Cover
Titel
Die Gastarbeiter-Welt. Leben zwischen Palermo und Wolfsburg


Autor(en)
Richter, Hedwig; Richter, Ralf
Erschienen
Paderborn 2012: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
284 S., 7 Diagramme, 2 Tabellen
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jenny Pleinen, Universität Trier

Dieses Buch der Historiker Hedwig und Ralf Richter beschäftigt sich anhand der italienischen „Gastarbeiter“ bei Volkswagen (VW) in Wolfsburg mit der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik. Der Einleitung zufolge hat sich die relativ kurze Monografie von knapp 200 Textseiten, die sich auf dreizehn Kapitel verteilen, weitreichende Ziele gesetzt: Sie soll erstens die Migrationsgeschichte der Bundesrepublik neu erzählen – in Abgrenzung von einem angeblich dominanten „Opferplot“, den die Autoren als verengt kritisieren.1 Zweitens soll die Studie einen Beitrag leisten zur Erforschung der gesellschaftlichen Umbrüche der 1960er- und frühen 1970er-Jahre.

Verbunden werden diese beiden übergreifenden Intentionen durch vier Thesen: Erstens hätten Migranten sich Entwicklungen wie Deindustrialisierung, Bildungsboom, Säkularisierung und Demokratisierung entzogen, um in ethnischen Parallelstrukturen weiterhin ihre „vormodernen agrarisch-kollektiven“ Vorstellungen zu pflegen (S. 12). Zweitens sei nur eine Minderheit der italienischen Migranten nicht diesem Muster gefolgt, sondern habe sich zum Beispiel in Gewerkschaften organisiert und sei so ein Teil der westdeutschen Gesellschaft geworden. Solche unterschiedlichen Orientierungen hätten zwischen der Mehrheit der „Gastarbeiter“ und dieser speziellen Elite große Konflikte verursacht. Drittens sei es insbesondere die katholische Kirche gewesen, welche die deutliche Mehrheit der Migranten sowohl in ihrem „überkommenen“ Glauben (S. 14) als auch in ihrer Fixierung auf eine Rückkehr nach Italien bestärkt und somit eine Integration verhindert habe. Viertens sei die hohe Rückkehrquote der „Gastarbeiter“ nicht etwa ein Resultat der Migrationspolitik gewesen (und der politischen Weigerung, dauerhafte Migrationsprozesse zu akzeptieren). Vielmehr habe sich die Rückwanderung als folgerichtige Konsequenz aus den Lebensplänen der meisten Migranten ergeben, die nicht für immer in der Bundesrepublik bleiben, sondern mit dem angesparten Geld in ihrer Heimat das Leben und den Sozialstatus ihrer Familie verbessern wollten.

Wer im Anschluss an diese durchaus provokanten Thesen jedoch eine Oral-History-gestützte Mikrostudie erwartet, die die kritisierten Erzählmuster tatsächlich widerlegt oder zumindest nachvollziehbar gegen den Strich bürstet, wird leider enttäuscht. Der Grund dafür liegt hauptsächlich darin, dass das Buch in zwei argumentative Ebenen zerfällt, die zusammenzuführen den Autoren nicht gelingt. Die eine Ebene besteht in einer Darstellung der Arbeits- und in Teilen auch Lebenswelt der italienischen „Gastarbeiter“ in Wolfsburg sowie dem Zusammenspiel zwischen Werksleitung und lokaler Verwaltung. Hier liegt eine Stärke der Studie, und der Leser erfährt einige neue Details, auch wenn es sich bei VW um einen der besterforschten Arbeitgeber ausländischer Arbeitskräfte in der Bundesrepublik handelt. Die andere Ebene bilden allgemeine Aussagen zur bundesdeutschen Migrationsgeschichte und -politik, die sich indes aus der Fallstudie zu VW kaum überzeugend ableiten lassen.

Zunächst zur ersten Ebene: Die VW-Leitung entschied sich Ende 1961 nur zögerlich für eine Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte. Zuvor war der Versuch, den durch die große Nachfrage gestiegenen Arbeitskräftebedarf durch ein Absenken des relativ hohen Krankenstands der VW-Beschäftigten zu decken, an seine Grenzen gestoßen. Den Autoren zufolge lässt sich hingegen in den Unterlagen des Konzerns nicht nachweisen, dass der Mauerbau und das Ausbleiben von Flüchtlingen aus der DDR einen signifikanten Einfluss auf den Arbeitskräftebedarf gehabt hätten. Auch eine weitere häufig vertretene These über die Entscheidung von VW für eine Anwerbung italienischer Arbeitskräfte lehnen Richter und Richter ab, da diese Argumentationen nicht explizit in den Akten der Werksleitung vorkommen: Weder sei es von Bedeutung gewesen, dass italienische „Fremdarbeiter“ bereits zur NS-Zeit in Wolfsburg gearbeitet hatten, noch sei es zu belegen, dass Generaldirektor Heinrich Nordhoff (der in der Darstellung insgesamt einen großen Raum einnimmt) als frommer Katholik – und motiviert durch eine direkte Intervention des Vatikans – katholische Arbeiter bevorzugt habe.

Den einmal gefassten Entschluss zur Anwerbung setzte die VW-Direktion sehr schnell um, was neben neuen bürokratischen Abläufen für den Arbeitgeber vor allem den Bau von Unterkünften erforderlich machte. Möglich wurde dies durch eine sehr enge Kooperation zwischen VW und der Wolfsburger Stadtverwaltung, die angesichts der essentiellen Bedeutung des Werks für die Stadt gern bereit war, den Bau der Sammelunterkünfte auch ohne die üblichen Baupläne und -genehmigungen zuzulassen – nur auf Grundlage mündlicher Absprachen. Die Vorteile der Unterkünfte (Sanitäranlagen, Warmwasseranschluss, Zentralheizung), die für VW aufgrund relativ geringer Mieten ein Zuschussgeschäft waren, sehen die Verfasser angesichts der schlechten Wohnungssituation in Wolfsburg Anfang der 1960er-Jahre als ein wichtiges Argument gegen den „Opferplot“, dem zufolge die Arbeitsmigranten diskriminiert und ausgebeutet worden seien. Die Umzäumung der Anlage, die in der Forschungsliteratur häufig als Symbol dieser Viktimisierung erscheine, sei in Wirklichkeit von der aufgrund einer möglichen Assoziation mit nationalsozialistischen Lagern vorsichtigen Werksleitung nur zögerlich errichtet worden, um die Arbeiter gegen schaulustige Deutsche zu schützen. Eine bessere Unterbringung hätten die Arbeiter auch während des Streiks im Winter 1962 nicht gefordert. Ein weiteres Argument gegen die laut Richter und Richter in der Forschung durchweg negative Darstellung des Umgangs mit den „Gastarbeitern“ sind Bemühungen der Werksleitung, die kulinarischen und kulturellen Bedürfnisse der Italiener zu berücksichtigen.

Sobald die Verfasser versuchen, diese Darstellung in einen größeren Rahmen einzuordnen und auf die anfangs genannten Thesen zurückkommen, werden die Probleme der Studie deutlicher. Erstens liegen der Arbeit hauptsächlich Quellen zugrunde, die sich dafür eignen, die Anwerbung, Unterbringung und Anstellung aus den Perspektiven der Werksleitung und der Stadtverwaltung zu erzählen. Für die erste These, die angeblich „vormoderne“ Orientierung vieler Migranten, bedeutet dieser Konflikt zwischen Quellengrundlage und Darstellungsinteresse zum Beispiel, dass das Argument, italienische Migranten hätten sich entgegen dem westdeutschen Bildungsboom der 1960er- und 1970er-Jahre aufgrund ihrer Rückkehrorientierung nicht um die Ausbildung ihrer Kinder gekümmert und seien selbst „sprachlose Analphabeten“ geblieben (S. 122), lediglich mit einem Verweis auf Statistiken zu Schulabschlüssen in einem Zeitungsartikel belegt wird.

Als Quellen, die sich für eine Rekonstruktion der migrantischen Perspektiven eignen, lassen sich nur die 20 Zeitzeugeninterviews nennen, die die Autoren geführt haben. Acht dieser Gespräche fanden mit Rückkehrern statt, deren Lebensentwürfe das argumentative Rückgrat des Buches bilden. Selbst wenn man Fragen nach der Repräsentativität, die sich angesichts dieser geringen Fallzahl aufdrängen, zurückstellt, so wirft der Umgang mit diesen Interviews neue Fragen auf. Sie werden nicht als Quellen und biographische Selbstdeutungen im Sinne einer kritischen Oral-History-Studie reflektiert, sondern als (meist alleinstehender) Faktenbeleg der Thesen eingefügt. Besonders bei der klischeeverhafteten Darstellung der Konflikte zwischen angeblich apolitischer Mehrheit und Gewerkschaftsaktivisten schleicht sich der Verdacht ein, dass hier die Erinnerungen einiger besonders expressiver Akteure nacherzählt werden.

Die Studie hätte erheblich gewinnen können, wenn der stellenweise durchaus zutreffende Befund eines „Opferplots“ in der Migrationsgeschichtsschreibung (im Sinne eines Selbstverständnisses einiger Forscher als advokatorische Vertreter unterstellter Ansichten und Interessen von Migranten sowie einer daraus resultierenden einseitigen Interpretation) nicht dazu geführt hätte, dass die Sekundärliteratur, deren Erkenntnisse an vielen Stellen deutlich über das Dargestellte hinausgehen, insgesamt abqualifiziert und in großen Teilen gar nicht rezipiert wird.2 Zusammen mit der schwammigen Definition des „Opferplots“ führt die ständige Wiederholung dieser Generalthese zum Eindruck, dass die Verfasser sich hier an einem selbst errichteten Strohmann abarbeiten. Leider stehen sie ihren eigenen Erkenntnisinteressen damit wiederholt im Weg.

Anmerkungen:
1 Siehe zuvor bereits Hedwig und Ralf Richter, Der Opfer-Plot: Probleme und neue Felder der deutschen Arbeitsmigrationsforschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57 (2009), S. 61–97.
2 Besonders auffällig ist dies bei der klischeehaften Darstellung der süditalienischen Herkunftsgesellschaft, für die Pauls Ginsborgs Standardwerk (A History of Contemporary Italy. Society and Politics, 1943–1988, London 1990) zwar als Beleg angeführt, aber nicht adäquat wiedergegeben wird. Nicht rezipiert wurde die englisch- und französischsprachige Forschung zu Migrantencommunities und zur häufig festzustellenden Dynamik einer permanenten Vorläufigkeit oder einer „double absence“ (Abdelmalek Sayad). Ebenfalls nicht berücksichtigt wurde die breite Forschungsliteratur zu Oral History als Methode.