbeitet heraus, wie Terroristinnen im späten russischen Zarenreich diskursiv in die Nähe von Prostituierten gerückt wurden. Gabriel Koureas verweist am Beispiel des Zypernkonflikts auf Unterschiede in musealen Repräsentationen in England und auf Zypern, vor allem wenn es um die Darstellung von Körpern geht. Bernd Zywietzs Beitrag über Spielfilme zum nordirischen Terrorismus zeigt, dass in diesen Filmen Gewalt keinen Freiraum für geschlechtsspezifische politische Partizipation oder neue Geschlechterdefinitionen schaffen konnte. Sue Malvern diskutiert die Verbindung von Weiblichkeit, Feminismus und Gewalt im Schaffen einer deutschen und einer US-amerikanischen Künstlerin, wobei beide nicht die tradierten Geschlechterstereotypen übernahmen.

Der Band bewegt sich insgesamt nicht nur auf der Höhe der aktuellen Forschung, sondern erschließt zugleich wichtige neue Fragen. Grundsätzlich zeigt auch diese Publikation die Trag- und Anschlussfähigkeit der Arbeitsdefinition von Terrorismus, wie sie die neuere geschichtswissenschaftliche Terrorismusforschung erarbeitet hat. Diese betont die Bedeutung kommunikativer Aspekte, von Medien, von Staatlichkeit und zugleich die delegitimierende Funktionen des Terrorismusbegriffs, der die militanten Akteure und ihre Anliegen abqualifiziert. Diese zentrale Rolle von Staatlichkeit und Medien verdeutlicht, dass Terrorismus nicht bis ins Altertum zurückreicht, aber auch nicht erst im 20. Jahrhundert entstanden ist, sondern schon im 19. Jahrhundert.

Zwei innovative konzeptionelle Ansätze zeichnen den Band aus. Wie schon betont, wird Terrorismus nicht nur als Ereignis bzw. als politische Aktivität, sondern auch als Wissenssystem verstanden, in dem die Interpretationsmuster verschiedener Akteure miteinander konkurrieren. Erstens gehören zu diesen Wissenssystemen auch Zuschreibungen, in denen es um die enge Verbindung von politischer Gewalt und Geschlechterbildern geht. Gender-Perspektiven standen bislang höchstens am Rand der (europäischen) Terrorismusforschung. Zumeist gilt es als anthropologische Konstante, dass Männer und Frauen ein unterschiedliches Verhältnis zu politischer Gewalt haben. Gerade Terroristinnen bedrohen nicht nur den jeweiligen Staat, sondern die eng mit staatlicher Ordnung/Herrschaft verbundenen „heteronormativen Geschlechtergrenzen“ (S. 28). Terrorismus spiegelt somit auch öffentliche Ängste und die Suche nach Sinnstiftungen. Terrorismus als umkämpftes Wissenssystem zu verstehen, ermöglicht, zweitens, die darauf bezogene Konstruktion von Erinnerungen in den Blick zu nehmen. Dabei eröffnet die Verbindung von Terrorismus und gender-Perspektiven vor allem dann aufschlussreiche Einsichten, wenn mit einem relationalen Verständnis von Männlichkeit und Weiblichkeit gearbeitet wird. Wie Sylvia Schraut in der Einleitung hervorhebt, blieb die Erinnerungspolitik zunächst bewaffneten Aktivist/innen und ihrem Umfeld überlassen. Die von ihnen entworfenen Bilder von Märtyrern und Helden waren jedoch eng mit traditionellen Männlichkeitsidealen verbunden. Auch die terroristische Gegenerinnerung bezog sich zumeist auf heteronormative Geschlechterbilder: In dieser Frage „wird der Terrorismus plötzlich konservativ: Die Welt wird auf den Kopf gestellt – aber die Frau bleibt am Herd“ (29). Für den Staat hingegen war der antiterroristische Kampf kaum erinnerungskulturell relevant. Denn eine staatliche Erinnerung an den Terrorismus (etwa in Museen und in der Erinnerungspolitik) hätte immer auch an die Terrorist/innen und deren Anliegen Aufmerksamkeit geben müssen. Es ist jedoch kritisch anzumerken, dass Begräbnisfeiern nicht nur von Polizisten staatsbezogene Erinnerungsfunktionen zumindest temporär erfüllten. Staatliche Akteure mobilisierten erst dann Terrorismusbekämpfung oder Terroropfer für national vereinheitlichende Erinnerungskulturen, als der antiterroristische Kampf in einen Krieg umdefiniert wurde. Erst diese Umwidmung schuf den auch territorial klar bestimmbaren Feind.

Insgesamt gesehen bereichert der Band die Terrorismusforschung um bisher vernachlässigte kulturgeschichtliche Aspekte. Offen bleibt jedoch, ob nicht eine begriffliche Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen des Terrorismus sinnvoll gewesen wäre. Interessant wäre es auch gewesen, die Aussagekraft der hier versammelten Fallstudien genauer einzuordnen und dabei zu diskutieren, welche Beiträge verschiedene Wissenschaftsdisziplinen jeweils zu einer wissensorientierten interdisziplinären Terrorismusforschung leisten können. Insgesamt gesehen ist es den Herausgeberinnen mit ihren innovativen Konzepten überzeugend gelungen, die historische Terrorismusforschung voranzutreiben. Es wäre mehr als wünschenswert, wenn diese Impulse zukünftig aufgegriffen würden - auch von den Feuilletons der Massenmedien.

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